Der Fall Gloriosa

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»Das schlimmste Unglück in der Domgeschichte seit dem Erfurter Latrinensturz.«

»Latrinensturz?«

»1184. Der Landgraf von Thüringen und der Bischof von Mainz hatten sich in den Haaren gelegen, wer das Sagen im Lande hat. Kaiser Heinrich war eigens angereist, den Streit zu schlichten. Das ganze Gefolge hatte sich in der Dompropstei versammelt, auf dem zweiten Geschoss, als der Boden nachgab und alles in die Abtrittgrube fiel. 60 Tote soll es gegeben haben, darunter auch der Burggraf von der Wartburg, alle in der Scheiße ertrunken.«

»Prost Mahlzeit!«

»Mütze, Sie haben mein vollstes Vertrauen. Gehen Sie an die Öffentlichkeit, ich sag Linda Bescheid, wir stellen es sogleich auf unsere Facebookseite.«

Linda Bleibtreu war ihre Pressereferentin. Fast hätte Mütze es bedauert, schwul zu sein, in die hübsche Sächsin mit den lustigen Augen hätte er sich sofort verliebt.

»Ich bin keine Sächsin, ich bin Thüringerin«, hatte sie ihm mit gespielter Empörung erwidert.

»Warum sächseln Sie dann?«

»Mein Gott, Mütze, stellen Sie mal die Lauscher auf, ich komme aus Gotha!«

Der Abend war bereits angebrochen, als die beiden Kommissare auf dem Domplatz eintrafen. Sie hatten sich ein zweites Mal mit Udo Binge verabredet, dem Glockenwart des Mariendoms. Der Mittvierziger sah immer noch reichlich mitgenommen aus, das bartlose Gesicht war blass wie ein Blumenkohl, fahrig der Blick.

»Wissen Sie, Herr Kommissar, es ist alles so unwirklich, wie in einem schlechten Horrorfilm. In dem Moment, in dem ich das scheußliche Läuten gehört habe, wusste ich gleich, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. So schnell bin ich noch nie auf dem Turm gewesen. Wie ich oben ankomme, stockte mir der Atem. Ich konnte nicht glauben, was ich mit ansehen musste. Der schwingende Körper in der Glocke, der Klöppel, der abwechselnd gegen den armen Mann und gegen die Gloriosa schlug, und dann das Blut, all das viele Blut. Am schlimmsten aber war das Bersten, als der Kopf des Mannes zwischen Klöppel und Glocke geriet, dieses furchtbare Bersten, es will nicht mehr aus meinen Ohren hinaus. Kennen Sie das Geräusch, das entsteht, wenn man eine Kokosnuss fallen lässt? Furchtbar, einfach furchtbar! Ich hatte noch versucht dazwischenzugehen, aber die Macht der Glocke ist ungeheuer, ich hatte keine Chance, nicht den Hauch einer Chance. Ich konnte nur zuschauen, bis die Gloriosa endlich, endlich zum Stillstand kam.«

Mütze nickte mitfühlend und dankte Udo Binge, dass er dennoch gekommen war und ihnen nicht nur aufschloss, sondern sich sogar bereit erklärt hatte, erneut mit auf den Turm zu steigen.

»Keine Ursache, Herr Kommissar, ich hab zu meiner Gabi gesagt, man soll nicht davonlaufen, sonst wird alles nur noch schlimmer. Wenn ein Kind von einer Schaukel fällt, setzt man es doch sofort wieder darauf, verstehen Sie? Vielleicht verarbeite ich dann alles besser.«

»Und Sie sind sich sicher, dass der Turm tatsächlich abgeschlossen gewesen ist?«, fragte Mütze.

»Hundertprozentig, Herr Kommissar. Die letzte Turmführung habe ich selbst betreut, Samstag, um 16 Uhr, danach hab ich die Tür unten versperrt, ziemlich genau gegen halb fünf, dann bin ich heim zu meiner Gabi.«

»Und sonntags finden wohl keine Führungen statt?«

»Erst später, nach dem Hochamt, das heißt, heute natürlich nicht.«

»Also muss der Täter mit seinem Opfer zwischen Samstag halb fünf und dem Sonntagsgeläut auf dem Turm gewesen sein.«

