Joseph

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Als er damals wortlos seine Mutter verlassen hatte, war da dieser Blick gewesen. Diese hochmütigen, unnahbaren Augen. Nur der Mund leicht schief. Da, wo der Lippenstift abgeplatzt war. Er kannte diesen Ausdruck, dieses Bild. Natürlich in einem ganz anderen Zusammenhang. Es war in Frankfurt gewesen, damals vor vielen Jahren, als er den Hotelportier im Ruhestand aufgesucht hatte. Etwas irritiert war er damals durch die fremde Stadt geschlendert. Wieder hatte er etwas über seinen Vater, Johnny Engel, erfahren. Ein weiteres kleines Puzzleteil in einem riesigen unvollständigen Bild, über einen Menschen, den er nicht mehr kennen gelernt hatte.

„Du bist so unnahbar“, hatte ihm seine Frau am Telefon gesagt. Im Hintergrund hatte er die Kinder toben gehört. Sie hatten freudig seinen Namen gerufen.

„Warum sind dir die Toten bloß näher als die Lebenden?“ hatte sie kalt gefragt.

Er hatte dann aufgelegt. Unfähig irgendetwas zu erwidern. Er hatte sich allein gefühlt. Frankfurt hatte es ihm außerdem leicht gemacht, dieses Gefühl zu empfinden.

Ziellos war er durch die Nacht gelaufen und irgendwie in dieses Viertel geraten. Frauen aus allen Teilen der Welt hatten halbbekleidet ihre einzige Ware angeboten und David hatte ein Ecklokal betreten: Ihm war nach Alkohol, Zigarettenqualm und Schweißgeruch. Einfach so an der Theke sitzen, das andere Leben um sich herum spüren und sich selbst zwischen den Schnapsflaschen in einem stumpfen Barspiegel betrachten. Die anderen Gäste hatten ihn in Ruhe gelassen. Ein paar Mädchen hatten zaghaft versucht, mit ihm ins Geschäft zu kommen. Aber er hatte ihre Angebote einfach überhört.

Plötzlich war die ganze Szene wieder so präsent, als säße David wieder auf demselben Barhocker wie damals. Er hörte die Musik um sich rauschen und die Mädchen schnattern. Er sah den Barkeeper mit seinem angeschmutzten Hemdkragen vor sich und hörte ihn sagen: „Sie sind neu in der Stadt“, und stellte ihm den doppelten Whisky hin.

„Bin früher in Hockenheim Autorennen gefahren, aber dann kam dieser blöde Unfall.“

Erst jetzt hatte David Engel bemerkt, dass der Mann ein Bein nachzog.

Es war schon gegen Morgen gewesen, der Wirt stellte an den leeren Tischen die Stühle hoch, als sich eine grell geschminkte Frau um die fünfzig neben ihn setzte.

„Wir sind wohl übrig geblieben, was? Zumindest haben wir was gemeinsam“, eröffnete sie ihr Verkaufsgespräch.

Der Wirt schrie von hinten, dass er gleich zusperren werde.

„Wenn Sie noch eine Flasche ordern können, komme ich mit“, sagte David und vermied es, in den stumpfen Barspiegel zu schauen.

Neben den Toiletten gab es eine Stiege, die sie kurz darauf schweigend nach oben gingen.

Erst auf dem Zimmer, in dem es aufdringlich süßlich roch, wurde sie redseliger.

„Französisch, griechisch, russisch, bei mir geht alles!“ leierte sie müde ihr Angebot herunter.

David setzte sich auf das Bett und öffnete die Flasche.

„Eigentlich möchte ich nur reden.“ sagte er und starrte auf den herausgezogenen Korken.

„Reden, wie geht das? Was ist los? Bin ich dir zu hässlich? Zu alt, dass dir keiner abgeht? Was ist das für eine Zeit, wo alle nur reden wollen?“ sie suchte in ihrer Handtasche nach Zigaretten.

„Machst du das schon lange?“ fragte er und schüttete ihr ein Glas Wein ein.

„Was soll das? Bist du einer von der Kirche oder ein Bulle?“ genervt steckte sie sich eine Zigarette in ihren schiefen Mund.

„Nein, nein, ich recherchiere da in einer Sache und komme nicht weiter.“

Sie machte einen kräftigen Zug an ihrer Zigarette und nickte wissend: „Privatdetektiv, stimmt’s? Oder bist du so ein verkappter Schriftsteller aus reichem Haus?“

Er reichte ihr das Weinglas.

