Zehn Tage, die die Welt erschütterten

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Ich kannte in einer Provinzstadt eine Kaufmannsfamilie, die sich der Spekulation zugewandt hatte. Marodeure werden solche von den Russen genannt. Die drei Söhne hatten sich vom Militärdienst gedrückt. Der eine spekulierte in Lebensmitteln. Der zweite verkaufte im geheimen Gold aus den Lena-Gruben an geheimnisvolle Interessenten in Finnland. Der dritte besaß die Aktienmehrheit in einer Schokoladenfabrik, die die örtliche Genossenschaften versorgte – unter der Bedingung, dass die Genossenschaften ihm lieferten, was er brauchte. Während die Volksmassen auf ihre Brotkarten ein Viertelpfund Schwarzbrot erhielten, hatte er im Überfluss Weißbrot, Zucker, Tee, Kuchen und Butter ... Das hinderte diese saubere Familie nicht, die erschöpften Soldaten, die an der Front infolge der Kälte und des Hungers nicht mehr kämpfen konnten, als »Feiglinge« zu beschimpfen, und dass sie sich »schämten« »Russen« zu sein ... Und als die Bolschewiki große Mengen versteckter Vorräte entdeckten und beschlagnahmten, bezeichneten sie diese als »Räuber«. Unter all dieser äußeren Korruptheit arbeiteten die alten reaktionären Kräfte, die sich seit dem Sturz Nikolaus II. Nicht geändert hatten, im geheimen still und sehr aktiv. Die Agenten der berüchtigten Ochrana waren noch immer in Funktion, für und gegen den Zaren, für und gegen Kerenski – je nachdem, von wem sie bezahlt wurden ... Geheime Organisationen aller Art, wie die Schwarzhunderter, waren eifrig bemüht, in der einen oder anderen Weise die Reaktion wiederherzustellen. In dieser Atmosphäre der Fäulnis, der halben Wahrheiten ließ sich, tagaus, tagein, nur ein klarer Ton vernehmen, der Ruf der Bolschewiki: »Alle Macht den Sowjets!«, »Alle Macht den Vertretern der Millionen und aber Millionen Arbeiter, Soldaten und Bauern!«, »Land, Brot!«, »Schluss mit dem sinnlosen Krieg!«, »Schluss mit der Geheimdiplomatie!«, »Schluss mit der Spekulation und dem Verrat!« ... »Die Revolution ist in Gefahr und mit ihr die Sache des Volkes in der ganzen Welt!«

Der Kampf zwischen dem Proletariat und dem Bürgertum, zwischen den Sowjets und der Regierung, der in den ersten Märztagen begonnen hatte, war seinem Gipfel nahe. Russland, das mit einem Satze aus dem tiefsten Mittelalter ins zwanzigste Jahrhundert gesprungen war, bot der erstaunten Welt das Schauspiel des tödlichen Kampfes zweier Systeme der Revolution – der formal politischen und der sozialen. Was für eine unglaubliche Lebenskraft offenbarte diese russische Revolution, nach all den Monaten des Hungers und der Enttäuschung! Die Bourgeoisie hätte ihr Russland besser kennen sollen. Lange noch wird es dauern, bis die »Krankheit« der Revolution in Russland ihren Lauf genommen hat ...

Blickt man zurück, so scheint Russland vor dem Novemberaufstand einem anderen Zeitalter anzugehören, fast unglaublich konservativ. So schnell haben wir uns dem neuen, schnelleren Leben angepasst. In dem Maße, wie das russische politische Leben sich radikalisierte, bis die Kadetten als Volksfeinde geächtet wurden, wurde Kerenski »ein Konterrevolutionär«; die »gemäßigten« sozialistischen Führer, Zereteli, Dan, Liber, Goz und Awxentjew, waren zu reaktionär für ihre Gefolgschaft, und Männer wie Wiktor Tschernow, ja sogar Maxim Gorki gehörten zum rechten Flügel ... Gegen Mitte Dezember 1917 besuchte eine Gruppe sozialrevolutionäre Führer privatim Sir George Buchanan, den britischen Gesandten, und sie baten ihn inständig, nichts davon zu erwähnen, dass sie bei ihm gewesen waren, weil sie als »zu weit rechts stehend« betrachtet wurden. »Man bedenke«, sagte Buchanan, »dass noch vor einem Jahr die englische Regierung mir Anweisung gab, Miljukow nicht zu empfangen, weil er so ein gefährlicher Linker war.«

