Max und Moritz - Was wirklich geschah

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Fünftes Kapitel



Schnaufend ließ sich Karl-Dieter auf das Bett fallen. Im letzten Moment hatte er die Kellertür schließen können. Was aber, wenn die Wirtin das Knarren gehört hatte, wenn sie einen prüfenden Gang in den Keller machte und Mütze entdeckte? Dann war Schluss mit inkognito, dann würde ihr klar werden, welches Spiel hier gespielt wurde. Und wenn Witwe Bolte tatsächlich Dreck am Stecken hatte, wie es Tante Dörte vermutete, dann konnten sie gleich ihre Koffer packen.



Zäh verrannen die Minuten. Atemlos lauschte Karl-Dieter in die Dunkelheit. Was mochte Mütze im Keller finden? Es würden doch nicht … Nein, Karl-Dieter verbot sich, daran zu denken, dennoch drängte sich ihm der Gedanke auf, wieder und wieder. Zugegeben, Tante Dörte schien der Witwe manches zuzutrauen, aber dass diese die beiden Jungs … Bislang hatte Karl-Dieter es nicht für möglich gehalten, jetzt aber, wo er mit klopfendem Herzen allein im Zimmer wartete, sah er vor seinem Auge Max und Moritz plötzlich vor sich, sah sie tot im Kartoffelkeller liegen, vergiftet von ihrer bösen Stiefmutter. Karl-Dieter setzte sich auf und lauschte. Wann kam Mütze endlich zurück? Hin und wieder drang ein Geräusch an sein Ohr, ein Klackern und leises Stühlerücken, das musste die Wirtin sein, sie schien im Gastraum beschäftigt. Hoffentlich ging sie nicht in den Keller. Was aber, wenn doch? Wenn sie die Brettertür öffnete und die Treppe hinunterging, hinunter in den Keller? Und wenn sie dort tatsächlich Max und Moritz … Was würde sie dann mit Mütze machen? Ob sie bewaffnet war? Ob sie eine Knarre besaß? Karl-Dieter sprang auf, öffnete die Zimmertür einen Spalt und spähte ins dunkle Treppenhaus hinunter. Unten war nichts mehr zu hören, nicht das kleinste Geräusch drang an sein Ohr. Nur noch seinen eigenen Herzschlag, den hörte er pochen. Musste er nicht nachsehen, musste er nicht ebenfalls hinunter in den Keller? Er wollte gerade los, da klang in die Stille hinein ein diskretes Knarren aus dem Treppenhaus, Sekunden später tauchte eine Gestalt aus dem Dunkeln auf. Karl-Dieter plumpste ein Stein vom Herzen. Es war Mütze.



»Und?«, fragte Karl-Dieter atemlos.



»Eine Mausefalle und ein dickes Fass.«



»Ein Fass? Was für ein Fass?«



»Ein Fass voller Sauerkraut.«




Sechstes Kapitel



Mitten in der Nacht erwachte Karl-Dieter. Wie spät mochte es sein? 2 Uhr, 3 Uhr? Und was war es, das ihn geweckt hatte? Ist es der Wind gewesen, der aufgekommen war und nun ums Haus heulte? Nein, es ist nicht der Wind gewesen, auch nicht dessen Pfeifen im Kamin, es war ein anderes Geräusch, ein ächzendes Klappern und Knarren, das sich zu einem immer schnelleren Rhythmus aufschwang. Karl-Dieter trat ans Fenster und schob die vergilbte Gardine beiseite. Die Windmühle! Das Geräusch kam von der Windmühle. Sie hatte sich in Gang gesetzt. Die schwarzen Schatten ihrer Flügel schwangen durch die Nacht wie Fallbeile, es war, als wollten sie die Dunkelheit zerhacken, dazu stöhnten Holz und Sparren zum Gotterbarmen. War das üblich? Mitten in der Nacht zu mahlen?