„Nein, es ist eher privater Natur. Es geht um das Jahr 1957, um den 1. November.“

„Der Todestag der Nitribitt“, sagte sie leise.

Sie stand direkt vor ihm, schaute ihm ins Gesicht. Mit demselben wohlbekannten Blick. Mit diesen hochmütigen, unnahbaren Augen, nur der Mund leicht schief. Da, wo der grelle Lippenstift abgeplatzt war.

Sicher war es ein Fehler gewesen, sich die ganzen Jahre nie mit der Mutter beschäftigt zu haben. David würde es nachholen, sobald er Zeit dafür hatte. Jetzt galt es erst einmal, Spuren zu sichern.

Der synthetische Kautschuk war mittlerweile getrocknet. Geschickt löste Gabriel ihn mit seinem scharfen Messer von der lackierten Schale und packte das unförmige Gummistück in seinen Rucksack. Mit einer Spraydose entfernte er dann die letzten kleinen Partikel und stellte das schwarzlackierte Becken zurück an seinen Platz. Es dauerte nicht lange, da war der alte Zustand des Wegkreuzes wieder hergestellt.

Sie schlichen zurück, wie sie gekommen waren. Über das Fallrohr hoch auf das Dach der Garage, von dort weiter bis zum Gaubenfenster, in das sie lautlos verschwanden.

My Lai

Eine Feuersbrunst überzieht das Land. In Bruchteilen von Sekunden verwandelt sie Leben in tote Materie. Eben noch raschelt der Wind in den Blättern der Bäume, singt ein Vogel auf dem Ast, bewegt sich irgendein Getier im Unterholz. Ein Mann tritt vor seine Hütte und schaut in den Himmel. Irgendwo in der Ferne hört er ein Flugzeug. Es ist so weit weg, dass man es nicht sehen kann. Neben ihm entfacht die Frau ein kleines Feuer für das Essen. Im Fluss baden die Kinder. Sie kreischen und plantschen. Und dann das unfassbare. Unsichtbar, ja sogar lautlos kommt die Walze daher und vernichtet alles. Die Schöpfung wird auf keine Probe gestellt, sie wird einfach vernichtet. Tod findet nicht statt. Hat keine Zeit zum Verweilen. Auslöschung kürzer als ein Augenaufschlag.

Der Wanderer will das festhalten, aber es gelingt ihm nicht. Sicher, ein paar Bilder anderer Fotografen werden ihren Weg durch die Weltpresse machen. Aber das Feuer ist nur ein Teil der Wirklichkeit. Ein winziger Mosaikstein im Bildnis des unfassbaren Grauens. Nur - wie hält man den letzten Windzug fest, der im selben Moment schon von einer gigantischen Feuerwalze gefressen wird?

Der Wanderer begleitet einen internationalen Fotografen durch die verkohlte schwarze Landschaft. Die Sicht ist schlecht. Die Luft beißend. Totenstille.

„Wenn das die Hand Gottes war, möchte ich seine Füße nicht kennen lernen“, krächzt die Stimme des Fotojournalisten hinter der Mundbinde, bevor sie in einem erbärmlich klingenden Hustenanfall erstickt wird.

Sie nennen es Napalm, was sie da vom Himmel schmeißen. Aber gibt es wirklich einen Namen für dieses einzigartige Grauen, das dort aus der Luft kommt? In Massenproduktion werden Agent Green, Agent Pink, Agent Purple, Agent White und Agent Blue hergestellt. Das bekannteste aber ist und bleibt Agent Orange. Es enthält in hohen Mengen das Supergift Dioxin.

Der Wanderer hat nie an Gott geglaubt. Vielleicht hat er als Kind manchmal Angst gehabt, eine Sünde zu begehen. Angst vor der Strafe eines Gerechten. Aber im Angesicht von Auschwitz hat sich Gott längst einem anderen Planeten zugewandt.

Mehr Zeit möchte er damit nicht verwenden. Der Wanderer braucht jetzt seinen Instinkt. Hier ist jede Sekunde ein neuer Tag. Er will überleben in dieser Hölle, aus der es zurzeit kein Entrinnen gibt. Sie sind immer noch hinter ihm her. Aber hier werden sie ihn mit Sicherheit nicht vermuten.

