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Wahre Freunde

Seit zwei Wochen wartete David Engel nun schon in der Villa am See auf eine Nachricht von seinem ältesten und besten Freund Gabriel Lavant. Er hatte ihm sofort nach Erhalt des Briefes vom Amtsgericht eine Speichelprobe nach Den Haag geschickt. Als Chef der forensischen Pathologie im Dienst des europäischen Gerichtshofs verfügte Lavant über die besten Möglichkeiten für eine genetische Klärung des unsäglichen Vorfalls.

Wie jeden Tag nahm David Engel gegen acht Uhr morgens als erstes unten in der Küche bei Frau Borgmann das Frühstück ein, obwohl sie immer im Speisezimmer für ihn eindeckte.

„Wenn Sie schon nicht mit ihrer Frau Mutter frühstücken wollen, so leisten sie ihr doch wenigstens etwas Gesellschaft. Wo sie so selten da sind, Herr David.“

„Bekommt sie denn so wenig Besuch?“ fragte David erstaunt und griff gleichzeitig nach einem der frisch gewaschenen Radieschen, die die Haushälterin gerade geputzt hatte.

„Wie man’s nimmt. Die Herrschaften eben, die schon seit Jahren kommen. Der Monsignore aus Rom, der Anwalt aus München, dem ein Bein und ein Arm fehlt. Nicht zu vergessen der ehemalige Staatssekretär aus Bonn. Ja, und neuerdings ein blinder Pfarrer, der hier irgendwo in der Nähe eine kleine Berggemeinde übernommen hat. Das halbe Gesicht verätzt, grauselig, sage ich ihnen. Einmal nur habe ich ihn gesehen. An meinem freien Tag, weil ich im Haus was vergessen hatte.“

David schaute auf die große antike Küchenuhr aus Porzellan, deren metallene Zeiger kurz vor neun Uhr anzeigten, und stand auf. Frau Borgmann schob die Schüssel mit den Radieschen beiseite, hob die Wachstuchdecke hoch und öffnete die kleine Tischschublade, in der sich allerlei Krimskrams befand.

Bevor David sich verabschieden konnte, fiel sein Blick in die Holzlade. Zwischen Küchengarn, Streichhölzern, einer kleinen Metalldose, allerlei Zetteln und Einkaufbons, lag ein Amulett, ähnlich dem aus dem Taxi, das ihn vom Flughafen hierher gebracht hatte.

Frau Borgmann öffnete die kleine Metalldose, entnahm ihr einen Geldschein und bat David, etwas für sie aus dem Trachtengeschäft im Ort mitzubringen. Eine kleine Kette mit Zwischengliedern aus Kuhhorn für eine alte Freundin in Hamburg, die nächste Woche Geburtstag hatte.

Als die Haushälterin die Schublade wieder schloss und das Wachstuch darüber legte, befand sich das Amulett längst in Davids Hosentasche.

Um schneller ins Dorf zu gelangen, nutzte David die Abkürzung am See entlang, die ihn auch am Nachbargrundstück vorbeiführte. Er schaute zum Haus hinauf. Überall waren die Fensterläden geschlossen. Johanna war vor zwei Wochen, ohne ein weiteres Wort mit ihm gewechselt zu haben, mit ihrem Sohn zurück in die Stadt gefahren.

David war es im Grunde egal. Natürlich hatte er darüber nachgedacht, warum Johanna etwas behauptete, von dem sie genau wusste, dass es nicht stimmte. Ein Motiv oder gar eine Erklärung hatte er bis heute nicht gefunden. Wenn Johannas Großvater, der Gerichtspräsident Kranz, noch leben würde, gäbe es vielleicht ein Motiv. Aber der hatte sich vor mehr als dreißig Jahren draußen auf dem See in der Kajüte seines Segelbootes erschossen. David hatte Zeitungsausschnitte im Archiv seines Vaters gefunden. Sein Name war das erste Mal im Dunstkreis der Nitribitt aufgetaucht. In einem der Prozesse, die in der Folge um den mysteriösen Tod der Rosemarie Nitribitt stattfanden, hatte der Gerichtspräsident den richterlichen Vorsitz aus Gesundheitsgründen abgegeben. Zwei Jahre später war er in den Ruhestand getreten. Anschließend hatte er sich mit seiner Familie hier an den See zurückgezogen.