Karl-Dieter blickte eine Weile in die Nacht hinaus. Wo nur mochten Max und Moritz stecken? Waren sie hier in Finsterfelde? Hielt man sie irgendwo versteckt, in einem Verlies als Kellerkinder, so wie einst Kaspar Hauser? Er wollte die Gardine schon wieder zurückgleiten lassen, da sah er eine Person um die Ecke biegen. Sie hatte sich in ein Tuch verhüllt und eilte durch den Garten zu einem der rückwärtigen Fenster, das einen Spalt weit offen stand. Karl-Dieter bekam große Augen. Die dunkle Person hielt inne, zog etwas Weißes aus der Tasche und warf es durch den Fensterspalt ins Zimmer hinein.



Jetzt erst löste sich Karl-Dieter aus der Erstarrung. Rasch weckte er Mütze, der sofort zum Fenster lief. Gemeinsam starrten sie hinaus in die Nacht. Nichts war zu sehen. Nur die Schatten der Windmühlenflügel durchschnitten die Dunkelheit, wieder und wieder, dazu stöhnte und ächzte es wie unter einer großen Last.




Zitat



Denn hinderlich, wie überall.

Ist hier der eigne Todesfall.



Wilhelm Busch




Samstag



»Du wirst es dir eingebildet haben.«



»Habe ich nicht!«



»Es wird ein Schatten der Windmühle gewesen sein.«



»War es nicht.«



Die Freunde saßen alleine im Eck des Frühstückszimmers. Über ihnen an der Wand hing eine goldblechgerahmte Autogrammkarte mit dem verblichenen Foto eines fröhlichen Schlagerpaars. »Danke für die Gastfreundlichkeit, Dagmar Frederic und Siegfried Uhlenbrock«, stand mit schwarzem Filzstift darauf geschrieben. Lange her. Niemand anderes schien mehr auf die Idee zu kommen, in diesem gottverlassenen Nest Urlaub zu machen, geschweige denn, ein Konzert zu geben. Das Frühstück hätten frühere Generationen lächelnd als frugal bezeichnet, Mütze sagte einfach nur Frechheit dazu. Nicht mal ein Frühstücksei gab es, trotz der vollmundigen Ankündigung auf der Schiefertafel. Obwohl, jetzt erst fiel Mütze auf, dass der Spruch »Eier von hauseigenen Hühnern« weggewischt worden war. »Aus gegebenem Anlass keine Eier mehr«, war dort nun zu lesen. »Aus gegebenem Anlass …«, die Freunde rätselten, was das bloß zu sagen hatte. Aber selbst mit Eiern hätte das Frühstück nicht mal den Jugendherbergsmindeststandard erreicht. Die vier Aldi-Brötchen in dem Plastikkorb waren sicher im Ofen aufgebacken, den Marmeladenglibber musste man aus kleinen Aufziehaluschälchen kratzen, die Butter war kühlschrankhart, und die bräunliche Plörre, die ihnen Witwe Bolte als Kaffee verkaufen wollte, war ungenießbar.



Verdrossen biss Mütze in ein trockenes Brötchen. Nicht nur das Frühstück verdarb ihm die Laune. Was sollten sie hier länger? Wenn die Bengel wirklich in Finsterfelde waren, wo sollten sie anfangen zu suchen? Und warum durften sie mit niemandem darüber sprechen, warum sie hier waren? Was sollte die verdammte Geheimnistuerei?



»Tante Dörte …«



»Jetzt hör mit Tante Dörte auf!«



»Sie hat ihre Gründe.«



»Und welche, bitte schön?«



Karl-Dieter senkte den Blick und mühte sich krampfhaft, mit dem Messer etwas von dem Buttereisklotz zu kratzen.