»Ganz genau. Und er muss auch wieder abgeschlossen haben, die Tür ist nämlich versperrt gewesen, als ich am Sonntag das Geläut anstellen wollte. Wissen Sie, das ist das Schlimmste daran, dass ich es gewesen bin, der die Gloriosa in Gang gesetzt hat. Verstehen Sie, ich hab den armen Kerl auf dem Gewissen, ich hab ihn umgebracht.«

»Aber Sie konnten doch nicht wissen, dass ein Mensch in der Glocke hängt. Sie sind unschuldig, vollkommen unschuldig, genau wie die Glocke.«

»Ich weiß, ich weiß, wissen Sie, wie oft mir das meine Gabi schon gesagt hat? Und dennoch …« Udo Binge griff in die Tasche und zog einen altertümlichen Schlüssel hervor.

»Darf ich mal?«, fragte Mütze, nahm den Schlüssel in die Hand und betrachtete ihn. Auf dem verschnörkelten Griff war eine Glocke zu sehen.

»Schön, nicht? Eine Idee unseres Herrn Bischofs, die Turmschlüssel mit dem Bild der Gloriosa zu verzieren.«

»Wer besitzt denn alles einen Turmschlüssel?«

»In unserem Pfarrbüro hängt einer, außerdem besitzt natürlich der Herr Bischof einen, auch ein paar der anderen Domgeistlichen, natürlich die Turmführer, ja, und auch die Feuerwehr hat einen.«

»Hat jemand seinen Schlüssel als vermisst gemeldet?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Braunkärsch, könntest du das überprüfen?«

»Aber klar doch.«

»Okay, gehen wir!«

147 Stufen waren geschafft, 30 fehlten noch. Dem Glockenwart merkte man die Anstrengung trotz seines elenden Zustandes kaum an, er war das Treppensteigen gewohnt, auch Mütze war trainiert. Während Karl-Dieter die Frühstückseier briet, joggte er jeden Morgen am Ufer der Gera aus der Stadt hinaus und durch den Steigerwald wieder zurück. Einzig Braunkärsch, der gemütliche Typ aus den Thüringer Wäldern, kam ziemlich ins Keuchen. Sie waren ein Stockwerk unterhalb der Gloriosa angelangt, wo die Turmuhr hing.

»Das ist noch das Originaluhrwerk aus dem Jahre 1853, feinste Mechanik«, sagte der Glockenwart und deutete auf Drahtseile, die mehrere Meter lang waren, und ein langsam schwingendes Pendel. »Die Uhr stammt aus Weimar, aus der Werkstatt des Großherzoglichen Hofuhrmeisters Jacob Auch. Sein Präzisionsinstrument funktionierte zuverlässig bis 1920, musste aber jeden Tag per Hand aufgezogen werden und wurde deshalb von einem elektrischen Laufwerk abgelöst. Heute wird die Turmuhr per Funk aus Braunschweig gesteuert, von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt. Wir haben das mechanische Uhrwerk wieder restaurieren lassen, sehen Sie, ist das nicht wundervoll?«

Mütze nickte. Das alles tat zwar nichts zur Sache, dennoch konnte er den Glockenwart verstehen. Viele geschockte Menschen hielten krampfhaft an etwas Gewohntem fest, als könnten sie das aus den Fugen geratene Leben wieder zusammenleimen. Der Leim des Glockenwarts war offensichtlich die Historie des Glockenturms und alles, was damit zusammenhing. Bei allem Verständnis für die Psychologie des Mannes drängte Mütze weiter. Er war schließlich kein Historiker, er musste einen Mörder fangen, und zwar möglichst bald. Bei solch einem spektakulären Fall war der öffentliche Druck enorm.

Eine Minute später standen sie vor der Gloriosa. Erneute staunte Mütze über die riesige Glocke und deren Aufhängung. Links und rechts waren zwei große Schwungräder zu sehen, mit deren Hilfe die Glocke in Gang gesetzt wurde. Durch die Fensteröffnungen sah man auf das Dächermeer von Erfurt hinab und weiter zu den blauen Höhen des Thüringer Waldes, auf dessen höchsten Gipfeln noch der Schnee glitzerte. Den Tatortreiniger hatte man offensichtlich auf die Schnelle nicht von der Ostereiersuche loseisen können, überall klebte noch das angetrocknete Blut. Schwer atmend sank der Glockenwart in die Hocke, während sich Mütze niederkniete, um das Innere der Glocke zu inspizieren.

