Das Wunder vom Little Bighorn

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»Es ist nur ein Dachs, der um den Beifußbusch streicht«, antwortete sie von draußen.

Loves War hatte keine Chance gegen seine Tochter, wenn es um Schnelligkeit ging. Er war immer ein paar Sekunden hinterher. Doch er war sehr stolz darauf, daß er eine Tochter besaß, die fast unter allen Umständen auf sich selbst aufpassen konnte. Oft sagte er zu seiner Frau First Woman, daß Maiden Chief ein schwer zu besiegender Krieger sein könnte, wenn es ihr nur erlaubt wäre, den Kriegspfad wie ein Mann zu beschreiten. In der Vergangenheit hatten Frauen bereits ihre Ehemänner, Brüder oder Cousins auf Kriegszügen begleitet. Sie hatten an schrecklichen Kämpfen teilgenommen und im Angesicht des Todes ehrenvolle Coups18 ausgeführt. Doch Loves War war der Meinung, daß solche Kriegszüge absichtlich so organisiert gewesen waren, daß die Sicherheit der Frauen fast vollkommen gewährleistet war. »Du selbst, First Woman, hast einst mit mir an einer Schlacht teilgenommen, und ich habe es dir ermöglicht, die Ehre des zweiten Coups zu erringen. Ich sage dir, auch unsere Tochter wird in den Kampf ziehen, bevor sie alt ist und am Stock gehen muß«, pflegte der stolze Vater zu sagen.

Als am Nachmittag der letzte Besucher das Zelt verlassen hatte, erzählte Maiden Chief ihrer Mutter von dem verkleideten Freier. Mit großer Heiterkeit beschrieb sie seine Kleidung, sein Verhalten und alles, was sie an Besonderem an ihm bemerkt hatte. Sie erklärte, daß seine Gestalt selbst inmitten einer großen Ansammlung von Männern leicht zu erkennen sein müßte. Die Mutter ließ von der Arbeit, mit der sie beschäftigt war, ab und blickte gedankenvoll vor sich hin, die Stirn in Falten. Schließlich sagte sie: »Kind, wir Frauen müssen manchmal seltsames Gebaren von Männer erdulden, das uns auf unerfreuliche Art verwirrt. Wenn du deine Augen und deine Ohren offenhältst, wirst du ohne Zweifel schnell herausfinden, worauf der junge Mann aus ist. Sei immer auf das schlimmste gefaßt. Sorge dafür, daß dein Messer scharf bleibt und daß du es schnell bei der Hand hast. Zögere nicht, es zu benutzen, wenn dies notwendig sein sollte. Es gibt viele Männer mit bösen Herzen, die schlimmer als Hunde sind. Ich kann mich irren, aber ich glaube, daß der sonderbar gekleidete Freier schlechte Absichten verfolgt.«

Maiden Chief war außerordentlich überrascht von der Vermutung ihrer Mutter. Nicht, daß sie dem Mann keine Missetat zugetraut hätte, aber ihr war gar nicht der Gedanke gekommen, daß er ihr gegenüber Arges im Sinne haben könnte. Ihr Blut wallte auf. »Mutter!« rief sie erregt. »In all den Jahren, in denen mich Männer genötigt haben, ihr Liebesgeschwätz anzuhören, gab es nicht einen, der auch nur das geringste versucht hätte. Aber seit langem bin ich bestens darauf vorbereitet, daß so etwas geschehen könnte. Hab bloß keine Angst, Mutter! Laß den Mann nur eine falsche Bewegung machen, und er wird schnell mein Messer in seinem Leib fühlen. Weder er noch irgendein anderer, der es wagt, mir etwas anzutun zu versuchen, wird lange genug leben, um seine schlechte Tat zu Ende zu bringen«, sagte die junge Frau atemlos vor Wut.

Als Loves War am späten Nachmittag aus dem Ratszelt zurückkehrte, teilte er seiner Familie mit, daß die vier Denker beschlossen hatten, mit dem Stamm am nächsten Tag zu einem neuen Lagerplatz aufzubrechen. Sobald sie diese gute Neuigkeit erfahren hatten, begannen Maiden Chief und ihre Mutter, die Haushaltsgegenstände zusammenzupacken, denn Loves Wars Haushalt war groß. An diesem Abend kamen keine Freier zu Maiden Chief, worüber sie sehr erleichtert war. Alle Welt war eifrig damit beschäftigt, allen Besitz zu verpacken oder sich anderweitig auf den Umzug vorzubereiten, der für gewöhnlich sehr früh am Morgen begann.