»Würdest du mir bitte antworten, Knuffi?«



»Ich sag’s dir nur, wenn du mich nicht auslachst.«



»Hab ich dich schon mal ausgelacht?«



»Also gut.«



Karl-Dieter machte eine kurze Pause. Die Wirtin kam um die Ecke gebogen, in der Hand eine Porzellanschale, in der zwei Döschen Kaffeesahne kreiselten. Alles war offensichtlich genau abgezählt, bloß die Gäste nicht zu sehr verwöhnen! Als sie die Porzellanschale auf den Tisch stellen wollte, stürzten von der Zimmerdecke plötzlich zwei Schatten herab, zwei dicke Käfer, die anfingen, die Wirtin brummend zu umschwirren. In aggressiven Kurven setzten sie zum Angriff an, umsurrten Kopf und Nase der Alten in immer dichteren Attacken. Klirrend ließ die Witwe die Porzellanschale fallen, schrie auf und schlug heftig nach den Tierchen.



»Ich erschlag euch, ihr Mistkäfer«, rief sie kreischend und wedelte wie verrückt mit den Armen.



»Aber nicht doch«, rief Karl-Dieter, »das sind doch Maikäfer!«



Rasch sprang er auf und fing die Brummer geschickt mit der Serviette ein, um sie aus dem geöffneten Fenster ins Freie zu entlassen.



»Dass es noch Maikäfer gibt«, sagte er mit verwundertem Lächeln, die Witwe aber lief schimpfend davon. Die Freunde waren wieder allein.



»Nun?«, sagte Mütze, »was ist, was wolltest du mir sagen?«



Statt zu antworten, zog Karl-Dieter sein Handy hervor. Schnell wischte er eine WhatsApp herbei, die ein eigentümliches Foto zeigte.



»Was soll das sein?«, fragte Mütze knurrend.



»Dortmund-Dorstfeld. Der Weg zwischen Tante Dörtes Salatbeeten.«



»Willst du mich auf den Arm nehmen?«



»Du musst genau hinschauen.«



Karl-Dieter spreizte das Bild etwas, sodass es sich vergrößerte. Zu sehen war ein sorgfältig geharkter Sandweg.



»Erkennst du’s jetzt?«



Er vergrößerte es weiter, bis die Körner des geharkten Weges zu unterscheiden waren. An einer Stelle aber waren die parallelen Linien durchbrochen.



»Da hat ein Vogel im Sand gescharrt.«



»Richtig«, flüsterte Karl-Dieter, »es könnte ein Vogel gewesen sein, ein Himmelsbote. Dann muss es aber ein besonderer Vogel gewesen sein, ein recht gebildeter. Schau doch, da hat doch jemand was in den Sand geschrieben.«



Karl-Dieter vergrößerte das Foto noch ein wenig.



»Ich sehe nichts«, sagte Mütze.



»Man muss sich etwas einsehen«, sagte Karl-Dieter, »da oben, erkennst du’s? Da steht doch das Wort Erwin.«



Mütze blickte auf die Stelle. Hm. Mit etwas Fantasie konnte man sich tatsächlich einbilden, den Namen Erwin in dem Gekritzel zu erkennen.



»Okay«, sagte Karl-Dieter erleichtert, »und nun das Wort darunter.«



Mütze schob die Lesebrille weit auf seine Nasenspitze und buchstabierte, was mit krakeligen Vogelkrallen auf den Weg geschrieben zu sein schien: »M – O – R – D«.



»Mord!«, sagte Karl-Dieter und schwieg bedeutungsschwer.




Siebtes Kapitel



Stinksauer war kein Ausdruck. Wutschnaubend warf Mütze seine Sachen in den Koffer. Keine Sekunde länger würde er mehr in diesem Kaff bleiben. Auf was für einen Irrsinn hatte er sich da eingelassen. Mensch, Karl-Dieter! Dass Tante Dörte zu spinnen begann, geschenkt, sie war nicht mehr die Jüngste. Dass sich jedoch Karl-Dieter von der Spinnerei anstecken ließ, machte ihn einfach nur sprachlos.



»Jetzt warte doch mal eine Sekunde«, sagte Karl-Dieter.



Die Art, wie Mütze die von ihm so sorgfältig zusammengelegten Hemden einfach in den Koffer stopfte, verursachte ihm körperliches Unwohlsein.

