Das große Littlejohn-Kompendium

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Es ist klar, dass Fieber nicht nur eine erhöhte Temperatur bezeichnet, sondern vielmehr einen systemischen Zustand, erkennbar am Temperaturanstieg, an der Zunahme kardialer und arterieller Pulsaktivität, an einem verstärkten katabolischen Gewebestoffwechsel sowie an einer aus der Ordnung geratenen Sekretion. All diese Zeichen oder Symptome hängen von der Unordnung des Wärmeregulationsmechanismus und anderer funktioneller Zentren des Körperprozesses ab, die durch entzündliche, traumatische oder septische Einflüsse bzw. deren Produkte hervorgerufen werden. Auf welche Weise auch immer, ins Blut gelangte septische oder toxische Stoffe sind die Hauptursachen von Fieberzuständen. Bei der Verzögerung des Blutflusses gerät das Blut schließlich in einen statischen Zustand, das dynamische Prinzip geht verloren und das Blut devitalisiert und wird toxisch. So eine Stase als Ergebnis einer Verletzung, einer mechanischen Läsion oder einer Störung der vasomotorischen Einflüsse, die den Blutfluss regulieren, kann lokal oder generalisiert auftreten. Handelt es sich um eine leichte Form eines solchen Zustands, mag die Vitalität noch ausreichen, um ihn zu überwinden, sodass sich kein Fieberzustand entwickeln kann. Genügt jedoch die Störung, um die Funktion derart zu verändern, dass es zu einer Stase kommt oder auf reflektorischem Weg die kardialen, respiratorischen, sekretorischen oder metabolischen Funktionen verändert werden, dann gelangen toxische Elemente ins Blut und durch den Blutkreislauf zu den Gehirnzentren. Der Blutdruck verändert sich und die Blutverteilung gerät durcheinander, sodass die oberflächlichen und kleineren Gefäße dilatieren und größeres Quantum erhalten als normal. Die Dilatation dieser Oberflächengefäße impliziert einen inhibierenden Einfluss auf die kontraktile Funktion, sodass die elastische Tendenz der Fasern in diesen Oberflächengefäßen von der Tendenz zu dilatieren überwältigt wird, was zu einer Hyperämie an der Oberfläche führt. Daraus entstehen eine lokale Stauung und ein Verlust an Vasotonizität, was wiederum ihrerseits die gesamte Zirkulation, das Nervensystem und die davon abhängigen Funktionen betrifft. Das Ausmaß dieser Störungen wird dann abhängig von der Differenzialdiagnose der verschiedenen Fiebertypen bestimmt.



Ist der

Temperaturanstieg

 physiologisch oder pathologisch? Ich glaube, er ist

physiologisch

. Leben ist der Kampf um Existenz. Wird der Körper durch Krankheit, Trauma usf. in Erregung versetzt, gerät der normale Wärmeregulationsmechanismus in Unordnung – und zwar durch den Versuch, toxische Stoffe auszuscheiden. Bei normaler Gesundheit hält dieser thermotaktische Mechanismus die Körpertemperatur innerhalb normaler Grenzen, weil der menschliche Körper einen selbstregulierenden Mechanismus repräsentiert. Sobald jedoch toxische Elemente das Körpergleichgewicht zu stören beginnen, versucht der Körper, sich selbst auf dem höchstmöglichen Standard zu halten. Mithin kommt es von der physiologische Seite her zu einer Zunahme des Stoffwechsels. Ein Beweis für diesen Vorgang ist die Tatsache, dass man den Körper unter bestimmten Umständen an diese verstärkte Stoffwechselaktivität und die entsprechend erhöhte Temperatur anpassen und es ihm somit ermöglichen kann, die Krankheit innerhalb der Grenzen der Körpervitalität zu bekämpfen.



Die Temperatur kann jedoch pathologisch werden und eine exzessive Temperatur führt zu Wärmestarre. Todesursachen sind in diesem Fall die Koagulation der Muskelsubstanz und die exzessive Verstärkung des Stoffwechsels bis zum Punkt der Zerstörung, erkennbar an beschleunigtem Herzschlag, Dyspnoe und an den rapiden Veränderungen im Nervengewebe des Gehirns, die zu Koma, Bewusstseinsverlust sowie zum Verlust der Kontrolle über die Körperfunktionen im Allgemeinen führen. Unmittelbar nach der thermogenen Muskelstarre kann jede der z. B. im Blut oder am Herzen hervorgerufenen pathologischen Veränderungen zur Todesursache werden.