Der September und der Oktober sin die schlimmsten Monate im russischen Jahr, besonders in Petrograd. Aus einem trostlos grauen Himmel, der die kürzer werdenden Tage noch dunkler machte, strömte unaufhörlicher Regen. Der Schmutz in den Straßen lag tief, schlüpfrig, von schweren Stiefeln zerfurcht, schlimmer als gewöhnlich, weil die Stadtverwaltung völlig zusammengebrochen war. Vom finnischen Meerbusen her fegte ein feuchter wind, die Straßen waren in kalten Nebel gehüllt. Des Nachts waren aus Gründen der Sparsamkeit und aus Furcht vor Zeppelinen die Straßen nur ganz unzureichend beleuchtet; in den Privatwohnungen und Mietshäusern brannte das elektrische Licht von sechs Uhr bis Mitternacht. Wollte man außer dieser Zeit Licht haben, so war man auf Kerzen angewiesen, die fast zwei Rubel das Stück kosteten. Petroleum war kaum zu haben. Dabei war es von drei Uhr nachmittags bis zehn Uhr vormittags finster. Überfälle und Einbrüche nahmen zu. In den Mietshäusern mussten die Männer jede Nacht mit geladenen Gewehren Wachdienst verrichten. Dies alles schon unter der Provisorischen Regierung.

Mit jeder Woche wurden die Lebensmittel knapper. Die tägliche Brotration fiel von anderthalb russischen Pfund auf ein Pfund, dann auf drei Viertel, auf ein halbes und auf ein Viertel. Gegen Ende gab es eine Woche, wo Brot überhaupt nicht ausgegeben wurde. Auf Zucker hatte man Anrecht von zwei Pfund im Monat, vorausgesetzt, dass man überhaupt welchen erhielt, was selten der fall war. Eine Schokoladentafel oder ein Pfund Bonbons, ohne jeden Geschmack, kostete allenthalben sieben bis zehn Rubel, das entspricht mindestens einem Dollar. Milch gab es für die Hälfte der Säuglinge in der Stadt; die Mehrzahl der Hotels und Privathaushaltungen bekam sie monatelang nicht zu Gesicht. In der Obstsaison wurden Äpfel und Birnen für etwas weniger als einen Rubel das Stück an den Straßenecken verkauft ... Um Milch, Brot, Zucker und Tabak musste man stundenlang im kalten Regen anstehen.

Als ich einmal aus einer die ganze Nacht währenden Versammlung nach Hause kam, sah ich, wie die Menschen, meist Frauen mit kleinen Kindern auf dem Arm, sich bereits vor Morgengrauen anzustellen begannen ... Carlyle hat in seiner Geschichte der Französischen Revolution das französische Volk als das Volk bezeichnet, das in der Kunst des Anstehens alle anderen Völker übertreffe. Russland hatte schon im Jahre 1915, unter der gesegneten Regierung Nikolaus’, Gelegenheit, sich in dieser Kunst zu üben, und dann, ohne Unterbrechung, bis zum Sommer 1917, wo das Anstehen um alle Dinge der gewöhnliche Zustand wurde. Man muss sich die ärmlich gekleideten Menschen vorstellen, wie sie mitten im russischen Winter oft den ganzen Tag in den froststarren Straßen Petrograds standen! Ich habe in den Schlangen zugehört und den bitteren Unterton der Unzufriedenheit vernommen, wenn er sich hier und da sogar durch die wie ein Wunder anmutende Gutmütigkeit des russischen Volkes Bahn brach. Dabei hatten alle Theater Abend für Abend, auch des Sonntags, Hochbetrieb. Die Karsawina zeigte sich in einem neuen Ballett im Marientheater, und alle tanzbegeisterten Russen gingen hin, sie zu sehen. Schaljapin sang. Im Alexandratheater wurde Meyerholds Inszenierung von Tolstois »Der Tod Iwans des Schrecklichen« gegeben. Und bei dieser Vorstellung erinnere ich mich, einen Zögling der Kaiserlichen Pagenschule in Galauniform beobachtet zu haben, der in den Pausen jedes Mal aufstand und vor der leere, ihrer Adler beraubten kaiserlichen Loge seine Ehrenbezeugungen machte ... Das Kriwoje-Serkalo – Theater brachte eine prunkvolle Aufführung von Schnitzlers »Reigen«.