Viel wichtiger war David ohnehin Gabriel Lavants Antwort. Neben den obligatorischen Proben für einen Vaterschaftstest hatte er die erworbene Reliquie und die filterlose Zigarettenkippe beigelegt, die er im Aschenbecher bei seiner Mutter gefunden hatte. Vielleicht würde ihn eine genetische Analyse ein Stück weiterbringen. Denn allzu viel hatte er in den letzten zwei Wochen nicht in Erfahrung bringen können. Bei seinen Internetrecherchen in verschieden Universitätsbibliotheken stieß er zwar immer wieder auf diverse religiöse Gemeinschaften und Sekten, die in irgendeiner Art und Weise entweder mit dem Evangelisten Johannes oder mit dem Sternzeichen Adler im Skorpion in Zusammenhang standen, aber eine Verbindung zu der Reliquie ließ sich nicht herstellen.

Um weitere Post vor dem neugierigen Zugriff der Mutter zu schützen, hatte er das hiesige Amt angewiesen, seine Briefe für die Zeit seines Aufenthaltes postzulagern.

Den Bootssteg mit der Hütte hinter sich lassend, bog David jetzt in einen Kiesweg ein, der an einer vielbefahrenen Landstraße endete, die um den ganzen See herumführte. Dort befand sich eine Bank neben einem Wegkreuz, das irgendeinem Heiligen geweiht oder Bestandteil eines Kreuzweges war.

Im Schatten einer Linde ließ sich David auf der Holzbank nieder und zog Frau Borgmanns Amulett aus der Tasche. Bis auf Größe und Form des Knochens war es mit dem ersten vollkommen identisch, etwas kleiner vielleicht. Zentraler Teil wiederum ein Mittelhandknochen, davon war auszugehen. Wieder hielt David das Stück an seine rechte Hand und verglich es mit seinen eigenen Gliedern. Kein Zweifel, es stimmte von der Größe her mit dem Mittelknochen des Mittelfingers der rechten Hand überein. Ein Kribbeln überzog seinen Rücken. Hinzu kam, dass er das Gefühl hatte, jemand würde ganz nah hinter ihm stehen und ihn beobachteten. Es war aber nicht Davids Art, sich einfach abrupt umzudrehen, um den heimlichen Gaffer brüsk zu entlarven. Im Gegenteil, er blieb ganz bewusst noch eine Weile sitzen und spielte mit der Reliquie in seiner Hand.

Als er endlich aufstand und zur Seite schaute, war niemand zu sehen. Im näheren Umkreis konnte eigentlich kein Mensch gewesen sein, denn eine Wiese reichte bis zur Bank und umwucherte das Wegkreuz. Nicht ein Halm oder eine Wildblume war niedergetreten. Hinten im dichten Wald könnte jemand gestanden und ihn mit einem Fernglas beobachtet haben. Aber würde er das bis hierher spüren?

Wohl kaum. Wenn er aber mit seinem Gefühl, beobachtet worden zu sein, Recht hatte, konnte der Späher nur ein einziges sicheres Versteck benutzt haben. Das Wegkreuz, einen etwa drei Meter hohen Steinbau, der die 4. Station aus der Leidensgeschichte Jesu Christi zeigte. Jesus begegnet seiner Mutter, stand da in teilweise abgeplatzten goldenen Lettern. Darüber befand sich in der Mitte ein verrostetes Fensterkreuz, hinter dem sich eine Einbuchtung befand. In einem Würstchenglas standen verwelkte Wiesenblumen im trüben Wasser. Das daneben stehende ewige Licht, das in einer wannenähnlichen Schüssel eingebettet war, war heruntergebrannt und die dahinter liegende Darstellung der Kreuzwegstation bis zur Unkenntlichkeit verrußt.