Ist

Fieber

 physiologisch oder pathologisch? Es ist

pathologisch

, weil es die Summe einer Reihe von Zuständen darstellt, die erhöhte Temperatur, verstärkte Gewebedesintegration, beschleunigte Herztätigkeit oder verstärkte arterielle und sekretorische Aktivität mit einschließen. Miteinander kombiniert, bilden sie jene Summe an Kräften, die einer Integrität des Lebens und der vitalen Körperprozesse entgegenwirkt.



Im Lichte der Entdeckung thermogener und thermolytischer Zentren erscheint Fieber als pathologische Folge einer Reihe primärer und sekundärer Ursachen. Dazu gehören als primäre Ursachen u. a. Läsionen, Traumata, Behinderungen und als sekundäre Ursachen aktive Bakterien und ihre Produkte, wobei die giftige Substanz die Zentren zu vermehrter Aktivität stimuliert.

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 Die Ergebnisse sind u. a. erhöhte Temperatur, beschleunigter Herzschlag, beschleunigte Atmung und beschleunigter Stoffwechsel. Experimente haben gezeigt, dass bakterielle Produkte künstlich Fieber erzeugen, wenn Gehirn und Rückenmark intakt bleiben. Ist dagegen das Gehirn hingegen abgetrennt, findet keine derartige künstliche Produktion statt. Bei künstlich hervorgerufenem Fieber zeigt sich sogar dann eine markante Erhöhung des respiratorischen Austausches von Sauerstoff und Kohlendioxid, wenn Anstrengungen unternommen werden, die Temperatur zu kontrollieren. Dies scheint zu beweisen, dass verstärkte Stoffwechselaktivität eines der Hauptphänomene bei Fieberzuständen bezeichnet.



Offenbar ist die erhöhte Temperatur also kein primärer Faktor im pathologischen Fieberzustand, sondern ein Symptom des verstärkten Stoffwechsels. Als solche repräsentiert sie den Versuch des Wärmeregulationsmechanismus, sich selbst zu schützen. Die Zunahme an Wärme entsteht dabei eher als ein Heilmittel, um die Bakterien oder ihre Produkte zu zerstören. Die günstigste Temperatur für die Keimentwicklung liegt etwas oberhalb der Körpertemperatur, bei 37,5° Celsius. Das Wachstum von Diphtherie- und Typhusfieberbazillen verzögert sich, sobald die Temperatur 38° Celsius übersteigt. Im Typhuskeim ist bei dieser Temperatur die Fermentation von Zuckersubstanzen unmöglich. Der Varizellen-Zoster-Keim kann durch den Einfluss einer Wärme von mehr als 39,4° Celsius zerstört werden. Pneumokokken schwächt eine Temperatur von 41° Celsius. In diesen Fällen stellt die Temperaturerhöhung also einen physiologischen Zustand oder den Versuch der Natur dar, sich gegen die Keimwirkung zu immunisieren.



Klemperer zufolge dient die erhöhte Temperatur aber noch einem anderen Zweck. Die Produkte der Bakterien oder der bakteriellen Aktivität haben auf die Gewebe einen immunisierenden Einfluss, der sich bei einer Temperatur von 40,5° Celsius verstärkt. In einer Reihe von Experimenten wurde das Serum von Tieren, die man durch künstliche Mittel immunisiert hatte, anderen Tieren mit einer Temperatur von 41° Celsius injiziert mit dem Ergebnis, dass die Temperatur innerhalb von 24 Stunden auf 37,5° Celsius sank. Demzufolge stellt die Pneumoniekrise jenen Punkt dar, an dem sich die von den Pneumokokken produzierten Toxine in solchen Mengen im Blutkreislauf befinden, dass sie in den Geweben Reaktionsprozesse auslösen, die ihrerseits genug antitoxische Stoffe erzeugen, um der Aktivität der Giftsubstanzen entgegenwirken zu können. Das Pneumotoxin oder das bakterielle Produkt ist die Ursache der Krankheit