»Warten Sie, ich mach Licht«, sagte der Glockenwart und drückte einen versteckten Knopf. Aus einem nach oben gerichteten Scheinwerfer flutete es hell in die Glocke hinein.

»Danke!«, sagte Mütze.

Die beiden Kommissare betrachteten die Aufhängung des Klöppels genauer. Um einen Strick darum legen zu können, musste man entweder am Klöppel hinaufklettern, was unwahrscheinlich erschien, oder einen Stuhl benutzen. Ein vergleichbarer Gegenstand kam natürlich auch infrage.

»Nur ein Riese käme aus dem Stand an die Aufhängung heran«, sagte Braunkärsch und blickte sich um. »Was ist mit dem Ding da vorne?«

Unter einem Balken stand eine verstaubte Holzkiste mit dem Aufdruck Leihverpackung DGS.

»Manchmal will ein Kind aus der Besuchergruppe den Klöppel anfassen«, sagte der Glockenwart, »dann ziehen wir die Kiste heran.«

Mütze pfiff durch die Zähne. Er schob die Kiste mit dem Fuß unter die Gloriosa und stellte sich darauf. Aus dem Inneren der Glocke dröhnte seine Stimme auf unheimliche Weise.

»Der Täter schlägt Sternberg nieder, bindet dessen Füße mit einem Strick zusammen, steigt auf die Kiste, fädelt den Strick durch die Öse, steigt vom Hocker wieder herunter und zieht sein bewusstloses Opfer langsam hinauf, bis sich dessen Kopf genau auf der Höhe der Klöppelverdickung befindet.«

»Dem Ballen«, korrigierte der Glockenwart.

»Dem was?«

»Dem Klöppelballen. So nennt man das, was Sie Verdickung nennen.«

»Okay. Dann steigt der Täter erneut auf den Hocker und bindet den Strick oben zusammen«, ergänzte Braunkärsch.

»Und muss nur noch darauf warten, dass die Gloriosa zu schwingen beginnt, exakt um 10.45 Uhr, eine Viertelstunde vor Beginn des Ostergottesdienstes.«

»So wie es in der Zeitung wie üblich angekündigt worden ist.«

»Entschuldigen Sie, wenn ich mich erneut einmische«, sagte der Glockenwart, »aber die Gloriosa hat bereits vorher zu schwingen begonnen. Exakt um 10.42 Uhr und 30 Sekunden habe ich unten auf den Knopf gedrückt.«

Mütze sprang von der Kiste herab und sah den Glockenwart mit großen Augen an.

»Es dauert«, sagte Udo Binge. »Was meinen Sie, welchen Anlauf solch eine Glocke benötigt, bis sie auf den Klöppel trifft? Bei kleineren Glocken geht das Läuten natürlich viel schneller, bei der Gloriosa aber dauert es exakt zweieinhalb Minuten, bis ihr erster Ton erschallt.«

»Das heißt, auch der Mann in der Glocke wurde zweieinhalb Minuten hin und her geschaukelt, bis ihn die Gloriosa traf?«

 

»Nein, nein, umgekehrt. Der Klöppel bewegt sich ja nicht, also nicht aktiv, die Glocke schwingt und trifft dann, wenn sie genug Schwung aufgenommen hat, auf den Klöppel. Aber das dauert eben seine Zeit, zweieinhalb Minuten.«

»Okay, verstehe«, sagte Mütze, »es kann also sein, dass das Opfer von dem einsetzenden Schwingen nichts mitbekommen hat, bis ihn die Glocke mit voller Wucht gegen den Kopf traf.«

»Mit voller Wucht nicht unbedingt, wie gesagt, sie schwingt sich ja zunächst ein«, sagte der Glockenwart, »auch hängt vieles davon ab, wo genau sich sein Kopf befunden hat. Vielleicht hat die Glocke zunächst auch den Klöppel getroffen, weil der Kopf des Mannes in dessen Schatten lag.«

Mütze trat vor, zog Einmalhandschuhe über und umfasste den Klöppelballen mit beiden Händen.