 



»Lass mich doch erklären. Nachdem Tante Dörte die Botschaft gelesen hat, hat sie sogleich versucht, die Söhne von Erwin Bolte zu erreichen. Max und Moritz sind doch unmittelbar nach Eintreffen der Todesnachricht aus dem Internat geflohen und nach Finsterfelde gefahren. Am Tag nach der Beerdigung hat Tante Dörte die Botschaft auf ihrem Gartenweg entdeckt und sogleich versucht, die Jungs zu erreichen. Vergebens. Beide Handys tot! Daraufhin hat Tante Dörte bei Witwe Bolte angerufen. Die Jungen seien auf und davon, hat die Wirtin ihr erzählt, keiner wüsste, wohin.«



»Vielleicht sind sie zurück ins Internat, um noch ihre Sachen zu holen.«



»Eben nicht! Schlimmer noch, welcher Halbwüchsige kann auch nur einen Tag ohne sein Handy leben?«



Im selben Moment ertönte ein kurzes Kläffen. Erschrocken blickte Karl-Dieter zur Tür. Jetzt erst bemerkte er den Spitz. Er musste sich mit ihnen ins Zimmer gestohlen haben. Der Hund saß aufrecht auf seinem Hinterteil, hatte seine Vorderpfoten durchgedrückt und sah sie mit klugen Knopfaugen an. Dann bellte er erneut, ein kurzer Laut, nicht ängstlich, nicht aggressiv, es klang vielmehr wie eine Bestätigung, Karl-Dieter würde später sagen, wie eine Aufmunterung. Doch bevor er etwas sagen konnte, polterte es draußen, zugleich wurde die Tür mit Schwung aufgerissen, Witwe Bolte stampfte ungebeten ins Zimmer. Wütend beugte sie sich nieder und gab dem Spitz was hinter die Ohren. »Raus hier, du Gauner! Was hast du hier verloren?« Winselnd zog der Spitz den Schwanz ein und eilte die Treppe hinunter. »Und Sie, meine Herren, lassen künftig meinen Hund in Ruhe, haben wir uns verstanden?«




Achtes Kapitel



Mütze wollte eine Weile für sich sein? Gut, in Ordnung, des Menschen Wille war sein Himmelreich! Verärgert marschierte Karl-Dieter los. Auch ihm war es sehr recht, ein Stündchen für sich allein zu haben. Was bildete sich Mütze ein? Ohne ihn zu fragen, den Koffer zu packen! Ging man so miteinander um? Stand man nicht zusammen in guten wie in schlechten Zeiten? Gut, man sollte nicht dramatisieren. Von einer schlechten Zeit zu sprechen, war stark übertrieben. Dennoch, ging es nicht darum, die Sorgen des anderen zu teilen, Anteil zu nehmen an dem, was den Partner beschäftigte? Karl-Dieter lief unwillkürlich schneller. Er konnte nicht anders, er machte sich nun mal Sorgen, Sorgen nicht nur um Max und Moritz, fast mehr Sorgen noch um Tante Dörte. Er konnte doch auch nichts dafür; die gute Tante in Nöten zu wissen, war für ihn unerträglich. Alles hatte Tante Dörte für ihn getan, immer ist sie für ihn da gewesen, und nun sollte er sie enttäuschen? Unmöglich!



Zum Dorf zog ihn nichts, stattdessen schlug er den Weg hinunter zu den Flussauen ein. Er liebte die schlichten Landschaften der Mark, er brauchte keine dramatischen Gebirgspanoramen, keine spektakulären Strände. Das weite grüne Land, die sanft sich wellenden Felder, die vielen versteckten Seen, die kleinen Wälder, die freundlichen Dörfer, all das wirkte wie Balsam auf sein Gemüt. Karl-Dieter spürte, wie sein Ärger nachließ. Nicht lange und er stieß auf einen kleinen Bach, dessen Ufer er folgte. Murmelnd flossen die munteren Wellen durch die Wiesen, bis sie sich hinter einer sanften Kurve entschlossen, sich schwungvoll in die größere Dosse zu ergießen.