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 und erzeugt die erhöhte Temperatur. Das Antitoxin in Form einer in den Zellen gebildeten Proteinverbindung löst die Gegenwirkung gegen die Krankheit und die Reaktion zugunsten der Zerstörung der Pneumokokken aus. Dies zeigt, wie mir scheint, sehr deutlich, dass es möglich ist, durch reaktive, in den Gewebezellen – seien es nun Leukozyten oder tatsächliche Gewebezellen – bewirkte Veränderungen Immunität im Körpergewebe aufzubauen. In diesem Existenzkampf zwischen Bazillen und Gewebezellen wird die Produktion reaktiver Veränderungen, dank derer die Gewebezellen Proteine generieren, die wiederum die bakteriellen Gifte zerstören können, offenbar entscheidend von der Temperatur beeinflusst. Hier scheinen sich im Blutplasma bestimmte Substanzen zu befinden, welche die Bakterien, wenn sie mit ihnen in Kontakt kommen, lethargisch machen und in Verbindung mit den Produkten der Bakterien die von den Bazillen hervorgebrachten giftigen Substanzen neutralisieren.



Gelingt es der osteopathischen Behandlung, diese Aktivitäten durch das Nervensystem und das Blut zu stimulieren, während die erhöhte Temperatur ihre Rolle im Heilungsprozess der Natur spielt, haben wir gewiss ein mächtiges therapeutisches Mittel, um Fieberzuständen zu begegnen. In diesem Zustand besteht die wahre osteopathische Therapie in dem Versuch, die normale regulierende Funktion des thermotaktischen Mechanismus durch das Gehirn und die spinalen Zentren sowie über die Blutzufuhr und die Zirkulation wiederherzustellen. Sofern unsere Feststellungen physiologisch korrekt sind, ist die Behandlung im zervikalen Bereich zum Zwecke der Temperatursenkung die geeignete Vorgehensweise, insofern wir es lediglich mit erhöhter Temperatur zu tun haben. Handelt es sich dagegen um einen Fieberzustand, ist diese Methode kontraindiziert – es sei denn, sie dient nur als Hilfsmittel, um bei der Regulierung der Vasomotion zu unterstützen oder die Temperatur unter dem Gefahrenpunkt zu halten. Die Wärmezentren befinden sich im zervikalen Bereich und in der Medulla oblongata sowie in den basalen Anteilen des Gehirns. Der Versuch, sie direkt zu beeinflussen, hieße einen symptomatischen Zustand behandeln, während die Ursache – die jeweils vom Fiebertyp abhängt – unberührt bleibt.



Aus therapeutischer Sicht muss die Behandlung folgendermaßen aussehen: Beseitigung der Ursache oder der Ursachen sowie Erleichterung und Reduktion des Fieberzustandes in kontrollierbare Grenzen durch Regulation von Temperatur, Vasomotion, Zirkulation usf. Die Praxis der Medizin und der Osteopathie neigen dazu, sich lediglich mit Letzterem zu befassen. Zu den alten Praktiken der Medizin gehörte es, den Aderlass anzuwenden, um die Temperatur zu senken. Später nahm man dann zu purgativen, diaphoretischen und diuretischen Mitteln Zuflucht, um den vermehrten Abfall zu entfernen und die freie Gewebetätigkeit zu unterstützen – vor allem die Transpiration der Hautund Oberflächengewebe. Man führte Kaltwasseranwendungen durch, indem man den Patienten mehrmals in ein kaltes Bad setzte, um dem Körper Wärme zu entziehen und dadurch die Temperatur zu senken. Manche applizierten Alkohol in der Absicht, die Wärmeabstrahlung vom Körper zu fördern. Andere wiederum haben die Transpiration stimuliert, um die Schweißmenge zu erhöhen und auf diese Weise Wärme durch Verdampfung abzutransportieren.

 



Bei der Wirkung fiebersenkender Medikamente stellen wir Variationen fest. Chinin verwendete man in großen Dosen, um die erhöhte Temperatur zu blockieren. Es beeinflusst direkt die wärmeproduzierenden Gewebe. Eisenhut wurde benutzt, um die Fiebertemperatur aufgrund seiner sedierenden Wirkung auf die Zirkulation zu blockieren und auf diese Weise dem Fieber entgegenzuwirken. Eisenhut nützt aber nichts und erweist sich im Gegenteil bei Fällen wie Pneumonie, wo eine Krise zu erwarten ist, sogar als kontraindiziert, weil er dem, was die medikamentöse Behandlungsmethode hauptsächlich bezweckt – nämlich Aufrechterhaltung der Konstitution und Unterstützung der physischen Kraft, bis die Krise sich nähert – entgegenwirkt. Die therapeutische Wirkung von Eisenhut soll angeblich direkt auf den Herzmuskel zielen und so den Blutdruck senken, sowie auf die Respirationsmuskeln und dadurch die Atmungsaktivität vermindern. Man nimmt auch an, dass es bei Verabreichung von Eisenhut aufgrund der mit dem größeren Blutangebot in den entspannten Kapillaren zusammenhängenden verstärkten Wärmeabstrahlung zu einem Temperaturrückgang kommt, wozu auch Verdampfung bei der Dilatation der Kapillaren im Bereich der Schweißdrüsen beiträgt.