Obgleich die Eremitage und andere Gemäldegalerien nach Moskau übergeführt worden waren, gab es wöchentlich Gemäldeausstellungen Scharen von Studentinnen liefen zu den Vorlesungen über Kunst, Literatur und Philosophie. Es war eine ausnehmend günstige Zeit für Theosophen. Und die Heilsarmee, die zum ersten Mal in Russland zugelassen war, bedeckte die Mauern mit Einladungen zu ihren Versammlungen, die die russischen Hörer amüsierten und in Erstaunen versetzten ... Wie immer in solchen Zeiten, ging das tägliche Leben in der Stadt seinen gewohnten Trott und ignorierte die Revolution soweit wie möglich. Die Poeten machten Verse – doch nicht über die Revolution. Die realistische Maler malten Szenen aus der mittelalterlichen Geschichte Russlands – alles mögliche, nur nicht die Revolution. Die jungen Damen aus der Provinz kamen in die Hauptstadt um Französisch zu lernen und ihre Stimme zu kultivieren, und die lustigen, jungen Offiziere trugen ihre goldverbrämten Uniformen und ihre kostbar ziselierten kaukasischen Säbel in den Salons der Hotels spazieren. Die Damen der Beamtenschaft trafen sich an den Nachmittagen zum Tee, wobei jede ihr goldenes oder silbernes, mit Edelsteinen besetztes Zuckerdöschen und einen halben Laib Brot in ihrem Muff mit sich brachte – und wünschten sich den Zaren zurück, oder das die Deutschen kommen sollten, oder irgend etwas, was das schwierige Dienstbotenproblem zu lösen geeignet wäre ... Die Tochter eines meiner Bekannten bekam eines Nachmittags einen hysterischen Anfall, weil die Straßenbahnschaffnerin sie »Genossin« genannt hatte.

Um sie herum war das ganze große Russland in Bewegung, schwanger mit einer neuen sozialen Ordnung. Die Dienstboten, die man gewohnt war, wie Tiere zu behandeln und mit einem Bettelpfennig zu entlohnen, begannen aufsässig zu werden. Ein Paar Schuhe kostete über hundert Rubel, und da die Löhne in der Regel nicht mehr als fünfunddreißig Rubel im Monat betrugen, weigerten sich die Dienstboten um Lebensmittel anzustehen und dabei ihr Schuhzeug zu verderben. Aber – was weitaus schlimmer war – in dem neuen Russland durfte jeder Mann und jede Frau wählen; es gab Arbeiterzeitungen, die ganz neue und erstaunliche Dinge schrieben; es gab Sowjets, und es gab Gewerkschaften. Die Droschkenkutscher hatten einen Verband; sie waren auch im Petrograder Sowjet vertreten. Und die Kellner und Hotelbediensteten waren organisiert und weigerten sich, Trinkgelder zu nehmen. An den Wänden der Restaurants klebten sie Zettel an, auf denen zu lesen stand: »Keine Trinkgelder!« oder auch: »Die Tatsache, dass ein Mann seinen Lebensunterhalt verdient, indem er bei Tisch aufwartet, gibt niemandem das Recht, ihn durch Trinkgeldgeben zu beleidigen.«

 

An der Front setzten sich die Soldaten mit den Offizieren auseinander und lernten es, sich mit Hilfe ihrer Komitees selbst zu regieren. In den Fabriken erlangten die Fabrikkomitees, diese einzigartigen russischen Organisationen, Erfahrung und Stärke und kamen zum Bewusstsein ihrer historischen Mission durch den Kampf mit der alten Ordnung. Ganz Russland lernte lesen. Und es las – Politik, Ökonomie, Geschichte. Das Volk wollte Wissen ... In jeder Großstadt, fast in jeder Stadt, an der ganzen Front hatte jede politische Partei ihre Zeitung, manchmal mehrere. Hunderttausende von Flugblättern wurden von Tausenden Organisationen verteilt, überschwemmten die Armee, die Dörfer, die Fabriken, die Straßen.