»Wie schwer ist der Klöppel?«

»Genau 366 Kilogramm.«

»Okay. Dann dürfte das auf das Gleiche hinauslaufen«, sagte Mütze, »jedenfalls ist Sternberg nicht gleich tot gewesen, ist aufgewacht und hat sich zu wehren versucht.«

Er musste an die zerquetschten Hände des Toten denken und was ihm der Professor dazu gesagt hatte. Mütze packte den Klöppel mit beiden Händen und stemmte sich dagegen, sodass das blutverschmierte Eisen leicht zu schwingen begann. Was würde er selbst machen, wenn man ihn in die Glocke hängen würde? Vielleicht nach dem Klöppel greifen und versuchen, sich an ihm hochzuziehen? Konnte das gelingen? Zumindest war es einen Versuch wert, sich vom Klöppel in die entgegengesetzte Richtung abzustoßen, wenn die Glocke auf einen zukam. Der Todeskampf jedenfalls wird sich hingezogen haben.

»Haben Sie denn niemanden schreien gehört?«

»Schreien gehört? Wenn die Gloriosa läutet?« Der Glockenwart schüttelte verständnislos den Kopf.

Mütze verstand. Sein Blick fiel auf den Boden, wo noch das Muster der Blutspuren zu sehen war, Schlingen und Schleifen wie gemalt. Die Nelke war nicht mehr zu sehen.

Es war schon gegen zehn, als Wullkopf, der Chef der Spurensicherung, im Kommissariat eintraf. Mütze sprang auf und bot ihm einen Stuhl an. Auch Braunkärsch und das Brot saßen mit am Tisch. Wullkopf setzte sich dankend. Viel hatte er nicht zu berichten.

»Alle Blutspuren, die wir bislang untersucht haben, stammen eindeutig von Sternberg. Auch die Haarpartikel am Klöppel und an den Rändern der Gloriosa sind dem Opfer zuzuordnen. Den Strick untersuchen wir noch auf Anhaftungen, bislang negativ. Fingerabdrücke an der Tür zum Turm haben wir genügend gefunden, der Abgleich mit der Datenbank ergab keinen Treffer, vielleicht haben wir es mit einem neuen Kunden zu tun.«

Mütze verzog die Mundwinkel. Dass man Fingerabdrücke an der Tür gefunden hatte, hieß überhaupt nichts. Wer wird die Klinke nicht alles in die Hand genommen haben? Hunderte von Touristen besuchten den Glockenturm jeden Tag, das hatte ihnen der Glockenwart erzählt.

»Was ist mit der Nelke?«

»Gehörte dem Toten. Hatte er in einem Knopfloch getragen, winzige Pflanzenfasern am Anzug stimmen mit der Nelke überein.«

Der schnieke Anzug, die Nelke. Alles sprach dafür, dass sich Sternberg zu einem Rendezvous verabredet hatte. Das Treffen muss eine Falle gewesen sein. Diejenige Person, die sich mit ihm verabredet hatte, musste mit dem Mörder identisch sein oder doch zumindest mit ihm unter einer Decke stecken. Dass man Sternberg auf dem Weg zu seiner Verabredung abgepasst und auf den Turm gelockt hat, war nahezu auszuschließen.

»Sonst hätte sich die Dame seines Herzens doch sicher Sorgen gemacht und sich an uns gewandt«, sagte Braunkärsch.

»Kann sein, muss nicht sein«, gab Mütze zu bedenken, »wie viele Damen müssen sich damit abfinden, sitzen gelassen zu werden? Wenn jede von ihnen zu uns rennen würde, hätten wir viel zu tun.«

»Mensch, Mütze. Du ein Frauenversteher?«

»Kannste mal sehen. Im Ernst, morgen steht Sternbergs Name in allen Zeitungen, dann werden wir ja mitbekommen, ob sich jemand meldet, der sich die Augen ausgeweint hat.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. In der heutigen Zeit sind Blind Dates schwer in Mode.«

»Blind Dates?« Der Leiter des Kommissariats schaute verwirrt, soweit das sein trauriger Dackelblick zuließ.

»Verabredungen, ohne viel von dem anderen zu wissen, nicht mal den wirklichen Namen.«

Weder einen Geldbeutel noch ein Handy hatten sie gefunden, nicht bei der Leiche und nicht in Sternbergs Wohnung. Dieses Faktum schloss zwar einen Raubmord nicht aus, die Durchführung der Tat dafür umso mehr. Welcher gewöhnliche Räuber würde einen solchen Aufwand betreiben, um an ein Handy und ein bisschen Kohle zu kommen? Die Entwendung aller persönlichen Gegenstände konnte nur einen Grund haben: Der Täter fürchtete sich vor Spuren, die auf ihn hindeuteten.