Am 16. März 1968 stößt der Wanderer mit einem amerikanischen Armeefotografen, der für das Magazin Stars and Stripes arbeitet, zusammen und beide treffen auf das US-Kommando Charlie Company. Zusammen mit den GI’s fliegen sie vom Stützpunkt Chu Lai aus mit den Hubschraubern zu einem Dorf namens My Lai.

Zur selben Zeit steht der sechsjährige Joseph Nepomuk Baptist Huftreter nackt in einer Zinkwanne und lässt sich von Elisabeth von oben bis unten einseifen.

„Heut’ musst ganz besonders sauber sein. Heut geht’s zum Arzt, und der wird prüfen, ob du reif für die Schul’ bist“, erklärt die Huftreterin.

„Schule, Schule“, lallt der Kleine so als ob er einen Knödel im Mund hätte. Hasenscharte, Zähne, die schief und krumm im Kiefer stehen und eine Zunge, die von Geburt an gespalten ist, lassen eine deutliche Aussprache naturgemäß nicht zu. Da hilft auch ein tägliches Üben von mehreren Stunden nicht. Aber das ist leider nicht alles, womit der Kleine geschlagen ist. Elisabeth treibt es jedes Mal Tränen in die Augen, wenn sie ihren Jungen wäscht. Der Kopf ist fast doppelt solang als bei einem normalen Sechsjährigen. Den Buckel auf der linken Rückenhälfte kann man durch ein größeres Hemd kaschieren. Auch für das rechte viel zu kurze Bein und den verkrüppelten Fuß gibt es orthopädische Einlagen. Aber den Kopf, diesen unnatürlich lang gezogenen Schädel und den deformierten Mund kann man nicht verstecken. Damit wird er leben müssen. Sie drückt seinen nassen kleinen Körper fest an sich und atmet tief aus.

„Musst nicht weinen, Mama. Ich freue mich doch so auf die Schule. Vor allem auf die anderen Kinder!“ gurgelt der Junge liebevoll und streicht ihr zärtlich über das Haar.

Das ist es ja gerade, denkt Elisabeth, davor hat sie am meisten Angst. Sie werden ihn hänseln, demütigen wegen seines Aussehens. Dabei ist er hochintelligent. Mit fünf Jahren konnte er schon lesen und schreiben. Auch das Rechnen ist für ihn kein Problem. Und wenn man in seine Augen schaut, glaubt man, das Mittelmeer bei Capri vor sich zu haben. Natürlich kennt Elisabeth das Mittelmeer und Capri nicht, aber in ihrer Küche hängt ein Kalender mit italienischen Panoramabildern. Und dem glaubt sie.

My Lai gilt als ein Hauptquartier des Vietkong. Die Gl’s haben den Tagesbefehl, „alte Männer, Frauen, Kinder, Katzen, Hunde, einfach alles“ niederzuschießen. Der Armeefotograf und der Wanderer wissen von alldem nichts, sie springen mit den Soldaten aus den Hubschraubern und sehen, wie in ihrer Nähe eine Gruppe von Menschen durch ein Reisfeld geht. Ohne Vorwarnung wird das Feuer eröffnet. Unzählige Salven gehen auf sie nieder. Auf Frauen, Männer, Kinder und Greise. Die beiden Beobachter betätigen die Auslöser ihrer Kameras. Sie sehen, wie Knochen durch die Luft fliegen.

 

Dann geht es weiter ins Dorf. Dort erwartet sie das Heulen mehrfach vergewaltigter Frauen. Jeder, der sich verdächtig bewegt, wird sofort erschossen. Die restlichen Dorfbewohner werden aus ihren Hütten zu einem ausgetrockneten Kanal getrieben.

Der Landtagsabgeordnete Dr. Julius Holzer hat seine ärztliche Praxis zugunsten der Landespolitik längst aufgegeben. Aber für sein Patenkind, den kleinen Joseph, macht er eine Ausnahme. Er weiß genau, dass der Junge vom Kreisgesundheitsamt niemals eine Schultauglichkeitsbescheinigung bekommen würde, eher schon eine Überweisung in ein Heim für körperbehinderte Kinder. Einmal im Jahr untersucht er den Jungen. Und jedes Mal stellt sich ein Leiden oder eine Deformation als bleibend heraus. Zum Geburtstag und an Weihnachten schickt er Päckchen, und auf ein extra für den Joseph eingerichtetes Sparbuch zahlt er regelmäßig kleine Beträge ein. Sonst kann er nichts für ihn tun.