Aus osteopathischer Sicht befassen wir uns beim Behandeln von Fieber mit Leben, das den Existenzkampf und die vitalen Prozesse mit einschließt. Bei Temperaturerhöhung erfolgt ein rapider Schwund an Gewebesubstanz. Dies stört das Gleichgewicht der Funktionen – und nahezu alles kann diese Störung in Form von Unordnung, Krankheit, Gift, Blutstagnation usf. auslösen. Diese Funktionsstörung wird durch das Nervensystem zu den Gehirnzentren kommuniziert, denn alle vitalen Zentren befinden sich nahe beieinander und in Verbindung miteinander. Sobald das Gleichgewicht dieser Zentren aufgrund der Toxine im Blut kippt, werden die Zentren irritiert, woraus dann u. a. das Herz, den Puls und die Atmung betreffende Phänomene folgen. Wie sollen wir diesen Zustand beheben? Suchen Sie nach der primären Ursache über die Bestimmung der Fiebertypen. Versuchen Sie, die Produktion der toxischen Elemente einzuschränken, die das Blut vergiften und die anomale Aktivität der vitalen Zentren verursachen. Stellen Sie im betroffenen Bereich die normalen nutritiven Zustände wieder her, indem Sie die Knochen-, Muskel-, Nerven- und Blutbeschaffenheit so anpassen, dass sie wieder zur angemessenen Ernährung des betroffenen Teils beitragen. Halten Sie die ständige Zirkulation reinen Blutes aufrecht – und damit ist nicht nur das arterielle, sondern auch das venöse Blut gemeint, denn wenn das venöse Blut rein und normal ist, kann beispielsweise der Diphtheriebazillus nicht in ihm gedeihen. Die spezielle Anwendung dieser allgemeinen Punkte auf die Fiebertypen ist einfach, sobald eine physische Diagnose der Fieberursache erstellt wurde.



Wir fassen zusammen, dass eine erhöhte Temperatur physiologisch ist. Hinter dieser Fiebertemperatur finden wir eine Kette von Zuständen: Irritation der Nervenzentren, toxische Elemente, Blutstauung, Bakterien, Traumata oder Läsionen. Beim Versuch, die fiebrige Störung zu behandeln, die stets mehr oder weniger weit über den Organismus verbreitet ist, müssen wir die Läsionen entfernen, das Traumata heilen, die Bakterien töten, ihren Produkten entgegenwirken und auf diese Weise das Element des Missklangs eliminieren, das in die Nervenökonomie des Friedens, der Koordination und der Harmonie eingebrochen ist. Am erfolgreichsten kann dies die Osteopathie vollbringen.








ABB. 14: FAKULTÄT DER A.S.O. (1899)



Der wohl berühmteste Fakultätsjahrgang in der Geschichte der Osteopathie. In der oberen Hälfte finden Sie die nicht-akademischen Anhänger Stills ,reiner Lehre‘, die sogenannten

 lesionists

, allen voran mit Arthur Hildreth (oben, 2. v.r.) und Stills Söhne Herman und Harry (2. Reihe) und in der unteren Hälfte sieht man die Akademiker, angeführt von John Martin Littlejohn (untere Reihe, 2. v.l.), seinen beiden Brüdern (unten, 2. v.r. und vorletzte Reihe rechts) und dem Arzt William Smith (vorletzte Reihe, links). Die Akademiker vertraten die Ansicht, dass die Osteopathie sich auch anderen Methoden öffnen müsse, solange sie den osteopathischen Prinzipien entsprächen, und wurden daher

 broadists

genannt. Der Streit eskalierte, als John Martin Littlejohn zum Präsidenten der A.S.O. gewählt wurde. Schon bald darauf verließen die Littlejohns Kirksville im Jahre 1900 und gründeten das

 Chicago School of Osteopathy

. A. T. Still hielt sich aus diesem Streit heraus und zwischen ihm und Littlejohn gab es in jener Zeit auch keine nachweisbaren Differenzen. Beide gingen stets respektvoll miteinander um.