Karl-Dieter blieb sinnierend stehen. Er hatte ein Faible für solch einen Ort. In Irland sind sie mal an so einer bezaubernden Stelle gewesen, bei Killarney. Meeting of the waters, hatten die Iren die Geburt des Avoca-Rivers genannt. Die Franzosen sprachen von Confluence, von einem Zusammenfließen. Der Ausdruck traf es nach Karl-Dieters Meinung gut. Dennoch blieben Fragen. Schluckte der größere Fluss den kleineren, ging der kleinere im größeren auf, oder war es nicht vielmehr so, dass beide zusammen einen völlig neuen Fluss bildeten, der mehr war als die schlichte Summe ihrer Wassermengen?



Nicht ohne Grund sprach man auch beim Menschen von Einflüssen und vom Beeinflussen. Immer dann, wenn zwei Menschen sich etwas bedeuteten, wenn sie miteinander in Kontakt traten, beeinflussten sie sich zwangsläufig. Wie war es mit ihnen, mit ihm und Mütze? Wer nahm Einfluss auf wen und in welcher Weise? Eine Freundschaft war nicht möglich, ohne sich von solchen Einflüssen freizumachen. Wichtig nur war es, nicht völlig im anderen aufzugehen. Das konnte nicht das Ziel sein. Karl-Dieter seufzte. Wie oft hatte er eine solche Selbstaufgabe in seinem Bekanntenkreis erleben müssen. Das ging nicht gut, das nahm ein trauriges Ende. Dann trennte man sich lieber rechtzeitig. Doch selbst, wenn man auseinanderging, war man doch nicht mehr der, der man vorher gewesen war. Die Einflüsse blieben, man trug sie mit sich herum, ob man wollte oder nicht, ob sie einem guttaten oder nicht, selbst, wenn man sie loswerden wollte, wirbelten sie einem weiter durch die Adern.



Karl-Dieter kniete sich nieder. Seine Augen folgten dem Fluss. Der kleinere Bach war heller als die Dosse. Karl-Dieter versuchte, den Ort auszumachen, wo die Wasser der beiden Bäche sich endgültig vermengten. Ihm war, als würde der kleine Bach noch ein Weilchen seinen eigenen Weg nehmen, bevor sich alles verwirbelte. Einflüsse aufzunehmen, selbst positiv Einfluss zu nehmen, ohne sich dabei zu verlieren, war eine schwierige Kunst. Bisher war es ihnen gelungen, aber eine Garantie gab es natürlich keine.




Neuntes Kapitel



»Also noch mal von vorne«, seufzte Mütze.



Die Freunde saßen nebeneinander auf der Bettkante und ließen die Füße baumeln. Ihre Beine hätten nicht unterschiedlicher sein können, muskulös und durchtrainiert wirkten die Schenkel von Mütze, weich und blass die seines Freundes Karl-Dieter. Als Bühnenbildner kam es ja auch auf andere Qualitäten an. Beide Männer starrten geradeaus und sahen nicht sehr glücklich aus.



Mütze atmete tief durch: »Okay, versuchen wir zusammenzufassen. Was wissen wir? In Finsterfelde stirbt Erwin Bolte an einer Herzattacke. Seine Söhne kommen zur Beerdigung. Am nächsten Tag findet sich ein merkwürdiges Gekritzel auf dem Gartenweg von Tante Dörte in Dortmund-Dorstfeld, einige Hundert Kilometer entfernt. Tante Dörte ruft Max und Moritz an, keiner geht dran. Sie versucht es bei Witwe Bolte und erfährt, die beiden sind getürmt. Darauf ruft sie bei dir an, schickt dir per WhatsApp ein Foto von dem Sandgekritzel neben ihren Salatbeeten. Soweit die Fakten. Und was sollen wir jetzt damit anfangen? Erklär mir das.«