Elisabeth und Joseph stehen fast eine Stunde zu früh vor der Tür des Landrates. Sie trauen sich aber nicht zu läuten und warten stattdessen lieber draußen bis es Zeit ist. Wahrscheinlich hätte sie Dr. Julius Holzer ohnehin nicht gehört, widmet er sich doch gerade seiner einzigen Dauerpatientin. Und das mit Hingabe. Nackt und leicht schwitzend liegt er auf der entblößten Kirchenwirtin, die er mit einer Spritze wieder auf eine ihrer unzähligen Reisen geschickt und ausgezogen hat. Zweimal die Woche kommt die Kirchenwirtin in aller Frühe zu ihm nach Hause und bettelt ihn regelrecht an. Oft genug drückt sie ihre Demut so aus, dass sie vor ihm auf die Knie geht, sich nach vorne beugt und dabei seine Unterschenkel - manchmal auch die Füße - umarmt und küsst. Es ist auch schon vorgekommen, dass sie sich bei ihrem Flehen und Betteln bereits selbst die Kleider vom Leib gerissen hat. Als hätte sie eine Ahnung davon, was mit ihrem Körper geschieht, während sie durch Farben und Sphären schwebt. Dieses devote Verhalten erregt ihn jedoch in keinster Weise. Ihm ist es lieber, dass er entscheiden kann, wozu er gerade Lust hat. Wenn seine politischen Termine es zulassen, kehrt er auch des Öfteren beim Kirchenwirt ein. Er kommt erst spät und wartet nur darauf, dass die letzten Gäste gehen und die Wirtin abschließen kann. Dann folgt er ihr wortlos nach oben auf das Zimmer und öffnet seinen silbernen Besteckkasten für eine neue Reise.

Zehn Minuten vor ihrem Termin läuten Elisabeth und ihr Joseph an der Tür des ehemaligen Landarztes. Ruhig und gelassen zieht er den langen Arztkittel an, geht die Treppe hinunter und macht Licht in seinen Praxisräumen. Dann erst öffnet er die Tür.

„Du bist aber groß geworden“, begrüßt er sein Patenkind freundlich und lächelt jovial.

Dr. Holzer ist über den Anblick des kleinen Joseph nicht schockiert. Er hat in seinem Leben bei weitem Schlimmeres gesehen. Außerdem hat er es über die Jahre gelernt, selbst Todgeweihten freundlich zu begegnen und ihnen bis zur Bahre die Wahrheit vorzuenthalten. Der ehemalige Landarzt ist ohnehin der Meinung, dass der Patient nicht alles wissen müsse. Lieber unwissend, dafür aber glücklich, ist seine Devise, was gibt es dagegen einzuwenden?

Auch in der Politik hat er diesen Standpunkt gepflegt und ist bisher sehr gut damit gefahren.

Wie ungerecht die Natur doch sein kann, stellt Dr. Holzer ohne Bitterkeit fest, als er den kleinen Joseph untersucht. Oben in seinem Schlafzimmer ein makelloser Frauenkörper, der in den letzten sechs Jahren so gut wie nicht gealtert ist. Und hier unten in der Praxis ein sechsjähriger verkrüppelter Junge, der an seine Zukunft glaubt und sich auf die Schule freut.

Er macht ein paar Tests, die bedeutender aussehen als sie in Wirklichkeit sind. So schlägt er beispielsweise eine Stimmgabel gegen die schwere Schreibtischplatte aus Eiche und hält sie, sobald sie zu vibrieren beginnt, an den Kopf des Jungen, der verzückt die Augen verdreht. Die Schwingung eines A-Tons dringt in seine deformierte Schädeldecke ein und durchflutet sein ganzes Nervensystem. Aus Angst, der schöne Ton könnte seinem Körper entweichen, hält Joseph den schiefen Mund krampfhaft geschlossen und zappelt stattdessen aufgeregt hin und her.

„Noch mal, noch mal“, lallt der Kleine und hält mit aller Kraft die große Hand des Landrates fest. An die zwölf Mal muss Dr. Holzer das Experiment wiederholen, bis der Junge sich zu Boden wirft, Hände und Arme exstatisch verdreht und Schaum aus seinem Mund zu quellen beginnt.

An der Tür hat Elisabeth immer noch Tränen in den Augen. Joseph dagegen ist längst wieder wohlauf und lacht über sein ganzes erstelltes Gesicht.