B. Die Zeit in Chicago (1900–1912)



CHICAGO SCHOOL OF OSTEOPATHY








ABB. B: THE JOURNAL OF SCIENCE OF OSTEOPATHY (CHICAGO)





8. OSTEOPATHIE ALS SCHULE DER MEDIZIN



The Journal of the Science of Osteopathy

 (1)

, 1900, S. 53–58.



Dr. George F. Shrady im

Medical Record

, New York, eine ganze Reihe von Leitartikeln über die Osteopathie geschrieben. Offenbar durchläuft dieses Thema in seinem Geist die Stadien der Evolution. Es fängt damit an, dass die Osteopathie

„ ein Mischmasch aus Unsinn“

 gewesen sei. Dann wurde sie zu Massage und jetzt gilt sie als voll ausgereifte Praktik der Medizin. Dieser Positionswechsel wird allerdings nur vorgenommen, um sich gegen die Osteopathie zu stellen und sie zu bekämpfen:

Betrug, Scharlatanerie, Unwissenheit

 und

Dummheit

 scheinen bei der Beschreibung Synonyme für diese neue Entwicklung zu sein.



In der Hauptsache teilen wir Dr. Shradys Einschätzung der osteopathischen Position, wobei wir allerdings seine als verächtliche Beiwörter verwendeten Adjektive und Substantive eliminieren.



„Ein Osteopath gibt vor, durch manuelle Mittel viele Arten von Krankheit zu diagnostizieren und zu behandeln, und unterwirft sich nicht der Beschränkung, unter jemand anderem zu arbeiten.“



Der Masseur praktiziert unter der Leitung und unter dem moralischen und rechtlichen Patronat eines regulären Arztes. Und Dr. Shrady scheint der Meinung zu sein, der Osteopath solle es auch so halten. Er glaubt offensichtlich, das Praktizieren von Medizin bestehe



„ im Aufstellen einer Diagnose und im Verschreiben einer Behandlung.“

 Und weiter:

„Wir sollten auf jeden Fall sicherzustellen versuchen, dass jeder, der vorgibt, auf seine eigene Verantwortung und Initiative hin einen Kranken oder Verletzten auf irgendeine Weise zu behandeln oder ihm etwas zu verschreiben, dazu gezwungen wird, einen bestimmten Wissensstandard in Fächern wie Anatomie, Physiologie und Geburtshilfe zu erreichen, welches Therapiesystem er auch immer vertritt.“



So sieht es das Gesetz in Illinois vor, das zwischen Behandlung mit und ohne innere Medikation unterscheidet. Es geht aber noch nicht weit genug. Obgleich es anerkennt, dass Krankheiten auch mit einer nicht-medikamentösen Methode geheilt werden können, diskriminiert es zugunsten der Medikamentenmethode. Wir halten das für illegal bzw. für verfassungswidrig. Beseitigen Sie diesen Fehler, und das Gesetz von Illinois ist perfekt.



Dr. Shrady konzediert offensichtlich, dass es verschiedene therapeutische Systeme geben kann. Dies gesteht auch die Osteopathie zu. Ihr Ziel ist es nicht, dass Allopathen oder Homöopathen per Gesetz

aus

geschlossen, sondern vielmehr dass Osteopathen per Gesetz

ein

geschlossen werden. Das osteopathische System ist unabhängig und unverwechselbar. Wie schon unsere Definition verdeutlicht, schließt die osteopathische Schule alles ein, was gemeinhin auch zum Praktizieren von Medizin gehört, nämlich Diagnose, Therapie und Chirurgie.

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 Und diese bilden zusammen die drei Faktoren eines neuen und eigenständigen Heilungssystems. Was erbeten wird, ist ein freies und offenes Feld mit dem gleichen Qualifikationsstandard wie die anderen Schulen der Medizin und Chirurgie. Das Gesetz von Illinois macht die Osteopathie aber zu einer Unterabteilung der Medizin, wie es etwa auch Medikamententherapie und Geburtshilfepraxis sind, und das ist es mit Sicherheit nicht, was wir als unser verfassungsmäßiges Recht einfordern. Die Verfassung der verschiedenen Staaten garantiert, dass es keinerlei Diskriminierung unter den verschiedenen Schulen oder Systemen des Heilens geben darf. Wir hoffen, dass Dr. Shrady bei dem Versuch mithelfen wird, dieses Ergebnis zu erreichen, das nicht mehr ist als das nackte Minimum an Gerechtigkeit. Es wird keinerlei Vergünstigung erbeten, sondern einfach nur das, was rechtens ist. Die Wissenschaft wird nicht untergehen.