Der Drang nach Wissen, so lange unterdrückt, brach sich in der Revolution mit Ungestüm Bahn. Allein aus dem Smolny-Institut gingen in den ersten sechs Monaten täglich Tonnen, Wagenladungen Literatur ins Land. Russland saugte den Lesestoff auf, unersättlich, wie heißer Sand das Wasser. Und es waren nicht Fabeln, die verschlungen wurden, keine Geschichtslügen, keine verwässerte Religion oder der billige Roman, der demoralisiert – es waren soziale und ökonomische Theorien, philosophische Schriften, die Werke Tolstois, Gogols und Gorkis ... Und dann das gesprochene Wort, neben dem Carlyles »Flut der französischen Rede« wie ein armseliges Rinnsal anmutet: Vorlesungen, Debatten, Reden; in Theatern, Zirkussen, Schulen, Klubs, in den Sitzungen der Sowjets, der Gewerkschaften, in den Kasernen ... Versammlungen in den Schützengräben an der Front, auf den Dorfplätzen, in den Fabriken ... Was für ein Anblick, die Arbeiter der Putilow-Werke, vierzigtausend Mann stark, herausströmen zu sehen, um die Sozialdemokraten zu hören, die Sozialrevolutionäre, die Anarchisten – wer immer etwas zu sagen hatte, solange er reden wollte. Monatelang war in Petrograd, in ganz Russland jede Straßenecke eine öffentliche Tribüne. In den Eisenbahnen, in den Straßenbahnwagen, überall improvisierte Debatten, überall ... Und die Gesamtrussischen Konferenzen und Kongresse, die die Menschen zweier Kontinente in Verbindung brachten – Kongresse der Sowjets, der Genossenschaften, der Semstwos, der Nationalitäten, der Priester, der Bauern, der politischen Parteien; die Demokratische Beratung, die Moskauer Beratung, der Rat der Russischen Republik. In Petrograd tagten ständig drei oder vier Kongresse. In den Versammlungen wurde jeder Versuch, die Redezeit einzuschränken, abgelehnt. Jedermann hatte vollkommene Freiheit, auszusprechen, was er auf dem Herzen hatte ... Wir waren bei der Zwölften Armee an der Front, die eben von Riga gekommen war, wo hungernde und barfüßige Soldaten in dem Moder der Schützengräben dahin krankten; kaum sahen sie uns, als sie auch schon aufsprangen, mit ihren mageren Gesichtern und ihren blaugefrorenen Gliedern, die durch ihre zerrissenen Kleider schimmerten. Und das erste, was sie fragten, war: »Habt ihr was zu lesen?«

Wenn aber auch an äußeren und sichtbaren Zeichen der Wandlung kein Mangel war: zum Beispiel die Statue der »Großen Katharina« vor dem Alexandratheater eine kleine rote Fahne in der Hand hielt und andere – etwas verblichen – von allen öffentlichen Gebäuden herab wehten; die kaiserlichen Insignien und Adler teils heruntergerissen, teils verdeckt waren; an der Stelle der brutalen zaristischen Polizisten in den Straßen eine sanfte unbewaffnete Bürgermiliz patroullierte – so gab es dennoch zahllose wunderliche Anachronismen. Beispielsweise existierte noch immer die Rangordnung, die Peter der Große Russland mit eiserner Hand aufgezwungen hatte. Fast jedermann, vom Schulbuben angefangen, hatte seine vorgeschriebene Uniform, mit den Abzeichen des Kaisers auf den Knöpfen und Achselstücken. Von fünf Uhr nachmittags an waren die Straßen gefüllt mit alten Herren in Uniform, die Aktenmappen trugen und von der Arbeit in den riesengroßen kasernengleichen Ministerien oder Regierungsinstitutionen kamen, wo ihre Tätigkeit darin bestehen mochte, auszurechnen, wie lange es währen würde, bis der Tod eines ihrer Vorgesetzten sie zum Rang eines Assessors oder Geheimrats aufsteigen lassen würde mit der Aussicht auf Pensionierung, mit einem einträglichen Ruhegehalt und womöglich mit dem St. Annenkreuz ... Dem Senator Sokolow ist es passiert, in einem Moment, als die Revolution ihre höchste Welle erreicht hatte, dass er eines Tages zu einer Senatssitzung in Zivilkleidung erschien und nicht zugelassen wurde, weil er nicht die vorgeschriebene Livree des Zarendienstes trug! Gegen diesen Hintergrund einer ganzen Nation in Gärung und Auflösung rollte die Erhebung der russischen Massen heran ...