Ein Holztransporter näherte sich mit lautem Dieselmotor. David nahm das als Chance, so unbemerkt hinter das Wegkreuz zu gelangen. Zwei, drei Schritte, und er stand hinter der Kreuzwegstation. Da war nichts, was von Bedeutung wäre. Ein paar Zigarettenkippen, ein benutztes abgerolltes Kondom, eine von der Sonne gebleichte Coladose.

Der Laster rauschte vorbei, und David Engel entschloss sich, seinen Weg ins Dorf fortzusetzen.

Am Ortseingang, wo die Gemeinde auf einem großen Holzschild ihre Gäste begrüßte, befand sich ein kleiner Rastplatz mit Holzbänken und ein Brunnen, der sein Wasser in einen ausgehöhlten halben Baumstamm ergoss. Außer einem weißen Van mit schwarzen Scheiben und ausländischem Nummernschild, parkte dort niemand. Im Inneren saß ein Mann um die vierzig vor mehreren Bildschirmen, die die Straße aus verschiedenen Blickwinkeln zeigten. Genüsslich drehte sich der Mann eine Zigarette und setzte sein für ihn so typisches Lächeln auf.

Im Ortskern vis à vis dem Polizeiposten stand das kleine Postamt, das David Engel jetzt betrat, um seine Post abzuholen. Die Schalterbeamtin griff in ein Holzregal, das in viele kleine Fächer unterteilt war, und händigte ihm einen Brief aus.

„Tut mir leid, aber mehr war heute nicht dabei!“

David bedankte sich und riss den Umschlag im Gehen auf.

Stehe draußen

Dein Gabriel

Typisch Gabriel, dachte David, steckte den Brief in seine Tasche und eilte nach draußen. Als er aufblickte, schaute er direkt in die blauen Augen seines besten Freundes, der breit grinsend neben seinem weißen Van mit den schwarzen Scheiben stand.

Mehr als zwei Jahre hatten sich die beiden nicht gesehen. Und so fiel ihre Begrüßung mehr als herzlich aus. Lange hielten sie sich in den Armen, hauten sich abwechselnd auf die Schultern und flachsten miteinander.

„Wieder ein paar graue Haare dazugekommen, was.“

„Dein Bauch hat auch einige Fortschritte gemacht.“

„Das Nomadenleben macht halt alt.“

„Das Singleleben träge und faul.“

Gabriel hatte natürlich die ganze Trennungsgeschichte zwischen David, seiner Frau und den Kindern mitbekommen. Für kurze Zeit hatte der Freund sogar bei ihm gewohnt, bis er eine neue Bleibe gefunden hatte. Aber das waren Geschichten von gestern. Das, was vor ihnen lag, schien umso spannender.

„Und wie lange kannst du bleiben?“

„Die nächsten Wochen gehören dir. Meine Arbeit in Den Haag ist soweit erledigt. Ab und zu werden sie mich für den einen oder anderen Verhandlungstag als Gutachter benötigen. Ansonsten habe ich aber Urlaub genommen und feiere meine Überstunden ab.“

„Hört sich gut an.“

David strahlte. Die Vorstellung, die nächsten Tage, oder gar Wochen mit seinem Freund zu verbringen, ließ seine Stimmung steigen.

„Und, wie sind die Ergebnisse?“

„Komm, erst muss ich dir meine neuste Errungenschaft zeigen.

 

Gabriel öffnete die Seitenschiebetür seines Vans und präsentierte David das Innere seines Wagens.

„Komm mit rein, muss ja nicht jeder mitbekommen, was ich so alles an Bord habe.“

David staunte nicht schlecht. Das Innere des Vans war bis zur Decke mit Elektronik voll gestopft.

„Hier ist alles drin, was dein Herz begehrt. Es gibt kaum eine Untersuchung, die ich nicht von hier aus machen kann“, verkündete Gabriel und hob spielerisch den Zeigefinger. „Zudem habe ich mich nach außen ein wenig abgesichert.“

Gabriel schaltete die Überwachungsmonitore ein und spielte ein wenig mit dem Cursor einer der Computer. Sofort hatten die beiden den gesamten Dorfplatz im Blick.