Kaum hatte Loves War seine Familie über die Verlegung des Lagers informiert, als auch schon die laute Stimme des Stammesausrufers die Stille des Abends zerriß: »Bringt mir Feuer, bringt mir meine Pfeife in die Mitte, ihr vier Denker! Ihr Wachleute, kommt in die Mitte!« Im Zentrum des Lagers führte ein Würdenträger die Pfeifenzeremonie aus, die für den Umzug des Stammes erforderlich war.

Die vier Denker waren stets an der Spitze des Stammes, wenn dieser umzog. Sie führten die heilige Pfeife mit sich, so wie die Israeliten die Bundeslade mit sich führten. Während des Umzugs waren jederzeit Wachleute in Bereitschaft, um zu verhindern, daß Diebe die Karawane bestahlen, und die Stammeskundschafter wurden ausgesandt. Büffeljagd war während der Verlegung des Lagers verboten.

Auch wenn Tausende Familien nun in aller Eile ihre Zelte abbrechen und ihre Sachen zusammenpacken mußten, gab es doch keine größere Aufregung und Freude für die Sioux als den Umzug zu einem neuen Lagergrund. Die meisten trugen dabei ihre besten Kleider. Liebespaare ritten Seite an Seite mit Knaben, die sich Scheingefechte lieferten. Jünglinge veranstalteten Wettrennen mit ihren Ponys und hetzten, wenn der Zug unterwegs Büffeln mit Jungtieren begegnete, Büffelkälber vor sich her.

Der Lärm, den der Stamm auf seinem Weg verbreitete, war ohrenbetäubend, es sei denn, die Anführer der Karawane befahlen aus einem wichtigen Grund, ruhig zu sein. Doch selbst wenn strengste Ruhe befohlen wurde, war es beinahe unmöglich, das Gelärme ganz zu unterbinden. Immer gab es Raufereien zwischen Jungen, und Eltern, die sie deswegen anschrien, oder Pferde oder Hunde brachten ein Travois-Pony dazu durchzugehen, so daß Gefahr bestand, daß Kinder zu Tode getrampelt wurden, oder jugendliche Reiter galoppierten mit ihren Ponys mitten in den Zug hinein. Wenn sich gerade einmal nichts dergleichen abspielte, so ging gewiß ein Packpferd durch, dessen Last unter den Bauch gerutscht war.

Die schüchternsten unter den Siouxmädchen litten sehr unter dem Umzug, denn sie hatten keine Möglichkeit, sich vor den Blicken der jungen Männer zu verbergen und sich ihrer spöttischen Bemerkungen zu erwehren. Unaufhörlich waren sie damit beschäftigt, ihre Pferde zu führen, die Packen im Auge zu behalten und etliche andere Aufgaben zu bewältigen. Wahrscheinlich war dies den jungen Frauen, die ein schönes Gesicht besaßen, weniger unangenehm als denen, die nichtssagend oder gar häßlich aussahen.

Maiden Chief ritt inmitten des großen Zugs. Sie führte ein schwer bepacktes Travois-Pony mit sich. Sie war nicht wie sonst fast vollständig in ihre Kleidung eingehüllt, sondern trug ein weißes Kleid mit gefransten Schößen und Ärmeln. Es reichte ihr nur bis unterhalb der Knie. Auch ihre Leggings und ihre Mokassins bestanden aus weißem Leder und waren mit den buntgefärbten Stacheln des Stachelschweins phantasievoll bestickt. Um die Hüfte trug sie einen Umhang aus Büffelkalbsleder, so daß sie die Arme und Hände frei hatte, um ihre Pferde zu führen und die Packen, falls erforderlich, zurechtzurücken. Das Haar hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr auf die Brust hingen. An ihren Enden waren die Zöpfe mit verzierten Bändern aus Hirschleder zusammengebunden. Im Takt von War Crys Schritten stießen diese Bänder aneinander, was einen Ton wie von weit entfernten Glöckchen verursachte. Zwei Ohrringe aus weißen Muscheln tanzten gleich winzigen Schmetterlingen an Maiden Chiefs Wangengrübchen. Ebenso wie ihr Reitpferd hielt sie den straff gekämmten Kopf hoch erhoben, und sie genoß das aufgeregte Gelärme der Karawane. Ihre Mutter ritt direkt vor ihr. Sie führte einen schwer beladenen Travois, der von zwei Ponystuten gezogen wurde, gefolgt von drei unbeladenen Pferden.