II. Der heraufziehende Sturm

Im September 1917 marschierte der General Kornilow auf Petrograd, um sich zum militärischen Diktator über Russland aufzuschwingen. Hinter ihm wurde plötzlich die Eisenfaust der Bourgeoisie sichtbar, die sich anschickte, mit verwegenem Schlag die Revolution niederzuschmettern. In die Verschwörung waren auch einige sozialistische Minister verwickelt. Selbst Kerenski war verdächtig. Sawkinow, von dem Zentralkomitee seiner Partei, den Sozialrevolutionären, aufgefordert, Aufklärung zu geben, weigerte sich dessen und wurde ausgeschlossen. Soldatenkomitees verhafteten Kornilow, Generale wurden entlassen, Minister ihrer Ämter enthoben, und das Kabinett wurde gestürzt. Kerenski machte den Versuch, eine neue Regierung zu bilden mit Einschluss der Kadetten, der Partei der Bourgeoisie. Seine eigene Partei, die Sozialrevolutionäre, befahlen ihm den Ausschluss der Kadetten. Kerenski weigerte sich zu gehorchen und drohte mit seinem eigenen Rücktritt aus dem Kabinett, wenn die Sozialisten auf ihrer Forderung beständen. Indessen war die Aufregung der Volksmassen so groß, dass er sich – wenigstens für den Moment – nicht zu widersetzen wagte, und ein provisorisches Direktorium von fünf der bisherigen Minister, mit Kerenski an der Spitze übernahm die Macht bis zur endgültigen Regelung der Frage.

Die Kornilow-Affäre hatte alle sozialistischen Gruppen, von den Gemäßigten bis zu den Revolutionären, in einem leidenschaftlichen Impuls der Selbstverteidigung zusammengeführt. Es galt, das Auftauchen neuer Kornilows zu verhindern. Eine neue Regierung musste gebildet werden, die den der Revolution ergebenen Elementen verantwortlich war. So forderte denn das Zentralexekutivkomitee der Sowjets die Organisationen auf, Delegierte zu einer »Demokratischen Beratung« zu entsenden, die im September in Petrograd zusammentreten sollte.

Im Zentralexekutivkomitee der Sowjets hatten sich von vornherein drei Richtungen bemerkbar gemacht. Die Bolschewiki forderten die Einberufung eines neuen (zweiten) Gesamtrussischen Sowjetkongresses und die Übernahme der Macht durch die Sowjets. Das von Tschernow geführte Zentrum der Sozialrevolutionäre, die linken Sozialrevolutionäre unter Führung von Kamkow und Spiridowna, die Menschewiki – Internationalisten unter Martow und das Zentrum der Menschewiki, dessen Sprecher Bogdanow und Skobelew waren, traten für eine »rein sozialistische« Regierung ein. Zereteli, Dan und Liber, die Führer der rechten Menschewiki, und die rechten Sozialrevolutionäre unter Awxentjew und Goz bestanden auf der Hinzuziehung der besitzenden Klassen bei der Bildung der neuen Regierung.

Im Petrograder Sowjet gelang es den Bolschewiki fast sofort, die Mehrheit zu gewinnen. Dem Beispiel Petrograds folgten schnell die Sowjets in Moskau, Kiew, Odessa und anderen Städten. Aufs höchste bestürzt, kamen die das Zentralexekutivkomitee der Sowjets beherrschenden Menschewiki zu der Schlussfolgerung, dass die Gefahr Lenin mehr zu fürchten sei als die Gefahr Kornilow. Sie revidierten den für die Demokratische Beratung aufgestellten Vertretungsmodus, indem sie den Genossenschaften und ähnlichen konservativen Organisationen eine größere Anzahl von Delegierten zusprachen. Selbst diese gesiebte Versammlung stimmte zuerst für eine Koalitionsregierung ohne die Kadetten.

Nur Kerenskis offen Drohung mit dem Rücktritt und das Alarmgeschrei der »gemäßigten« Sozialisten, dass »die Republik in Gefahr sei«, erreichten, dass die Beratung mit einer geringen Mehrheit sich zugunsten der Koalition mit der Bourgeoisie aussprach und der Errichtung einer Art beratenden Parlaments, ohne gesetzgebende Gewalt, zustimmte, das den Namen »Provisorische Rat der Russischen Republik« erhielt. Die neue Regierung wurde praktisch von den besitzenden Klassen beherrscht, und auch in dem neugeschaffenen Rat der Russischen Republik hatten diese eine verhältnismäßig große Zahl von Sitzen inne. Das Zentralexekutivkomitee der Sowjets hatte faktisch aufgehört, die einfachen Menschen in den Sowjets zu vertreten. Es weigerte sich, den im September fälligen neuen Gesamtrussischen Sowjetkongress einzuberufen, und war auch nicht gewillt, seine Einberufung durch andere zu dulden.