Einer unserer Abonnenten fragt:

„Ist Ihre Anschauung von Medizin nicht neu?“

 Er meint damit natürlich unsere Anschauung, dass Medizin nicht gleichzusetzen ist mit Medikamenten, sondern dass jede Form von Behandlung Medizin ist. Hier die Meinung von Richerand, Professor der Medizin an der Universität von Paris und Chefchirurg am dortigen St.-Louis-Krankenhaus, in einem 1811 veröffentlichten Werk:



„Medizin, die von einigen als die Kunst des Heilens, von anderen richtiger als die Kunst der Behandlung von Krankheiten bezeichnet wird, kann man definieren als jene Kunst, mit der sich Gesundheit erhalten und Krankheit heilen bzw. erträglicher machen lässt. Die Medizin wird in allen ihren Teilen durch die Physiologie erhellt und kann keinen sichereren Führer haben. Infolge einer Missachtung dieses viel versprechenden Führers blieben Therapie und Materia medica lange im Nebel von Konjekturen und Hypothesen gefangen. Ärzte sollten nie auch nur für einen Augenblick vergessen, dass sehr viele Krankheiten in einer Unordnung der vitalen Funktionen bestehen, und all ihre Anstrengungen darauf richten, Sensibilität und Kontraktilität in ihre natürlichen Zustände zurückzubringen.“



Dr. De Lys, der Richerands Werk ins Englische übersetzt hat, kommentiert diese Aussage in einer Fußnote zur 1819 erschienenen dritten Auflage der Übersetzung so:



„Alle Krankheiten bestehen in physischer Unordnung wie Auflösung der Kontinuität, Dislozierung, organische Veränderungen – beispielsweise Polypen, Aneurysmen und andere Leiden, die sich aus einem organischen Leiden und aus der Strukturveränderung ergeben – oder auch in vitalen Läsionen wie Fieber, Ataxie usf.“



Richerand spricht an anderer Stelle von



„ Synergien oder aggregierten Bewegungen, die auf ein Ziel zulaufen und sich aus den Gesetzen der Sympathie erhegen.“



Sie erzeugen, wie er sagt, allgemeine Krankheiten und die meisten lokalen Krankheiten.





„Durch sie und durch diese Art organischen Aufruhrs kämpft die Natur erfolgreich und befreit sich selbst von dem krankheitserregenden Prinzip bzw. von der Ursache der Krankheit; und die Kunst, diese Vorgänge anzuregen und zu leiten, liefert das Material für die bedeutendsten Lehren der Praxis der Medizin. Ich habe die Begriffe ,leiten‘ und ,anregen‘ verwendet, weil man die Intensität und Kraft dieser Bewegungen manchmal verstärken, manchmal abschwächen, und manchmal auch anregen muss, wenn die Natur, von Krankheit überwältigt, nahezu reaktionsunfähig ist. Dieser letzte Umstand gehört zu den Krankheiten der gefährlichsten Art, sofern wir jene mit einschließen, bei denen die Anstrengungen der Natur, obwohl sie sich durch einen gewissen Grad an Energie auszeichnen, ohne Verbindung oder Zustimmung sind und in ihrem Verlangen nach Kohärenz enttäuscht werden Leben besteht in der Wirkung von Stimuli auf die vitalen Kräfte.“



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Besser kann man sie nicht ausdrücken, jene Anschauung von Medizin, die wir akzeptieren – nämlich das Behandeln einer Krankheit oder des in einem kranken Zustand befindlichen Körpers, indem man die Krankheitsursache beseitigt und die Erholung zum oder in Richtung Normalzustand unterstützt, wobei dieses Behandeln auf physiologischen Linien erfolgen muss. Das ist

Osteopathie

.



Es häufen sich Beweise dafür, dass jeder Teil des Körpers durch irgendeine Art peripherer Stimulation erreicht werden kann. Wie Abrams entdeckt hat, bewirkt ein posterior über den unteren Lungenrändern angewendetes Ätherspray, dass diese sich um 8–10 Zentimeter senken. Das bedeutet also, dass Hautreizung eine Dehnung der Lungen auslöst. Dies hilft bei der Differenzialdiagnose von Atelektasen bei manifester Bronchopneumonie. Im ersten Fall ruft die Hautreizung eine Lungendehnung hervor, indem sie die regionale Trägheit aufhebt, wohingegen im zweiten Fall die Trägheit bestehen bleibt. Die gleiche Methode kann bei Atelektasen therapeutisch zum Stimulieren pulmonaler Dilatation verwendet werden.