»Wir haben einen Anschluss ermitteln können, der auf Sternbergs Namen läuft. Der Anschluss ist tot, das Handy muss ausgeschaltet worden sein und mehr als das, vermutlich hat man den Akku entfernt oder das Handy komplett zerstört«, sagte Wullkopf.

»Das Bewegungsprofil vor der Tat?«

»Sind wir noch drüber. Die Telefongesellschaft ist kontaktiert.«

»Gut.«

Ein Bewegungsprofil von Sternberg, seine letzten Wege vor seinem Tod, konnte sehr aufschlussreich sein. Wo war Sternberg losgelaufen? Wann war er am Dom eingetroffen? Welche anderen Handys hatten sich zur gleichen Zeit am selben Ort eingeloggt? Mit etwas Glück kamen sie auf diesem Weg weiter.

Mützes Handy schlug an. Es war die Pforte, ein Anruf für ihn, ein gewisser Kevin Wieland wolle ihn sprechen.

»Stellen Sie durch! – Herr Wieland? Sind Sie zu Hause? Bleiben Sie, wo Sie sind. Wir kommen vorbei.«

Das Wetter war umgeschlagen. Ein übler Nordwest trieb fette Wolken gegen die Höhen des Thüringer Waldes, es fing kräftig an zu plästern. Die Wischblätter des Mantas taten, was sie konnten. Der Verkehrsbericht warnte vor Neuschnee auf dem Rennsteig. Nicht ungewöhnlich für diese Jahreszeit, meinte Braunkärsch, der aus Ilmenau stammte.

»Im Grunde gibt es nur zwei Monate, die dort oben garantiert schneefrei sind, Juni und Juli. Selbst Ende August hat es schon geschneit.«

Braunkärschs Gesicht trübte sich ein, während er das sagte. Für kein Geld der Welt würde er mehr einen Fuß in die alte Heimat setzen. Nicht, dass er keine glücklichen Erinnerungen an seine Kindheit gehabt hätte, im Gegenteil. Seine Kindheit war ihm als einziger Traum erschienen, ein kleines Paradies voller Geheimnisse und Geborgenheit. Die ungezwungenen Spiele mit seinen Kameraden an den Ufern der Ilm, die nahen Wälder mit ihren Verstecken, die unbegrenzten Freiheiten ihrer kleinen Welt, der Duft des Pflaumenkuchens am Gartentisch seiner Großmutter. Seine größte Freude aber war es gewesen, nach Spuren von Unfällen zu fahnden. An einer gefährlichen Kurve am Ortseingang, nicht weit von seinem Elternhaus, hatte es immer mal wieder ein Auto gegen einen Alleebaum geschleudert. Sofort war er los und hatte im Straßengraben nach Spuren des Unfalls gesucht. Wie groß war seine Freude gewesen, wenn er etwas gefunden hatte, einen abgerissenen Autospiegel, ein zerbrochenes Blinkerglas, einmal sogar einen kompletten Kotflügel. Mithilfe seiner Schätze hatte er versucht, den Unfallhergang zu rekonstruieren.

Seit er sich erinnern konnte, war es sein größter Wunsch gewesen, eine Ausbildung zum Polizisten zu absolvieren und dann in seine Heimatstadt zurückzukehren. Doch wehe, wenn sich Wünsche erfüllen! Die Rückkehr nach Ilmenau sollte zu seinem größten Albtraum werden. Was er dort hatte erleben müssen, ließ ihn nicht mehr los. Am Schlimmsten war diese Stimme, die Stimme der Mutter. Sie verfolgte ihn bis in die Nächte hinein. Oft konnte er darauf nicht weiterschlafen, ja, wollte nicht weiterschlafen, um nicht erneut diesen Traum zu träumen. Dann stand er auf, erschöpft und todmüde, setzte sich an den Tisch und wartete, wartete darauf, dass endlich der Morgen graute. Nein, nie wieder wollte er nach Ilmenau zurück.

Erfurt tat ihm gut, die Geräusche der Stadt, das quirlige Leben, all das beruhigte ihn. Nie hätte er sich das früher vorstellen können. Wenn spätabends das Rattern der nahen Straßenbahn an sein Ohr drang, empfand er das als süßen Trost und er schlief leichter, wenn es gelang, sogar bis zum nächsten Morgen.