Im Durcheinander des Zuges ritt plötzlich Maiden Chiefs seltsamer Besucher direkt neben ihr, so dicht, daß er sie fast berührt hätte. Da sie gerade in eine andere Richtung blickte, bemerkte sie ihn nicht sofort. Erst, als War Cry böse nach dem an ihm vorbeilaufenden Pony schnappte, wandte sie den Kopf und sah die Ursache für den Ärger ihres Reittieres. Sie erblickte einen prächtig gekleideten Krieger, der ein temperamentvolles rotbraunes Büffelpferd ritt. Doch schon war er an ihr vorübergeritten und bahnte sich im Zickzackkurs einen Weg durch die Menge an die Spitze des Zuges. Sie hatte ihn sofort wiedererkannt, denn seine Gestalt hatte sich ihr unauslöschlich ins Gedächtnis eingeprägt. Bevor sie Zeit gehabt hätte, die Einzelheiten seiner Kleidung genau zu erkennen, war er bereits vor ihr in der Menge verschwunden. Was sie hatte wahrnehmen können, war eine große Adlerfederkrone mit langem Schweif, ein Gewehr, das er quer am Rücken auf Höhe der Taille trug, sowie seine ungewöhnlich weiten Leggings. Doch nichts davon würde ihr helfen, ihn wiederzufinden, denn es gab viele Krieger, die derart ausgestattet waren. Lediglich seinen rotbraunen Mustang würde sie leicht wiedererkennen können. Maiden Chief hatte bemerkt, daß auch ihre Mutter den Mann gesehen hatte. Sie vermutete, daß diese ihn kannte, aber sie hatte nicht die Absicht, sie nach ihm zu fragen. Ihr kam der Gedanke, daß der Fremde ja ein Blutsverwandter sein könnte, der unsterblich in sie verliebt war. In diesem Fall wäre es besser, wenn die Mutter nichts davon erfuhr. Maiden Chief würde selbst herausfinden müssen, wer der seltsame Freier war.

Vom frühen Morgen an war die große Karawane langsam über Hügel und durch Täler gezogen, hatte sich durch ­Canyons geschlängelt wie eine monströse Raupe. Dreimal hatten die Träger der heiligen Pfeife den Zug angehalten und eine Rauchzeremonie durchgeführt. Als die Anführer zum vierten Mal einen Halt anordneten, hatte die Karawane den neuen Zeltgrund erreicht. Es handelte sich um ein Flußtal, das auf beiden Uferseiten bewaldet war. Die Landschaft bot einen Anblick, der das Herz erfreute. Im hohen Gras, das überall den Boden bedeckte, standen wilde Obstbäume, deren Äste sich unter der Last der reifenden Früchte bogen. Einige Hirsche flohen die bewaldeten Hänge hinauf, fort von dem schrecklichen Getöse, das die Oglalajungen veranstalteten, als sie in die Wälder stürmten, um sich die hungrigen Bäuche mit Felsenbirnen vollzuschlagen, die schon von weitem als dunkle Flecken im Grün der Bäume zu sehen waren. Am Westufer gab es einen großen ebenen Grund. Dorthin dirigierten die vier Denker ihren Stamm in einen Kreis, wie eine gut ausgebildete Kavallerieabteilung.

 

Unverzüglich wurde damit begonnen, die Tipis aufzubauen. Es gibt keinen verwirrenderen Anblick als den einer großen Stammesgruppe beim Errichten des Lagers. Travoisstangen, Zelthäute, Lederbehälter, Seile und zahllose andere Dinge waren in unbeschreiblichem Durcheinander am Boden verstreut. Leute rannten hungrigen Lastponys hinterher, Fohlen wieherten, weil sie ihre Mütter verloren hatten, Hunde bellten, Kinder lärmten auf tausenderlei Art. Man hätte glauben können, daß angesichts eines derartigen Chaos ein jeder nur noch den Wunsch verspüren sollte, Augen und Ohren zu schließen. In Wirklichkeit waren alle damit beschäftigt, ihre Arbeiten in der richtigen Reihenfolge auszuführen, so daß es nicht lange dauerte, bis alle Zelte ordentlich aufgestellt waren und ihre Bewohner am Feuer saßen. Den ganzen langen Sommertag über hatte niemand etwas gegessen, und so freute sich ein jeder auf ein warmes Mahl.

Nachdem alle satt waren und auch die kostbaren Büffelpferde mit gefülltem Magen und hängenden Köpfen an den Zelteingängen ihrer Herren warteten, war plötzlich die Donnerstimme eines Stammesausrufers zu vernehmen, deren Echo durch das Tal hallte. Er rief: »Macht euch für den morgigen Tag zur Jagd bereit! Die Kinder, die Alten und die Schwachen werden auf eure Rückkehr warten!« Alle waren froh, dies zu hören. Die Kundschafter, die am Morgen ausgesandt worden waren, hatten keine Feinde in der Nähe gefunden, dafür jedoch einzelne Büffelkuhherden mit genügend Tieren, um die unmittelbaren Bedürfnisse der Tausenden Stammesmitglieder zu decken.