Unter der Überschrift

„Die menschlichen Nerven mit der Hand massiert“

 veröffentlichte das

Ohio State Journal

 am 13. März Folgendes:



„Zu den großen Fortschritten, über die man im neuen Jahrhundert berichten wird, gehört eine ganz neue Art der Behandlung menschlicher Krankheiten durch direkte Massage der Nerven. Im deutschen Bonn wurden drei Patienten, die man, nachdem sie den Wirkungen von Äther ausgesetzt worden waren, durch gewöhnliche Mittel nicht reanimieren konnte, dank Wirkung von Nervenerschütterung über dem Herzen wiederbelebt. Einer der entscheidungsberechtigten Behandler hatte, als der Patient schon in den letzten Atemzügen lag, diesen – rundum erfolgreichen – Lebensrettungsversuch unternommen.



In der Postgraduiertenschule in New York wird diese Entdeckung nun in der elektrischen Abteilung genutzt. Wie sich gezeigt hat, sind die bislang zur Stimulation der Nervenkraft verwendeten elektrischen Batterien gar nicht erforderlich, denn deren Wirkung lässt sich besser durch die Hand erzielen. Mit fabelhaftem Geschick lokalisiert der Elektrowissenschaftler die Nerven mittels seines Fingers und klopft den Fleck dann ganz sanft, bis Leben in den schlaffen Körper zurückkehrt. Es ist allerdings notwendig, dass der Arzt gründlich mit jedem Nerv vertraut ist, bevor er seine Kunstfertigkeit anwendet, um mittels Nervenvibrationen neues Leben zu verleihen. Dies eröffnet eine Spezialdisziplin in der medizinischen Praxis, die der medizinischen Profession ebenso großen Nutzen bringen wird wie den Kranken.



Es gibt bestimmte Beschwerden, etwa Pneumonie, Tuberkulose, Typhusfieber und verschiedene Kinderkrankheiten, bei denen eine Behandlung mit Medikamenten wenig gebracht hat. Bei diesen Krankheiten tobt stets ein Kampf zwischen der Konstitution des Patienten und den Angriffen des Feindes. Alles, was man bislang tun konnte, war, die Kraft des Patienten aufrechtzuerhalten und ihm zu helfen, eine siegreiche Schlacht zu führen.



Hier bringt die neue Entdeckung der Nervenschwingungen einen unschätzbaren Vorteil, denn diese unterstützen den Patienten beim Kampf, indem sie ihm die Muskeln eines starken, gesunden Mannes verleihen.



Die Nerven sind kraftlos vor Erschöpfung. Und der Patient befindet sich kurz davor, in jenes Koma zu fallen, welches auf einen erfolglosen Kampf mit tödlicher Schwäche folgt. Ihm stark tonische Medikamente verabreichen, ist in dieser Situation wie das Absägen der Masten eines sinkenden Schiffs. Es hält zwar sozusagen noch etwas länger Leben im Rumpf, hinterlässt den Patienten aber in noch schlechterer Form und damit noch weniger widerstandsfähig gegen die Angriffe der Krankheit. Die Nervenschwingungen wirken hingegen so, wie es die eigene Natur des Kranken tun würde, wenn sie die Kraft dazu besäße. Den Nerven wird neues Leben verliehen, ohne dabei die schwindenden Energien des Patienten irgendwie zu belasten. So wird das gesamte System regeneriert, und der Kranke erhält Kraft, um die Schlacht neu aufzunehmen, bis die Krise überstanden ist und seine eigene Kraft ausreicht, um ihn ins Rekonvaleszentenstadium zu bringen.



Die Verfechter dieser neuen Behandlungsmethode behaupten auch, dass man durch sie der Entdeckung des Quells ewiger Jugend näher gekommen sei als durch die Anwendung aller sonstigen bislang bekannten Mittel. Durch Massieren der Nerven kann man bei alten Menschen das Blut dazu bringen, mit erneuter Kraft durch die Adern zu kreisen, erschöpfte Gewebe werden durch vitalisierende ersetzt