Braunkärsch betrachtete melancholisch den schmalen Silberring an seiner linken Hand. Um wie viel mehr hatte er Erfurt genossen, als Sylvia noch bei ihm gewesen war. Sie hatte den Schmerz seiner Verwundungen gelindert und ihm dann eine neue Wunde zugefügt. Drei Jahre war das jetzt her. Warum ihn Sylvia verlassen hatte, verstand er bis heute nicht. Es hatte keinen Streit gegeben, keine heftigen Diskussionen, nichts. Eines Tages hatte sie die Koffer gepackt und war davon. Ein kleiner Zettel auf dem Tisch mit einem kurzen Abschiedsgruß, das war alles gewesen. Auch diese Wunde wollte nicht heilen.

Bindersleben war erreicht. Einer der seltenen Flieger kämpfte sich zum Wolkengrau hinauf, aus dem ein heftiger Guss niederging. Kurz nach dem Ortsschild bog Mütze links ab. Im Pegasusweg 32 waren die Vorhänge zugezogen, dahinter schimmerte Licht. Mit hochgezogenen Mantelkrägen eilten die Kommissare zur Eingangstür und drückten die Klingel. Ein junger durchtrainierter Mann in Jogginganzug und Sportschlappen öffnete auf das Klingeln so rasch, als hätte er hinter der Tür gewartet. Seine braunen Haare trug er an den Scheiteln ausrasiert, der Schopf hing ihm tief über die Stirn, wie es jetzt bei jungen Leuten Mode war.

»Herr Wieland?«

»Jawohl, Kevin Wieland.«

Die Kommissare traten ein, Kevin Wieland schloss die Haustür schnell wieder, denn ein heftiger Regenschauer jagte ihnen hinterher. Zusammen gingen sie in die Wohnküche.

»Meine Frau Lisa.«

Am Küchentisch saß eine schlanke Frau mit blonder Kurzhaarfrisur.

»Ich geh nach oben«, sagte sie.

»Nein, nein, bleib doch ruhig, Schatz, wenn es die Herren nicht stört«, erwiderte ihr Mann.

Mütze und Braunkärsch hatten keine Einwände und setzten sich dazu.

»Meine Nachbarin hat mir einen Zettel an die Tür geklebt, dass die Polizei bei uns gewesen ist. Waren Sie das? Wir haben meine Schwiegereltern in Arnstadt besucht und sind eben erst nach Hause gekommen. Was ist denn passiert?«

»Herr Wieland, kannten Sie Herrn Sternberg?«

»Sternberg? Moment, Sie meinen Adam Sternberg? Na klar, kenne ich Adam! Aber wieso kannten? Was ist mit Adam?«

»Er ist tot.«

Lisa Wieland schlug sich auf den Mund, dennoch entfuhr ihr ein unterdrückter Schrei. Entsetzt starrte sie Mütze an und auch ihr Mann war sprachlos.

»Tot? Warum denn tot?«, fragte er stotternd.

»Wir müssen davon ausgehen, dass er getötet worden ist«, sagte Mütze.

»Um Himmels willen, wer war das? Wer hat Adam umgebracht?«

»Woher kannten Sie Herrn Sternberg?«

»Adam ist ein guter Freund, wir sind Kollegen, arbeiten zusammen bei der Stadt als Gärtner.«

»Wann haben Sie Adam Sternberg das letzte Mal gesehen?«

»Am Donnerstag. Karfreitag hatten wir beide frei, da musste nur der Notdienst ran. Wir sind beide oben am Petersberg eingesetzt worden, letzte Arbeiten an den Tulpenbeeten, Sie wissen schon, die Gartenschau. Alles etwas hektisch im Moment.«

»Ist Ihnen etwas an Ihrem Kollegen aufgefallen? Hat er von seinen Plänen für die Ostertage erzählt?«

»Adam? Nein, kann mich nicht erinnern. Wir haben nur wenig Privates ausgetauscht.«

»Aber Sie waren doch befreundet. Ihre Nachbarin hat erzählt, er hätte Sie immer mal besucht.«

»Ja, schon. Zum Grillen und so. Wir haben uns wirklich gut verstanden, aber es ging doch immer um den Job oder um Fußball und so.«

»Hat er Ihnen nicht erzählt, dass er ein Rendezvous hatte?«

»Ein Rendezvous? Adam, tatsächlich? Nein, davon weiß ich nichts.«

»Aber dass Sie als Erbe eingesetzt worden sind, das wissen Sie vermutlich.«

Bei diesen Worten nahm Mütze den Gärtner scharf in den Blick. Täuschte er sich oder hatte dessen linkes Auge für einen kurzen Moment gezuckt? Und diese Bewegung zum Hals, dieses unsichere Kratzen, was hatte es zu bedeuten?