An diesem Abend dachte niemand an irgendwelche Geselligkeiten. Aufgrund der Nachricht von den Büffeln in der Nähe blieb es ungewöhnlich ruhig im Lager. Nahrung war das wichtigste im Leben, und selbst wenn es sie im Überfluß gab, schätzte man sie bei den Sioux nie gering.

In der Mittagsstunde des folgenden Tages kehrten die Jäger zurück. Ihre Pferde schwankten unter der Last des frischen Fleischs. Drei Tage lang war jedes Zelt halb verborgen hinter mit von Fleisch beladenen Gerüsten. Der Anblick glich dem von an der Leine hängender Wäsche. An diesen Tagen sprudelte das Lager von fröhlichem Leben. Eine Feier folgte auf die andere. Man tanzte nahezu alle Tänze, die im Stamme bekannt waren, und dies zur gleichen Zeit. Es war wie ein einziges großes Fest, mit dem man die Wohltaten des Großen Geistes feierte. Und in wenigen Tagen würde man zu seinen Ehren den großen Sonnentanz zelebrieren. Dann würden die Krieger ihre Schwüre an ihn erfüllen, als Dank für die Segnungen, die er dem Stamm während der Wintermonate hatte zuteil werden lassen. Sie waren jetzt dafür bereit, denn der Holzwurm hatte seine volle Größe erreicht.19

Am vierten Abend, nachdem der Stamm sich im neuen Zeltgrund niedergelassen hatte, wurde Maiden Chief durch ihren seltsamen Freier überrascht, der im Nieselregen auf sie wartete. Es war bereits spät am Abend, als sie das Zelt verlassen hatte, um die Zeltklappen wegen des Regens zu schließen, der bereits seit dem frühen Morgen fiel. Geduldig hatte der Mann auf sie gewartet. Trotz der Dunkelheit erkannte sie ihn an seiner Gestalt und seiner Haltung sofort wieder. Sie fühlte, wie Angst in ihr aufstieg, als ihr die Warnung ihrer Mutter in den Sinn kam. Sie dachte einen Moment daran, der Begegnung mit ihm aus dem Weg zu gehen, indem sie sich unverzüglich ins Zelt zurückzog, ohne die Arbeit, die ihr die Mutter aufgetragen hatte, zu erledigen. Doch aus einem Grund, den sie selbst nicht verstand, bedeutete sie dem Fremden näherzukommen, was er ohne zu zögern tat. Er war genauso gekleidet wie beim letzten Mal. Maiden Chiefs rechte Hand umklammerte das Messer, das für so eine Gelegenheit bestens geeignet war. Reglos und ohne Atem stand sie da und fühlte, wie die kraftvollen Arme des Mannes sich um sie legten. Er versuchte, sie mit seinem knappen und übelriechenden Mantel vor dem Regen zu schützen. Obgleich sie insgeheim Ärger und Wut auf ihn verspürte, mußte sie sich eingestehen, daß sie ihn zugleich bewunderte und sich auf sonderbare Weise zu ihm hingezogen fühlte. Lange Zeit standen beide, ohne auch nur einen Muskel zu regen oder sich zu räuspern. Nach einer Weile, die Maiden Chief wie eine Ewigkeit vorkam, vernahm sie, wie der Mann mit einem Flüstern, das tief aus seiner Kehle zu kommen schien, langsam aber bestimmt zu ihr sagte: »Mädchen, selbst die Liebe eines Hundes wird so geschätzt, wie sie es wert ist. Wie soll ich dir je zeigen, welche Liebe ich für dich empfinde? Mädchen, mir fehlen die Worte, mit denen ich dir sagen könnte, wie weit und wie tief die Liebe ist, die ich seit langer Zeit für dich fühle.«

Maiden Chief war im Laufe der Zeit unempfindlich geworden gegenüber der Sprache der Liebe, so daß solche Worte ihr nicht den geringsten Eindruck machten. Dies war auch bei den Worten des Fremden nicht anders. Doch der große Ernst, mit dem er sie gesprochen hatte, berührte ihr Herz auf überraschende Weise. Mehr als je zuvor wollte sie wissen, wer dieser Mann sei. Sie wollte sein Gesicht sehen und seine Augen, während er diese Worte noch einmal sprach. Und anstatt auf herausfordernde und zweifelnde Weise zu antworten und ihr Gegenüber der Falschheit zu bezichtigen, hörte sie sich selbst fragen: »Wer bist du? Wo lebst du? Wohnst du bei deiner Großmutter? Antworte mir rasch!« Ihr Atem ging schnell, als diese Fragen aus ihr heraussprudelten; sie keuchte wie eine nach Luft ringende Hirschkuh.