„Einiges lässt sich in ein paar Jahren sicherlich chirurgisch korrigieren“, beruhigt sie Dr. Julius Holzer flüsternd und dreht den Kopf dabei leicht in Richtung des kleinen Joseph. Im Stillen vermutet er jedoch, dass sich unter der Schädeldecke seines Patenkindes längst Wasser gebildet hat, das über kurz oder lang auf das kindliche Gehirn drücken wird. Warum soll er also nicht für ein Jahr die Schule besuchen?

Einige Soldaten des Kommandos sind über die Brutalität der Säuberungsaktion so überrascht, dass sie sich weigern mitzumachen. Ein Pilot begreift, was dort geschieht und befiehlt seiner Besatzung zu landen. Er stellt sich mit seinem Hubschrauber zwischen Soldaten und Zivilisten und gibt den Befehl, ihm Feuerschutz zu geben. So gelingt es ihm schließlich, mehr als ein Dutzend Männer, Frauen und Kinder in Sicherheit zu bringen. Der Armeefotograf und sein Gehilfe haben von dem Massaker, an dem 503 Menschen ermordet werden, - darunter 182 Frauen, 172, Kinder, 60 Männer über sechzig Jahre und 89 jüngere Männer, - Fotos gemacht. Es ist noch nicht einmal zehn Uhr morgens. Die Luft ist stickig und heiß. Die vierzig Schwarzweißbilder händigt der Fotograf später an die Armeeführung aus. 18 Bilder, die der Wanderer auf einem extra Farbfilm gemacht hat, behalten die beiden für sich. Es ist ausgemacht, dass der Fotograf seinen Begleiter auszahlen wird, sobald sie wieder in Sicherheit sind. Ein Packen Dollarnoten wird dann verabredungsgemäß den Besitzer wechseln, später ein größerer Posten auf ein Nummernkonto in der Schweiz überwiesen.

Nur wenige Jahre darauf werden die achtzehn Bilder, die aus dem Land geschmuggelt wurden, zu den bekanntesten Fotos des Vietnamkriegs gehören.

Der Elisabeth Huftreter ist es nicht entgangen, dass ein Wagen das Anwesen des Doktors verlassen hat. Es ist der alte Jeep des Kirchenwirts.

Es geht mich nichts an, denkt sie, Hauptsache, ich habe die amtliche Bescheinigung für die Schule in der Tasche.

Da es erst gegen zehn Uhr morgens ist, beschließt sie, mit dem Jungen ins Dorf zu gehen, um ein paar Einkäufe zu erledigen.

Ein freundliches „Grüß Gott“ bekommen die Elisabeth und der Joseph in allen Geschäften zu hören. Ansonsten wird es danach jedoch sofort still. Angefangene Gespräche verstummen abrupt. Da, wo Leute anstehen, wird eine Gasse gebildet, und man lässt sie schweigend vor.

Wenn die Erwachsenen schon so auf ihren Jungen reagieren, wie wird es erst bei den Kindern sein? denkt die Huftreterin verzagt und schaut den Leuten ins Gesicht.

Was sie nicht weiß, ist, dass sich im Dorf längst das Gerücht gefestigt hat, dass sie, die Elisabeth, es mit jedem treibe. Und der Depperte, - das Ergebnis ihres sündigen Lebens, - sei ja für alle der beste Beweis dafür.

Der kleine Joseph allerdings ist guter Dinge. Obwohl auch sein Rucksack bis oben hin angefüllt ist, zieht er an der Hand der Elisabeth und will weiter durchs Dorf. Er zeigt auf den Hügel. Die Anhöhe will er hoch, da wo die alte Wehrkirche über allem thront.

Mit den beiden schweren Rucksäcken werden sie den steilen Aufstieg über die überdachte Treppe aber nicht schaffen. Da hat die Elisabeth eine Idee. Sie geht mit dem kleinen Joseph über den Friedhof.

„Da, da, Ma... Ma...“, ruft der Junge aufgeregt mit seiner Knödelstimme und zeigt mit dem Finger auf die vielen Gräber.

„Nein, nein, die Maria liegt oben bei uns auf dem Hof. Hier liegen nur die Leut’ aus dem Dorf“, antwortet die Huftreterin und führt ihn zu einem wehrturmartigen Gebäude. Es ist der Karner, die Gebeinkammer des Friedhofes.