»Also was jetzt? Wissen Sie es oder nicht?«

Die beiden Eheleute sahen sich kurz an, dann nickte der Gärtner stumm.

»Ist das ein Ja?«

Wieder nickte Wieland.

»Ungewöhnlich, oder? Einen Kollegen als Erben einzusetzen?«

Wieland sagte nichts darauf.

»Herr Wieland, wo waren Sie in der Zeit zwischen Samstag, 16.30 Uhr und Sonntag, 11.45 Uhr?«

 

»Wie gesagt, heute sind wir zum Osterbrunch bei meinen Schwiegereltern in Arnstadt gewesen.«

»Wann sind Sie dorthin aufgebrochen?«

»So gegen neun.«

»Und von gestern Nachmittag bis heute um neun, wo sind Sie da gewesen?«

»Zu Hause bei meiner Frau.«

»Das können Sie sicher bestätigen, Frau Wieland.«

Lisa Wieland griff nach der Hand ihres Mannes und sagte mit fester Stimme: »Genauso ist es, Herr Kommissar.«

*

Wie gut das tut, endlich von dem schrecklichen Blut befreit zu werden. Wie dankbar ich ihm bin, dem Mann in dem weißen Anzug. Mitten in der Nacht ist er noch zu mir hinaufgestiegen. Er gibt sich redliche Mühe, die hässlichen Spuren zu beseitigen. Wie behutsam er mit dem Lappen über meine Kanten fährt, mit einer einfachen Seifenlauge hat er ihn getränkt, nicht mit scharfen Chemikalien. Wieder und wieder taucht er den Lappen in seinen Eimer, wringt ihn aus, sodass es rot in den Behälter tropft. Mit jedem Mal aber wird das Rot heller, bis sich der Lappen nicht mehr verfärbt. Jetzt nimmt der Mann ein weiches Tuch, reibt mich trocken, gibt mir meine Unschuld zurück.

Natürlich können Sie einwenden, ich hätte meine Unschuld nie verloren, ich wäre doch unschuldig an dem, was passiert ist, und natürlich hätten Sie recht. Dennoch, mein Gefühl ist ein anderes. Auch wenn ich nichts dafür konnte! Der arme Mensch, den man in mich hineingehängt hat, was hätte ich gegeben, wenn ich ihm hätte ausweichen können. Er kam einfach auf mich zu, kam näher und näher, mit dem Kopf dicht am Klöppel hängend, bis ich ihn erwischt habe. Wie hat er geschrien, wie hat das Echo widergehallt! Doch meine Stimme war lauter, bedeutend lauter, sein Schrei ging unter, während ich immer fester zu schwingen begann, schwingen musste, so wie es von mir verlangt wird. Wie hat er mich angesehen, mit weit aufgerissen Augen, wie hat er mir seine Hände entgegengestreckt. Ach, der Tor! Hat er wirklich geglaubt, mein Schwingen stoppen zu können? Als ich seine Arme mühelos weggedrückt habe, hat er versucht, die Hände schützend vor seinen Kopf zu legen, auch das vergebens. Geriet sein Schädel zwischen den Klöppel und mich, krachte er zum Steinerweichen, ein furchtbares, grausames Geräusch. Dann sanken seine Arme hinab, es war vorbei mit ihm, endlich vorbei. Ich aber musste weitermachen, immer noch weitermachen, bis man mich endlich ausschwingen ließ. So schlimm hat meine Stimme nie zuvor geklungen.

Wie dankbar bin ich dem Mann in dem weißen Anzug. Jetzt reinigt er noch meinen Klöppel, reinigt ihn mit der gleichen Liebe und Umsicht wie zuvor mich selbst. Dass es schon nach Mitternacht ist, scheint ihm nichts auszumachen. Wenn alle Menschen so wären, nichts Böses gäbe es auf dieser Welt.