Der Fremde lachte leise und antwortete: »Mädchen, zu deiner ersten Frage muß ich dir sagen, daß ich niemand bin und daß ich nichts anderes sein will als dein aufrichtiger Verehrer. Auf deine zweite Frage, Mädchen, muß ich dir leider antworten, daß ich nirgends lebe; ich hause in einem bescheidenen Tipi dort hinten«, sagte er, indem er zum nordöstlichen Teil des Lagers zeigte. »Mädchen, tatsächlich lebe ich seit langer Zeit nur noch bei dir«, fuhr er fort. »Und was deine letzte Frage angeht: Es tut mir leid, dir sagen zu müssen, daß meine Großmutter schon vor vielen Wintern ihre köstlichen Pemmikanpäckchen20 gepackt hat, um in die Glücklichen Jagdgründe21 aufzubrechen. Ich war damals noch ein Kind, gerade alt genug, daß ich mich noch an ihr freundliches Gesicht entsinnen kann. Aber bis heute erinnere ich mich an die wunderbaren Mahlzeiten, die sie aus ihrem Vorratsbeutel hervorzauberte.«

Die geheimnisvollen Antworten des Mannes irritierten Maiden Chief, und sie überlegte fieberhaft, wie sie dem Fremden seine Herkunft entlocken könnte. Doch schon hatte dieser wieder das Wort ergriffen: »Maiden Chief, ich danke dir, daß du mir auch an diesem Abend wieder die Gunst gewährt hast, mit dir zusammensein zu dürfen. Ich hoffe, daß du auch in naher Zukunft wieder so freundlich sein wirst, sollte ich die Möglichkeit haben, dich zu besuchen.« Kaum hatte er diese Worte gesprochen, verließ er sie auch schon, ohne sich zu verabschieden. Maiden Chief kochte vor Ärger. Doch plötzlich schoß ihr ein Gedanke in den Sinn, der sie unverzüglich zum Tipi ihres Onkels eilen ließ, das direkt neben dem Zelt ihrer Eltern stand. Kaum, daß sie eingetreten war, verlangte sie seinen Umhang. »Schnell!« rief sie. Der Onkel warf ihr einen kurzen Blick zu und erfüllte ohne zu zögern ihren Wunsch. Maiden Chief ergriff den Umhang, verließ das Zelt und entschwand in der Dunkelheit.

Ihr Onkel wußte, daß die Tochter seines Bruders ein Mädchen war, das nie närrische Dinge tat, aber er war in höchstem Maße neugierig, was sie in dieser regnerischen und pechschwarzen Nacht vorhaben möge und folgte ihr auf dem Fuße. Er war ein erfahrener Jäger, schnell und mit scharfen Sinnen. Es dauerte nicht lange, und der Onkel kehrte in sein Zelt zurück, ein breites Grinsen im Gesicht. Auf die Fragen seiner Familie erwiderte er: »Meine Nichte hat heute nacht eine wichtige Angelegenheit zu erledigen, und ich weiß nicht, ob sie Erfolg haben wird.« Die gleiche Antwort gab er Maiden Chiefs Mutter, die ihren Schwager aufsuchte, um zu sehen, ob ihre Tochter noch bei ihm weilte, wie sie geglaubt hatte. Sie hatte nämlich beobachtet, wie sie, nachdem die Gestalt des Fremden sie verlassen hatte, in das Zelt ihres Onkels geeilt war.

Maiden Chief verfolgte ihren Besucher. Sie lief leichtfüßig und flink wie ein Fuchs. Sie überlegte, daß der Mann, wenn er schnellen Schrittes gegangen war, in der Zwischenzeit einen Vorsprung von vielleicht einhundert Metern haben würde. Je mehr sie sich dem Ort näherte, an dem sie ihn daher vermutete, desto langsamer wurde sie. Tatsächlich hatte sie Entfernung und Zeit gut abgeschätzt. Sie erblickte eine schemenhafte menschliche Gestalt vor sich. Sie lief nun gerade noch so schnell, daß sie die Gestalt nicht aus dem Blick verlor. »Ich muß gewärtig sein, daß er meine Anwesenheit wahrnimmt«, dachte sie. Daraufhin raffte sie ihre Rockschöße bis zu den Knien, warf den Umhang des Onkels nach Art der Männer um und ahmte, so gut ihr das möglich war, den Gang eines Mannes nach.

Der Fremde war ein geborener Krieger, dessen Instinkte und Sinne scharf wie die der Tiere in der Wildnis waren. Seit er zwölf war, hatte ihn sein Vater auf Kriegszügen, auf der Jagd und beim Kundschaften mitgenommen. Er hatte gelernt, jedes Tier, jeden Vogel zu überlisten, wenn er auf der Jagd war. Er war in eine Welt hineingeboren worden, in der sich Tag und Nacht unbarmherzige Feinde anschleichen konnten. Immer wieder kam es vor, daß einer seiner Stammesgenossen in der Nacht direkt vor dem eigenen Zelt niedergestochen wurde. In der Welt, in der der seltsame Freier von Maiden Chief lebte, war zu jener Zeit kein Mann seines Lebens sicher.