Die Klinke gibt beim Herunterdrücken einen hellen Ton von sich. Die Türzargen knarren beim Öffnen und die Augen des kleinen Joseph werden groß beim Anblick der Gebeine, die nach Oberschenkeln auf der einen und Schädeln auf der anderen Seite sortiert sind. So viele Knochen hat der Junge noch nie auf einmal gesehen. Zudem sind ihm Größe und Form der einzelnen Glieder völlig unbekannt. Hühnerknochen, ja, die kennt er, mit denen spielt er ab und an und bastelt sich Spielzeug daraus. Außerdem ist er schon mehrmals dabei gewesen, wenn ein Schwein oder ein Rind geschlachtet wurde. Aber das hier hat er noch nie gesehen. Die Knochen sind alle nummeriert, fällt ihm beim genaueren Hinsehen auf, und die meisten von ihnen zusätzlich mit Ornamenten verziert.

„Was ist das Mama?“ fragt er voller Andacht.

„Menschenknochen von Verstorbenen“, erklärt ihm Elisabeth geduldig. „Nach einiger Zeit kommen sie aus der geweihten Erde heraus und werden hier gelagert.“

Joseph nickt wissend. Man muss ihm alles nur einmal erklären. Er ist das Gescheiteste was der Elisabeth jemals untergekommen ist.

„Kommt die Maria Magdalena auch hier her?“ fragt er weiter.

„Nein, die bleibt bei uns oben auf dem Hof.“

Die Elisabeth nimmt dem Jungen den Rucksack ab und lehnt ihn zusammen mit dem ihren gegen die mannshohe Knochenwand.

„Und jetzt komm!“

Auch ohne Rucksäcke ist der Aufstieg über die steile Steintreppe recht mühsam. Die großen Quader stehen oft weit auseinander und sind außerdem recht hoch. Hinzu kommt, dass die Steine in der Mitte meist ausgetreten sind, so dass sich mit der Zeit eine Kuhle gebildet hat, an deren abgerundeten Kanten man leicht abrutschen kann. Obwohl die Stufen viel zu hoch für ihn sind, ist es der kleine Joseph, der die Elisabeth nach oben zieht.

Eine Kraft hat er schon wie ein kleiner Esel, denkt die Huftreterin voller Stolz.

Über das Hauptportal betreten sie die Kirche. Ihre ersten Schritte auf dem Steinboden hallen nach. Verwundert schaut sich der Junge um. Es kitzelt ihm in der Nase. Der Geruch aus altem feuchten Gemäuer, Nelken, Kerzenwachs und Weihrauch ist ihm vollkommen fremd. Aber es gefällt ihm. Joseph spürt sofort, dass das hier kein normaler Raum ist, sondern etwas aufregend Neues.

Die Elisabeth kann ihn nicht halten, er reißt sich los, um alles zu erkunden. Insbesondere die farbigen Holzstatuen an den Säulen. Er schaut in traurige, leidende Augen und geht schnell weiter. Nur bei der Frau mit dem kleinen Kind auf dem Arm verweilt er und legt seinen Kopf zärtlich auf ihre Schulter. Was für gütige Augen das Baby und die Mutter doch haben. Joseph betrachtet die schöne Frau andächtig. Sie trägt eine Krone, also muss sie eine Königin sein, das weiß er aus seinem Märchenbuch, mit dem er sich im Lesen übt.

„Wer ist das?“ flüstert er der Elisabeth zu.

„Das ist die Mutter Gottes.“

„Mutter Gottes, Mutter Gottes, so, so.“

Er will sich alles merken. Schön ist es hier, und es gibt an so vielen Stellen Neues zu entdecken. Da drüben befindet sich ein Metallgestell, auf dem brennende Kerzen stehen. Wieder diese Mutter Gottes, diesmal in Öl gemalt und hinter Gittern.

„Wieso ist sie eingesperrt?“ will Joseph wissen.

Diesmal weiß die Huftreterin keine Antwort, denn sie hat noch nie darüber nachgedacht.

Der kleine Joseph dreht sich im Kreis, weil er gerade die Fresken über sich im Gewölbe entdeckt hat. Was für ein Himmel, was für ein Licht, das da aus den Wolken strahlt! Er hat plötzlich nur noch den einen Wunsch, - dass der Strahl bis zu ihm herunter reicht, damit er daran hochklettern kann.

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