„Die Kameras gehen automatisch an, wenn sich jemand dem Wagen auf einen Meter nähert. Die Scheiben sind bruchsicher und falls es doch jemand schaffen sollte, was ich übrigens nicht glaube, kann ich den Wagen sofort über Satellit orten. Natürlich kann die Kiste noch mehr. Aber wie ich dich kenne, interessieren dich meine Ergebnisse deiner Proben sicherlich mehr. Also komm, lass uns Essen gehen!“

Gabriel und David verließen den Van, überquerten den Platz und betraten den Biergarten, der zur örtlichen Brauerei gehörte.

Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, legte Gabriel seinen alten Alukoffer auf den Tisch und öffnete die beiden Verschlussschnallen.

„Um dich nicht unnötig auf die Folter zu spannen, sage ich es Dir gleich: Du bist nicht der Vater. Aber freu dich nicht zu früh; denn was ich dir gleich zeigen werde, wird dich trotzdem vom Stuhl hauen.“

Gabriel öffnete seinen Koffer und holte ein dünnes Dossier heraus. Er reichte David ein transparentes Blatt Papier, auf dem seine DNA-Kette abgebildet war, und deutete vielsagend darauf:

„Das sind deine Stammdaten! Und hier kommt die DNA die von dem Jungen, dem Speichel an der Zigarettenkippe und dem kleinen Knochen.“

Nacheinander reichte er ihm die einzelnen dünnen Blätter.

„So und jetzt leg sie mal übereinander.“

David konnte nichts Außergewöhnliches erkennen. Natürlich gab es deckungsgleiche Übereinstimmungen. Aber die hätte es mit der DNA eines Bandwurmes auch gegeben.

„Die verhältnismäßig vielen Übereinstimmungen haben mir zu denken gegeben. Leg mal die DNA der Zigarettenkippe als unterste. Jetzt sieht die Sache schon ganz anders aus.“

Und tatsächlich: durch die neue Anordnung des Übereinanderlegens ergab sich ein fast einheitliches Bild.

„Eins, mein lieber Freund, kann ich dir zu neunundneunzig Prozent sagen. Du bist mit allen genetisch verwandt. Und der Stamm, von dem alles ausgeht, ist die Zigarettenkippe.“

David lächelte zwar, aber in seinem Innersten arbeitete es auf Hochtouren. Der Zigarettenstummel, nun ja, er könnte, zumindest rein theoretisch von seiner Mutter stammen. Obwohl seine Mutter eine ganz andere Marke mit Filter bevorzugte. Aber Johannas Kind war hundertprozentig nicht von ihm. Und wie sollte das Glied eines Fingerknochen, das er einem wildfremden Taxifahrer abgekauft hatte, der zufällig in der ersten Reihe am Flughafen gestanden war, mit ihm in verwandtschaftlicher Verbindung stehen?

Nein, Gabriel musste sich irren, und das gewaltig!

David Engel glaubte nicht an Zufälle oder irgendwelche Fügungen. Durch seinen Beruf hatte er oft genug die Folgen von Aberglauben und den Verirrungen fanatischer Religionsanhängern erlebt. Beides war ihm nicht nur fremd, sondern zuwider.

„Du musst dich irren“, sagte er knapp und versuchte in der Krone einer Kastanie, die dem Biergarten Schatten bot, eine Antwort zu finden.

„Finde dich mit der Tatsache ab und versuche lieber alles in einen Zusammenhang zu bringen“, entgegnete Gabriel lakonisch.

„Du willst mir also sagen, dass die Zigarettenkippe mein Vater oder meine Mutter ist, der Junge und der Knochen meine Geschwister?“ spottete David. „Mit Verlaub, alter Junge, das ist lächerlich, total lächerlich!“

David spürte ein Kribbeln im Bauch, merkte wie das Blut in ihm hochschoss und ärgerte sich gleichermaßen über diese Gefühlsregung, für die es ja überhaupt keinen Grund gab. Gabriel musste sich einfach irren.