Das offizielle Organ des Komitees. »Iswestija«, begann sogar anzudeuten, dass die Funktion der Sowjets beendet und ihre baldige Auflösung zu erwarten sei. Zur selben Zeit bezeichnete die neue Regierung als einen wesentlichen Teil ihrer Politik die Liquidierung aller »unverantwortlichen Organisationen«, womit die Sowjets gemeint waren. Die Bolschewiki antworteten hierauf mit der Aufforderung an die Gesamtrussischen Sowjets, sich am 2. November in Petrograd zu versammeln und die Regierungsgewalt zu übernehmen. Gleichzeitig zogen sie ihre Vertreter aus dem Provisorischen Rat der Russischen Republik zurück mit der Erklärung, dass sie es ablehnten, an einer »Regierung des Volksverrats« teilzunehmen. Der Rücktritt der Bolschewiki ließ den unglückseligen Rat jedoch keineswegs zur Ruhe kommen. Die besitzenden Klassen, wider im Besitz einer Machtposition, wurden arrogant. Die Kadetten erklärten, dass die Regierung nicht berechtigt gewesen sei, Russland zu einer Republik zu proklamieren. Sie forderten strenge Maßnahmen in Armee und Flotte zur Unterdrückung der Soldaten- und Matrosenkomitees und griffen die Sowjets heftig an.

Auf der anderen Seite traten die Menschewiki – Internationalisten und die linken Sozialrevolutionäre für den sofortigen Friedensschluss ein, für die Übergabe des Landes an die Bauern und für die Durchführung der Arbeiterkontrolle über die Industrie, was praktisch auf das Programm der Bolschewiki hinauslief. Ich habe Martows Antwortrede an die Kadetten gehört. Todkrank, wie er war, hielt er sich mit Mühe am Rednerpult aufrecht, und mit einer Stimme, so heiser, dass man ihn kaum zu hören vermochte, drohte er nach den rechten Bänken hinüber: »Ihr schimpft uns Defätisten; aber die wahren Defätisten sind jene, die um ihrer egoistischen Interessen willen den Friedensschluss so lange hinauszögern möchten, bis von der russischen Armee nichts mehr übrig geblieben sein wird und Russland nur noch ein Schacherobjekt der verschiedenen imperialistischen Gruppen ist ... Ihr versucht, dem russischen Volk eine von den Interessen der Bourgeoisie diktierte Politik aufzuzwingen. Die Frage des Friedens sollte unverzüglich entschieden werden ... Ihr werdet dann sehen, dass sie nicht umsonst gearbeitet haben, jene, die ihr deutsche Agenten nennt, jene Zimmerwaldler, die in allen Ländern dafür gewirkt haben, dass das Bewusstsein der demokratischen Massen erwacht ...«

Zwischen diesen beiden Gruppen schwankten die Menschewiki und Sozialrevolutionäre – mit unwiderstehlicher Gewalt nach links getrieben durch den Druck der steigenden Unzufriedenheit der Massen. Eine tief gehende Feindschaft teilte so den Rat in Gruppen, die miteinander auszusöhnen unmöglich war. So war die Lage, als die lang erwartete Ankündigung der Pariser Alliiertenkonferenz die brennende Frage der Außenpolitik auf die Tagesordnung setzte. In der Theorie waren alle sozialistischen Parteien für den schnellstmöglichen Friedensschluss auf demokratischer Grundlage. Schon im Mai 1917 hatte der Petrograder Sowjet, damals noch unter menschewistischer und sozialrevolutionärer Führung, die berühmten russischen Friedensbedingungen proklamiert und die Alliierten aufgefordert, eine Konferenz zur Besprechung der Kriegsziele einzuberufen. Diese Konferenz, für den August versprochen, wurde ein erstes Mal bis zum September, dann bis zum Oktober vertagt und sollte jetzt endgültig am 10. November stattfinden.