Seit seiner Kindheit war er es gewohnt, ständig auf der Hut zu sein. Diese Angewohnheit war ihm zur zweiten Natur geworden. Seine Vorsicht war so ausgeprägt, daß es sogar fast unmöglich gewesen wäre, ihn von hinten zu erschießen. Nachdem er an diesem Abend die Frau, die er liebte, verlassen hatte, spähte er ungeachtet seines traurigen und schweren Herzens und seines aufgewühlten Geistes unaufhörlich in die Dunkelheit, ohne sich dessen bewußt zu sein. Immer wieder duckte er sich tief und versuchte, ungewohnte Geräusche oder Dinge auszumachen. Doch während all dieser Vorsichtsmaßnahmen ging ihm beständig ein quälender Gedanke durch den Kopf: »Wird sie mich je lieben?« Kein anderer Gedanke hatte Raum in seinem ganzen Wesen. – Der Mann hatte schließlich bemerkt, daß Maiden Chief ihm folgte, natürlich ohne zu ahnen oder es auch nur für möglich zu halten, daß sie es sein könnte. Beständig gab er nun auf seinen Verfolger acht, wobei er seine Geschwindigkeit jedoch nicht im geringsten veränderte. Der Abstand zwischen ihnen blieb gleich. Er beschleunigte seinen Schritt, und auch der Verfolger lief schneller. Um sich zu vergewissern, rannte der Mann ein Stück und nahm sogleich wieder eine langsamere Gangart ein. Da die unbekannte Person sich noch immer im gleichen Abstand zu ihm befand, bestand kein Zweifel mehr, daß sie ihn absichtlich verfolgte. Er erinnerte sich an frische tiefe Büffelspuren, die in der Nähe seinen Weg kreuzten und eilte zu ihnen hin. Er lief ein paar Schritte zur Seite und ließ sich zu Boden fallen, direkt in die Furche hinein, die die Büffelherde auf ihrem Weg hinterlassen hatte.

Es dauerte nicht lange, und die schemenhafte Gestalt des Verfolgers wurde sichtbar und kam rasch näher. Jetzt konnte er schon die Beine des vermeintlichen Mannes, der mit großen Schritten voraneilte, erkennen. Er lag mit dem Finger am Abzug in Bereitschaft. Als Maiden Chief bei der Büffelfährte angelangt war, blieb sie, nicht mehr als vier Schritte von ihm entfernt, stehen, als würde sie die Gefahr wittern. In dem Augenblick, als sie wieder nach vorn schaute und weitergehen wollte, sprang der Mann auf und fragte sie laut nach ihrem Namen. »Hau!« rief sie.22 Erneut fragte der Fremde: »Nitúwe hwo?« – »Wer bist du?« während sein Gewehr auf den Körper seines Gegenüber zielte.

Maiden Chief hatte dergleichen erwartet, denn durch sein Verhalten hatte der Fremde verraten, daß er seine Verfolgerin entdeckt hatte. Sie hätte nicht geglaubt, daß sie trotzdem so tief erschrecken würde. Doch einen Augenblick später hatte Maiden Chief die Kontrolle über sich wiedergewonnen und vermochte auf die Frage des Mannes zu antworten. Mit verstellter Stimme sagte sie: »Du hast mich erschreckt, Freund. Ich habe versucht, dich einzuholen, um dich zu bitten, mir den Weg zum Tipi von Charging Hawk zu zeigen. Soviel ich weiß, befindet es sich in diesem Abschnitt.«

 

»Folge mir«, war alles, was der Fremde erwiderte.

Große Tropfen kalten Schweißes rannen Maiden Chief von der Stirn, als sie dem Mann folgte. Dieses Abenteuer war fast über ihre Kräfte gegangen. Es war nicht leicht gewesen, den Anblick des auf sie zielenden Gewehrs zu ertragen. Noch schlimmer aber war die Frage des Fremden, wer sie sei, gewesen. Sie hatte nicht darauf geantwortet, da sie es nicht wagte, irgendeinen Namen zu nennen, denn der Mann hätte die Person, als die sie sich ausgab, kennen können. Etwas, was sie ihr Lebtag nicht vergessen würde, war die Anstrengung, während ihrer langen Antwort, mit der sie den Fremden zu beschwichtigen versuchte, beständig die Stimme eines Mannes zu imitieren. Es war ihr großes Glück, daß sie Charging Hawk, einen engen Freund ihres Vaters, kannte, dessen Tipi stets im nordöstlichen Abschnitt der Zeltlager der Oglala stand. Sie dankte den Göttern, daß sie den Fremden davon abhielten, sich mit ihr zu unterhalten, während er sie zu dem Tipi führte.