„Jetzt kennst du auch den Grund, warum ich persönlich vorbeigekommen bin. Zumal die Zigarettenkippe nur ein Mann geraucht haben kann.“

„Mein Vater ist gestorben, da war ich gerade ein paar Wochen alt, hast du das vergessen?“

David kämpfte vergebens gegen seine Tränen an. Was war los mit ihm? Warum hatte er sich nicht mehr unter Kontrolle?

Er schloss die Augen und sah noch einmal, wie der schwarze Pullmann am Tag seiner Ankunft langsam an ihm vorbei gefahren war. Er spürte wieder dieses unerklärliche Kribbeln, wie vor weniger als einer Stunde an der Kreuzwegstation.

Gabriel rüttelte ihn und holte ihn zurück in den Biergarten.

„Entschuldige, ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.“

„Kein Problem, ging mir genauso, als ich dahinter gekommen bin. Aber glaube mir, wir werden der Sache schon auf den Grund gehen.“

„Hier“, sagte David und schob das zweite Amulett zu Gabriel über den Tisch, „habe ich in der Schublade unserer Haushälterin gefunden.“

„Kein Problem. In ein paar Stunden haben wird das Ergebnis.“

„Als ich vier oder fünf Jahre alt war, hatte ich oft das Gefühl, nein falsch, war ich mir eigentlich ziemlich sicher, dass mein Vater noch leben würde. Aber das sind Kinderphantasien.“

„Wir werden die Wahrheit schon herausfinden. Dafür bin ich hier, dafür bin ich gekommen.“

„Die Wahrheit hatte sich mein Vater auch auf seine Fahnen geschrieben, aber anders als man sich das im Allgemeinen vorstellt. Wenn wir in der Villa sind, werde ich dir das Archiv meines Vaters zeigen, dann wirst du verstehen, was ich meine.“

Als die beiden Freunde den Biergarten verließen, ging die Sonne langsam hinter den Bergen unter.

Schweigend fuhren sie zur Villa am See. Den Auftrag der Haushälterin, die Kette für die Freundin in Hamburg abzuholen, hatte David Engel vergessen.

Die vierte Station

Der Hausherrin war es gar nicht recht, dass ihr Sohn einen Gast mitgebracht hatte, zudem dieser auch noch vorhatte, längere Zeit in der Villa am See zu bleiben. So ging Frau Engel beiden aus dem Weg, zog sich nach dem Mittagessen zurück und telefonierte mit ihren Freunden, die ihr rieten in der Sache nichts zu unternehmen. Einen Tag später kehrte Katharina Kranz, Johannas Mutter, überraschend in die nachbarliche Villa zurück. Sie lieh sich bei Frau Borgmann ein Stück Butter und erkundigte sich ganz nebenbei nach dem Gast aus Den Haag. Noch in derselben Nacht heulten die Sirenen der Alarmanlage des Van. Keine zwei Minuten später stand Gabriel angezogen unten an seinem Wagen. Mehr als einen unscharfen flüchtenden Schatten konnte er auf seinen Überwachungsmonitoren allerdings nicht erkennen. Wenigstens hatten seine Installationen den nächtlichen Unbekannten aber in die Flucht geschlagen. Dennoch galt es, angesichts dieses Zwischenfalls ein paar Verbesserungen vorzunehmen, um sein Warnsystem noch perfekter zu machen, fand Gabriel. Nach dem Bootsausflug mit David würde er sich sofort ans Werk machen.

Gabriel fühlte sich sichtlich wohl am See mit dem Ausblick auf die majestätisch wirkenden Berge. Alles erinnerte ihn an seine Kindheit, als er mit seinen Eltern jedes Jahr im Sommer mit dem Wohnwagen in die Berge gefahren war. Gabriel Lavant stammte aus Den Helder. Dort hatte sein Vater in der ansässigen Marine als Kapitän gedient. Im Winter war das kleine holländische Küstenstädtchen eher beschaulich, erinnerte sich Gabriel, aber im Sommer waren die langen Sandstrände überfüllt, Hotelzimmer wie Ferienwohnungen restlos ausgebucht. Und es gab kaum eine Wiese, auf der für einige Wochen nicht eine kleine Zeltstadt entstanden war.