Die Provisorische Regierung hatte zwei Vertreter vorgeschlagen, den General Alexejew, einen reaktionären Militär, und Tereschtschenko, den Minister des Auswärtigen. Die Sowjets erwählten Skobelew zu ihrem Sprecher und entwarfen ein Manifest, den berühmten »Nakas« (Direktiven). Die Provisorische Regierung lehnte Skobelew und seinen »Nakas« ab. Die Gesandten der Alliierten protestierten, und zu guter Letzt erklärte Bonar Law im englischen Unterhaus in Beantwortung einer an die Regierung gerichteten Anfrage kühl: »Soweit mir bekannt, wird die Pariser Konferenz die Kriegsziele überhaupt nicht diskutieren, sondern nur die Methoden der Kriegsführung ...« Die konservative russische Presse jubelte, wohingegen die Bolschewiki riefen: »Da seht ihr, wohin die Menschewiki und Sozialrevolutionäre mit ihrer Kompromisstaktik gelangt sind!«

 

Mittlerweile waren an der Tausende Kilometer weiten Front die Millionen Soldaten der russischen Armee in Bewegung geraten. Höher und höher gingen die Wogen der Erregung, immer neue Delegationen fluteten in die Hauptstadt mit dem Ruf. Friede, Friede! Ich ging eines Abends nach dem jenseits des Flusses gelegenen Zirkus »Modern« in eine der großen Volksversammlungen, die, jeden Abend zahlreicher, in der ganzen Stadt veranstaltet wurden. In dem schmucklosen Amphitheater, von fünf winzigen, an einem dünnen Draht hängenden Glühlampen unzureichend erleuchtet, drängten sich von der Arena bis hoch unterm Dach unübersehbare Massen von Soldaten, Matrosen, Arbeitern und Frauen, alle mit gespanntester Aufmerksamkeit lauschend, als ob es um ihr Leben ginge.

Ein Soldat redete von der 548. Division: »Genossen« rief er, und tiefe Sorge sprach aus seinem eingefallenen Gesicht und seinen verzweifelten Gesten. »Die an der Spitze verlangen von uns immer neue Opfer und Opfer, aber wir müssen sehen, dass die, die im Besitze sind, völlig ungeschoren bleiben. Wir führen Krieg gegen die Deutschen. Würde es uns einfallen, die Arbeiten unseres Stabes deutschen Generalen anzuvertrauen? Wir stehen auch mit den Kapitalisten im Kriege, und doch laden wir diese ein, an unserer Regierung teilzunehmen. Der Soldat sagt: ›Zeigt mir, wofür ich kämpfen soll. Für Konstantinopel oder für ein freies Russland? Für die Demokratie oder für die kapitalistischen Räuber? Wenn man mir beweisen kann, dass ich die Revolution verteidige, dann werde ich hingehen und kämpfen, auch ohne die Todesstrafe, mit der man mich zwingen will.‹ Wenn das Land den Bauern gehören wird, die Fabriken den Arbeitern, wenn die Sowjets die Macht ausüben werden, dann haben wir etwas zu verteidigen und dann werden wir auch kämpfen!«

Überall in den Kasernen, in den Fabriken, an jeder Straßenecke reden Soldaten zu den Massen. Alle fordern die Beendigung des Krieges und erklären, dass die Truppen die Schützengräben zu verlassen und nach Hause zu gehen entschlossen seien, wenn die Regierung keine ernstlichen Anstrengungen machen würde, zum Frieden zu gelangen.

Ein Vertreter der Achten Armee: »Wir sind schwach, unsere Kompanien zählen nur noch wenige Mann. Wir brauchen Lebensmittel und Stiefel und Verstärkung, oder die Schützengräben werden bald verlassen sein. Frieden oder Verstärkung ... Die Regierung muss den Krieg beendigen oder der Armee zur Hilfe kommen ...«

Dann ein Redner, der für die Sechsundvierzigste Sibirische Artillerie sprach: »Die Offiziere lehnten es ab, mit unsern Komitees zu arbeiten, sie verraten uns an den Feind, sie verhängen über unsere Agitatoren die Todesstrafe; die konterrevolutionäre Regierung unterstützt sie Wir glauben, dass die Revolution den Frieden bringen wird. Jetzt aber verbietet die Regierung, von solchen Dingen auch nur zu reden, während sie uns gleichzeitig hungern lässt und die Munition nicht liefert, die wir brauchen, wenn wir kämpfen sollen ...« Dazu kamen aus Europa Gerüchte über einen Friedensschluss auf Kosten Russlands. Die allgemeine Unzufriedenheit wurde noch gesteigert durch die Nachrichten über die Behandlung der russischen Truppen in Frankreich. Die 1. Brigade hatte dort versucht, ihre Offiziere durch Soldatenkomitees zu ersetzen, wie das ihre Kameraden zu Hause getan hatten, und sich geweigert, einem Befehl Folge zu leisten, der sie nach Saloniki beorderte. Sie verlangte, nach Russland geschickt zu werden.