Der Mann hielt etwa 25 Meter von einer Reihe Zelte entfernt an, wies auf eines davon und sagte, daß dies das gesuchte Tipi sei. Er wandte sich auf der Stelle um und verließ sie. Maiden Chief bückte sich und tat so, als würde sie die Bänder ihrer Mokassins festziehen, während sie den Fremden beobachtete, der schnellen Schrittes zu einem großen Zelt ging, das in der Nähe stand. In dem Moment, da er es betrat, sprang sie auf die Füße und eilte ebenfalls dorthin. Wenige Augenblicke später lugte sie bereits durch eine schmale Öffnung in der Tür ins Innere. Das erste, was sie zu Gesicht bekam, waren die beiden schönsten Mädchen, die sie in ihrem Leben je gesehen hatte. Sie saßen am gegenüberliegenden Ende des Tipis. Die beiden waren einander dermaßen ähnlich, daß kein Zweifel daran bestand, daß es sich um Zwillinge handelte. Die Anmut dieser Mädchen und die Schönheit der Einrichtungsgegenstände, die sich in ihrer Nähe befanden, waren so bezaubernd, daß sie den Blick nicht abwenden konnte. Eine Zeitlang vergaß sie sogar die Gefahr, entdeckt zu werden, und selbst den Wunsch, so schnell wie möglich das Gesicht des Mannes zu erblicken, der ihre schreckliche Verwirrung verursacht hatte.

Der Boden, auf dem die Mädchen saßen, war mit samtig glänzenden Büffelfellen bedeckt. Auf einer Seite lag ein Stapel ordentlich gefalteter Decken mit kunstvoll gearbeiteten Umrandungen. Daneben befand sich ein Stapel äußerst schön verzierter Hirschfellkissen. An der Zeltwand dieses Teils des Tipis erblickte Maiden Chief Lederbehälter und lederne Kleiderkoffer, die mit Malereien geschmückt waren und an deren Rändern Muscheln und Metallstücken hingen, die, wenn sie bewegt wurden, wie Glöckchen klingen würden. Jeder Gegenstand, der die Mädchen umgab, erfreute das Auge. Die Kleidungsstücke, Messerscheiden, Mokassins, Leggings, Haarbänder und der Schmuck, der am Kopf- und am Fußende der Bettgestelle hing, zählten zum Schönsten, was sie je in den Heimen selbst der höchsten Würdenträger ihres Stammes gesehen hatte. Nachdem sie ihre Augen an all dieser Pracht gelabt hatte, blickte sie noch einmal voll Bewunderung die Zwillinge an. Ein Gedanke kam ihr in den Sinn, der sie endlich dazu brachte, den Blick abzuwenden und nach dem Fremden zu suchen: »Könnte es sein, daß diese Zwillingsschwestern die Frauen meines verkleideten Freiers sind?« Im rechten Teil des Tipis entdeckte sie eine gutaussehende, gepflegt wirkende Frau mittleren Alters, die gerade ein kaltes Mahl zubereitete. Die Frau hatte einen angenehm ruhigen Blick, und ihre Gesichtszüge ließen deutlich erkennen, daß sie die Mutter dieser Zwillinge war. Sie wandte sich zur Seite und sprach offensichtlich mit dem Mann, dem Maiden Chief gefolgt war und der sich anscheinend im linken Teil des Zeltes aufhielt. Sie sagte: »Sohn, du beschämst deine Schwestern außerordentlich, wenn du diese alten, übelriechenden Sachen in der Öffentlichkeit anziehst. Ich werde sie morgen verbrennen, so daß du sie nicht mehr tragen kannst. Ich verstehe dein Verhalten nicht, Sohn.«