»Du hast was vergessen.«



»Und was, bitte schön?«



»Die dunkle Gestalt gestern Nacht, die mit dem Brief.«



»Wenn du dir das mal nicht eingebildet hast.«



»Ich hab’s mir nicht eingebildet!«



»Vielleicht war’s ein Verehrer der Witwe. Sie ist ja wieder zu haben.«



Karl-Dieter verstummte und betrachtete seine Zehen, die er wie immer sorgfältig pedikürt hatte. Gute Nagelpflege war Karl-Dieter wichtig. Mütze lachte nur darüber. Würde doch keiner sehen, wie die Fußnägel ausschauten. Das war typisch Mütze! Ob jemand anderes die Nägel sah oder nicht, war doch völlig egal. Es machte einfach ein gutes Gefühl, gepflegte Nägel zu haben. Karl-Dieter spreizte die blassen Zehen ein wenig, dann sagte er leise: »Wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe.«



Sie einigten sich auf einen Kompromiss. Zwei Tage. So viel Zeit wollte Mütze investieren. Zwei Tage und nicht mehr. Heute war Samstag. Hatten sie bis Sonntagabend nichts Vernünftiges herausgefunden, würden sie abreisen. Er zumindest. Karl-Dieter könne ja gerne noch bleiben und nach Vogelspuren auf Sandwegen Ausschau halten.



»Und wo fangen wir an zu suchen?« Karl-Dieter versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie verletzt er war.



»Ich hatte gehofft, das könntest du mir sagen.«



»Der Brief. Er hat eine Bedeutung, das spüre ich. Beim Frühstück wirkte unsere Wirtin wie ein nervöses Huhn, fandest du nicht?«



»Das hatte einen völlig anderen Grund, das lag doch an den Käfern. Aber gut, auch Tante Dörte scheint der Witwe zu misstrauen. Dann schauen wir mal, was die gute Frau den Tag über so treibt.«




Zehntes Kapitel



Sie mussten nicht lange warten, bis die Haustür geöffnet wurde und die Witwe heraustrat, den Spitz an der Leine. Die beiden Freunde lugten heimlich um die Hausecke. Ein kleiner Sicherheitsabstand, dann liefen sie hinterher. Der Tag war heiß, die Sonne stand schon hoch am Himmel. Ein trockener Wind war aufgekommen, kleine Staubteufel wirbelten über die Dorfstraße. Finsterfelde war wirklich ein echtes Provinznest. Einige Dutzend armselige Häuser, eine gedrungene Backsteinkirche, wie es sie in der Gegend häufig gab, die Dorfschule in ihrem Schatten, das Wirtshaus Zum Großen Kurfürst, das war’s. Die Straße war breit, typisch für eine Dorfstraße in der Mark Brandenburg, am Platz brauchte man nicht zu sparen, zu unergiebig war der Sandboden, man nahm keinem Bauern auch nur einen Quadratmeter wertvollen Boden weg. Die enorme Breite der Straße aber verstärkte den Eindruck der Trostlosigkeit weiter. Finsterfelde lag im brandenburgischen Nirgendwo, irgendwo zwischen Wittstock und Wusterhausen, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen würden, wenn sie denn das Kaff je gefunden hätten. Neben der erwähnten Windmühle war Finsterfeldes einziger Stolz, von Theodor Fontane in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg erwähnt worden zu sein und zwar als Ort, an dem sich ein schrecklicher Mord an einem französischen Soldaten während der Zeit der Napoleonischen Kriege ereignet haben soll. Lange hatte sich der Glaube daran gehalten, die Leiche des Soldaten würde als Gespenst durch die Nächte geistern und seine Mörder suchen. Schauerlich.



Mütze staunte einmal mehr, was Karl-Dieter alles über Fontane und seine Mark Brandenburg wusste.



»Er ist eben mein Lieblingsdichter«, sagte Karl-Dieter.