„Bis zu seinem Ausscheiden aus der Marine sind wir jedes Jahr in die Berge gefahren. Ein Wunder, dass ich überhaupt schwimmen und tauchen gelernt habe“, scherzte Gabriel und grinste David an, der mit aller Kraft auf die Mitte des Sees zuruderte.

„Ungefähr hier wollte Johanna damals mit mir schlafen. Was sage ich, sie wollte ein Kind von mir. Sie war gerade vierzehn Jahre alt geworden. Seltsam, an fast derselben Stelle hat sich übrigens auch ihr Großvater das Leben genommen.“ Gabriel hob die Brauen und blickte sich zur Kranz-Villa um.

„Morgen werde ich meine Taucherausrüstung mitnehmen, vielleicht haben wir Glück, und die Nazis haben hier ihr Beutegold versenkt“, scherzte er und fügte nach einer kleinen Pause hinzu, „übrigens werden wir vom Dach eurer Nachbarvilla beobachtet.“

David war längst in Gedanken versunken. Ihn beschäftigte das Untersuchungsergebnis der zweiten Reliquie. Sie hatte dieselbe DNA wie die erste. Es musste also, irgendwo ein menschliches Skelett geben, das in seinen Einzelteilen zu Amuletten verarbeitet worden war. Auch die weiteren Ergebnisse waren höchst interessant. Der dazugehörige Mensch war zwischen seinem dreißigsten und vierzigsten Lebensjahr gestorben. Gabriel konnte mit Sicherheit sagen, dass das Fleisch durch eine Säure vom Knochen getrennt worden war.

„Mord“, murmelte David, „es muss Mord gewesen sein. Aber wieso macht sich jemand die Mühe, den Leichnam zu zerstückeln und auch die Knochen noch weiter zu verarbeiten?“

„Wir werden das herausbekommen“, versprach Gabriel. „Du mit deinem Wissen und deiner Kombinationsgabe und ich mit meiner Technik. Ich finde, wir sind ein unschlagbares Team.“

David grübelte weiter.

„Ich sollte mit meiner Mutter reden, vielleicht gibt es ja eine ganz normale Erklärung für alles.“

„Hallo?“ unterbrach Gabriel ihn, „wo bleibt deine Logik? Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass deine Mutter da mit drin hängt. Wir werden die ganze Zeit von deiner Nachbarin beobachtet, auch das ist nicht normal, wie Du mir sicher bestätigen wirst. Hier läuft irgendwas ab, wir durchschauen es bloß noch nicht.“

„Und wenn die Knochen zu meinem Vater gehören?“ fragte David leise.

Gabriel winkte sofort ab.

„Vollkommen ausgeschlossen. Überlege doch nur, wie alt dein Vater heute wäre.“

„Und wer beobachtet uns?“

„Da ist jemand auf dem Dach der Nachbarvilla.“

„Vielleicht sollten wir mit Johannas Mutter reden und ihr deine Untersuchungsergebnisse vorlegen“, schlug David vor.

„Warte lieber den Termin des Gerichts ab, das ist früh genug. Außerdem habe ich heute Abend ein Experiment mit dir vor. Wenn es klappt, sind wir ein großes Stück weiter.“

„Ein Experiment, mit mir?“ fragte David und lächelte unsicher.

„Lass dich überraschen!“ grinste Gabriel.

David legte die Ruder ins Boot, lehnte sich zurück und genoss die brennende Nachmittagssonne. Er war froh, dass Gabriel da war und ihm zur Seite stand.

In der Nacht betrat Gabriel Lavant in einer Art schwarzem Kampfanzug und mit zwei Rucksäcken das Zimmer seines Freundes.

„Zieh das über“, sagte er nur und warf David die Ausrüstung zu.

„Was hast du denn vor?“ fragte David verwundert und schlüpfte, ohne eine Antwort bekommen zu haben, in den schwarzen Overall aus leichtem Synthetikstoff.