Rasch wandte Maiden Chief den Kopf, um endlich jenen zu sehen, dessentwegen sie gekommen war. Sein Anblick raubte ihr nahezu die Sinne, ließ ihren Verstand aussetzen. Sie hätte es nie im Leben für möglich gehalten, daß ein sterblicher Mann das besitzen konnte, was dieser Fremde besaß – Schönheit in Vollendung; er war die brennende Liebe in Person. Sein Anblick war von hypnotischer Kraft und unwiderstehlich anziehend. Maiden Chief war auf der Stelle unsterblich verliebt. Sie beobachtete ihn, wie er seine Lumpen ablegte, um sich wieder anzukleiden. Für einen Augenblick war er nackt vom Kopf bis zu den Füßen. Sein Körper war anmutig und voll Kraft. Sie sah, wie er Stück für Stück seine Kleidung anlegte, die Teil seiner selbst zu sein schien. Sie schaute ihm zu, wie er sein langes Haar pflegte und es zu Zöpfen flocht, die er mit schimmerndem Otterfell zusammenband. Die Stirnhaare kämmte er zurück und befestigte sie geschickt mit einer Rosette aus weißen Muscheln am Scheitel seines edlen Kopfes. Die winzigen Muschelohrringe, die er an den Ohren anbrachte, zitterten wie lebendige kleine Monde, sobald sie frei herabhingen. Jede Bewegung dieses Mannes bezauberte Maiden Chief, für die in diesem Moment nichts mehr wichtig war. Was konnten ihr denn all die moralischen Ideale geben, mit denen sie aufgewachsen war, im Vergleich zu diesem Anblick? Selbstachtung, Stolz und Ehre waren doch nichts weiter als närrischer, hohler Glaube. Nein, für Maiden Chief zählte überhaupt nichts mehr. Sie gehörte nur noch diesem Mann, von dem sie den Blick nicht abzuwenden vermochte.

Endlich schloß sie die Augen und zog sich mit großer Langsamkeit zurück. Sie machte zwei Schritte zur Seite und blieb wieder stehen, still und reglos wie ein Stein, ohne sich ihrer Umgebung auch nur im geringsten bewußt zu sein. Sie hielt sich die Augen zu, um zu versuchen, die mesmerisierende Vision zu zerstören, aber es war vergeblich: Das schöne Bild blieb bestehen. Wie ein stummer Schrei hallte es in ihrem Innern: »Ich werde hineingehen, mich ihm zu Füßen werfen und ihm meinen Körper und meine Seele anbieten. Er hat mir ja seine Liebe gestanden. Ich habe doch nichts zu verlieren und alles zu gewinnen, denn er liebt mich. Manch ein Mädchen hat so etwas schon getan und hat es letztendlich nicht bereut. Ich werde das gleiche tun!«

Sie sah sich selbst, wie sie mit ausgebreiteten Armen in das Tipi stürmte, sich dem Mann in die Arme warf und Tränen des Glücks vergoß, wie sie seine Augen, Wangen, Nase und Lippen küßte. Sie fühlte, wie seine kraftvollen Arme sie umschlangen, wie er ihr Antlitz mit Küssen übersäte, wie sie gemeinsam niedersanken. Ganz leise und doch in aller Deutlichkeit vernahm sie wieder seine Worte: »Seit langer, langer Zeit liebe ich dich schon.«

Wie in Trance stand sie beim Eingang des Tipis des verkleideten Freiers und führte einen kaum zu ertragenden Kampf gegen ihr Verlangen. Die große Stärke ihres Charakters und etwas Unbekanntes in ihr hielten sie letztendlich davon ab, den Forderungen der lauten Stimme in ihrem Innern Folge zu leisten.

Wie ein einsamer, elender Geist schlich Maiden Chief vom Tipi fort. Zu jedem einzelnen Schritt mußte sie sich zwingen. Hinweg von dem Ort einer Versuchung, die mit aller Macht und Herrlichkeit auf sie eingestürmt war. Dieselbe Gottheit, die schon die Instinkte manch einer reinen, starken Frau geleitet hatte, führte sie in dieser pechschwarzen Nacht zu ihrem heimischen Tipi zurück. Ohne zu wissen, was sie tat, wich sie unmittelbar vor dem Zelt von ihrem Weg ab und ging daran vorüber. Das wilde Schnauben War Crys ließ sie zusammenzucken, als hätte eine Gewehrkugel sie getroffen. Doch sie hielt nicht inne und lief weiter und weiter. Daß ihre Mutter sie gesehen hatte und ihr folgte, ahnte sie nicht. Hilflos wie ein verwundeter Büffel, der jeden Augenblick taumelnd zusammenzubrechen drohte, setzte sie ihren Weg fort. Schließlich versperrte ihr ein 30 Meter hoher Steilhang aus Mergel und Ton den Weg. Sie ließ sich auf einen Erdhaufen niedersinken und schluchzte bitterlich. Ein herumstreifendes Kojoteweibchen hörte ihr Klagen und bellte sie vom oberen Rand des Hanges herab an. Doch Maiden Chief vernahm weder das Bellen des Kojoten noch spürte sie die Hand, die sich plötzlich leicht auf ihre Schulter legte. Sie weinte unaufhörlich. Ihr Schluchzen klang wie die Musik fallenden Wassers, ein zitternder, auf- und absteigender Klang. Erst, als ihre Mutter sie zum dritten Mal sanft an der Schulter rüttelte und sie ansprach, setzte Maiden Chief sich auf und hörte auf zu weinen.