Man hatte die Brigade daraufhin eingeschlossen und ausgehungert, dann unter Artilleriefeuer genommen, wobei viele Soldaten getötet wurden. Am 29. Oktober hörte ich in dem weißmarmornen, rotdekorierten Saal des Marienpalastes die von dem erschöpften und nach Frieden lechzenden Lande mit Ungeduld erwartete Erklärung Tereschtschenkos über die Außenpolitik der Regierung. Diese äußerst sorgfältig vorbereitete, ganz unverbindliche Rede brachte indessen nichts als die sattsam bekannten Phrasen über die Zerschmetterung des deutschen Militarismus mit Hilfe der Alliierten, über das Staatsinteresse Russlands, über die durch Skobelews »Nakas« verursachten Verlegenheiten. Der Schluss war bezeichnend: »Russland ist mächtig, es wird mächtig bleiben, was auch geschehen mag. Wir müssen Russland verteidigen. Wir müssen zeigen, dass wir die Vorkämpfer eines großen Ideals sind und Kinder einer großen Nation.« Befriedigt war niemand. Den Reaktionären war es um eine starke imperialistische Politik zu tun, und die demokratischen Parteien wollten die Garantie haben, dass die Regierung nichts unversucht lassen würde, um zum Frieden zu gelangen. Hier ein Artikel aus »Rabotschi i Soldat« (Arbeiter und Soldat), dem Organ des bolschewistischen Petrograder Sowjets:

»Was die Regierung den Schützengräben zu sagen hat!

Der schweigsamste unserer Minister, Herr Tereschtschenko, hat endlich die Sprache gefunden, um den Schützengräben das Folgende mitzuteilen:

1. Wir sind auf das engste verbündet mit unseren Alliierten (nicht mit den Völkern, sondern mit den Regierungen).

2. Es ist zwecklos für die Demokratie, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Winterfeldzuges zu diskutieren. Darüber entscheiden die Regierungen unserer Verbündeten.

3. Die Julioffensive war nützlich, und sie war eine sehr glückliche Sache. (Kein Wort über die Folgen!)

4. Es ist nicht wahr, dass sich unsere Verbündeten nicht um uns sorgen. Der Minister ist im Besitz sehr wichtiger Erklärungen. (Erklärungen? Wie ist’s mit den Taten? Das Verhalten der britischen Flotte? Die Unterredung des englischen Königs mit dem landesflüchtigen konterrevolutionären General Gurko? Alles dies ließ der Minister unerwähnt.)

5. Der Nakas Skobelews taugt nichts; unsere Verbündeten wollen davon nichts wissen, auch die russischen Diplomaten wollen ihn nicht. In der Alliiertenkonferenz müssen alle eine Sprache sprechen.

6. Und das ist alles? – Das ist alles. Wo ist der Ausweg? – Vertrauen zu den Alliierten und zu Tereschtschenko! Wann wird der Friede kommen? – Wenn die Alliierten es erlauben! Das ist die Antwort der Regierung auf die Frage der Schützengräben nach dem Frieden.«

Da tauchte – vorläufig noch in unklaren umrissen – im Hintergrunde der russischen Politik eine gefährliche Macht auf: die Kosaken. »Nowaja Shisn« (Neues Leben), die Zeitung Gorkis, machte auf ihre Tätigkeit aufmerksam: »Zu Beginn der Revolution weigerten sich die Kosaken, auf das Volk zu schießen. Als Kornilow auf Petrograd marschierte, folgten sie ihm nicht. In der letzten Zeit hat sich ihre Rolle etwas geändert. Von der passiven Loyalität zur Revolution sind sie zu einer aktiven politische Offensive (gegen sie) übergegangen ...« Kaledin, der Ataman der Donkosaken, von der Provisorischen Regierung wegen seiner Beteiligung an dem Kornilowabenteuer seines Postens enthoben, weigerte sich zu gehen, und von drei riesigen Armeen umgeben, lagerte er intrigierend und drohend bei Nowotscherkassk.