»Habt in eurem Theater wohl schon viele Stücke von ihm aufgeführt?«



»O Mann, Mütze! Theaterstücke von Fontane sind ungefähr so zahlreich wie Wellnesshotels in Finsterfelde.«



»Oder Meisterschalen in Herne-West?«



»Auch das.«



Hinter der Kirche bogen Hund und Wirtin links ab. Ein schmaler Feldweg wand sich hinunter zu den grünen Auenwiesen, durch die sich die Dosse schlängelte. Der Weg endete nach einigen Hundert Metern an einer gesperrten Holzbrücke, rot-weiße Flatterbänder knatterten im Wind. Dicht daneben führte eine frisch geschotterte Zufahrt zu einer langen Eisenplatte, die man neben dem Holzsteg über den Fluss gelegt hatte. »Behelfsbrücke. Benutzung auf eigene Gefahr«, stand warnend auf einem Schild. Darunter war ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen gemalt: »Eltern haften für ihre Kinder.« Dem Spitz schien die Eisenplatte nicht geheuer zu sein, heftig zog er an der Leine, um ans andere Ufer zu gelangen. Nicht weit vom Fluss entfernt duckte sich ein niedriges Haus unter alte Kopfweiden, an der Straßenseite schaukelte an einem ausschwingenden Haken eine kupferne Schere im Wind. »Kunstschneiderei Böck«, stand über der grünen Eingangstür, »Maßanfertigungen und Änderungen aller Art.« Mit ein paar schnellen Handgriffen band die Witwe den Hund an einer Weide fest und klopfte an die Tür. Ein kleines Fenster ging auf, und ein schmaler Kopf schob sich ins Freie.



»Erkennst du ihn?«, flüsterte Mütze und stieß Karl-Dieter in die Seite.



»Der Mann mit dem roten Zinken und der Zwickerbrille, einer der Skatbrüder«, flüsterte Karl-Dieter zurück, während der Kopf wieder verschwand. Kurz darauf wurde die Haustür geöffnet und Witwe Bolte schlüpfte ins Haus.



Mütze und Karl-Dieter hatten sich in den Büschen neben der Brücke versteckt gehalten. Jetzt sahen sie sich fragend an. Sollten sie es wagen, zur Schneiderei zu schleichen? Vielleicht konnten sie durch das geöffnete Fenster ein paar Brocken von dem Gespräch aufschnappen. Warum nicht? Was hatten sie schon zu verlieren? Sie wollten gerade loslaufen, da gab es einen schnalzenden Laut. Der Spitz! Er hatte sich mit einem Ruck vom Baum losgerissen und kam über die Brücke gelaufen, direkt auf sie zu. Er schien in keiner Weise überrascht, sie zu sehen, im Gegenteil, wie auf einen geheimen Befehl stoppte er unmittelbar vor ihren Füßen, machte Sitz und sah sie schwanzwedelnd an. Dann entfuhr ihm ein geheimnisvolles »Rawau!«, zugleich machte er einen Sprung an ihnen vorbei, sah sich um und blickte sie aufmunternd an, machte einen weiteren Satz und blickte erneut zurück.



»Der hat was für uns!«, rief Mütze. »Los, hinterher!«



So liefen sie den Weg zurück dem Dorfe zu, immer auf den Spuren des Hundes, der sich von Zeit zu Zeit umsah, wie um sich zu vergewissern, dass sie ihm noch folgten. Vor dem Dorf schlug er sich in einen Feldweg, der im weiten Bogen um den Dorfkern herum zum Friedhof führte. Der Gottesacker war mit einer niedrigen Feldsteinmauer umgeben, Findlinge gab es in der Mark Brandenburg an jeder Ecke, die letzte Eiszeit hatte unzählige herbeigerollt. Ein schmiedeeisernes Tor schloss den Friedhof zur Straße hin ab. Hier blieb der Spitz sitzen und wartete ungeduldig auf Mütze und Karl-Dieter. Ohne lange zu überlegen, drückte Mütze das Tor auf, und der Spitz schoss an ihnen vorbei, die kleine Allee von Lebensbäumen entlang, um vor dem Leichenhaus scharf links abzubiegen. Als die Freunde den Abzweig erreicht hatten, s