„Kommen wir hier irgendwie unbemerkt hinaus?“ erkundigte sich Gabriel geschäftig und ließ seine Blicke schweifen.

„Sicher, es gibt einen Weg über die Dächer, den habe ich immer als Kind benutzt.“

Beide grinsten sich wie Lausbuben an, die vorhatten irgendeiner Witwe die Hähnchen durch den Kamin vom Feuer zu stehlen.

So stiegen sie, die Rucksäcke geschultert, aus dem Gaubenfenster. Sie hielten sich an den Eisenhaken fest, die gegen Schneesturz in regelmäßigen Abständen zwischen den Dachkallen eingelassen waren, und hangelten sich so in vollkommener Dunkelheit Stück für Stück bis zur Dachrinne vor. An deren Fallrohr ließen sie sich bis zum Garagendach herunter. Von dort war es nur noch ein kleiner Sprung auf den angrenzenden Rasen.

Dann huschten sie weiter über die Wiese, um schnell aus dem Blickfeld der Villa am See zu verschwinden.

„Hast du keine Angst um deinen Wagen?“ fragte David, als sie außer Reichweite der Villa waren und eine kleine Pause machten.

„Nein, ich habe ein paar Extras aktiviert, die jeden in die Flucht schlagen werden.“ orakelte Gabriel.

„Und jetzt?“

„Jetzt führst du mich zu diesem ominösen Wegkreuz, an dem du dich beobachtet gefühlt hast.“

 

Ein seltsames Gefühl in vollkommener Dunkelheit auf einer Bank zu sitzen, aber David vertraute seinem Freund. Seine unkonventionellen Methoden hatten in der Vergangenheit schon des Öfteren zu sensationellen Erfolgen geführt. So war er beispielsweise mit einer großen Schar Frauen aus einem Dorf nahe Prijedor in Zentral-Bosnien zu Fuß aufgebrochen, um die Gräber ihrer erschossenen Männer zu finden. Eine Suche, die von den zuständigen europäischen Behörden nach einem halben Jahr eingestellt worden war, weil sie als hoffnungslos galt. Drei Tage war Gabriel mit den Bosnierinnen scheinbar ziellos durch die unwegsame Gegend geirrt, bis eine der Frauen auf einem Feld plötzlich angefangen hatte, laut zu schreien. Sofort hatten die anderen vom Krieg gezeichneten Dorfbewohnerinnen in ihr Wehgeschrei mit eingestimmt. Gabriel hatte damals persönlich die Ausgrabungsarbeiten geleitet und war gemeinsam mit seinen Mitarbeitern schnell fündig geworden. Ein Grab, aus dem sie sechsundachtzig männliche Leichen hatten bergen müssen.

Allein der Gedanke an Massengräber jagte David kalte Schauer über den Rücken.

„Gabriel“, flüsterte er, „wo bist du?“

Aus der Dunkelheit kam keine Antwort. Schon spürte er wieder dieses Kribbeln, als würde jemand direkt hinter ihm stehen. Aber da war niemand. Alles Einbildung, nicht mehr und nicht weniger. David streckte die Arme aus und griff mehrfach ins Leere. Nein, da war wirklich nichts. Inzwischen hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Bis zum Waldrand konnte er die leere Wiese erkennen.

„Gabriel?“

David stand auf. Ihm wurde die Sache langsam zu dumm.

„Und, spürst du was“, flüsterte Gabriel ihm ins Ohr, der plötzlich wie aus dem Nichts neben ihm aufgetaucht war.

David zeigte mit seiner Hand in die Dunkelheit.

„Da, da! Ich habe das Gefühl, als ob da jemand stände. Aber da ist niemand.“

„Bleib so!“

Gabriel streckte seinen Arm parallel zu Davids aus. Eine Stabtaschenlampe blitzte auf und richtete ihren Lichtkegel direkt auf das Eisengitter des Wegkreuzes.

Langsam gingen die beiden darauf zu. Nichts hatte sich dort verändert. Die abgebrannte Kerze in der schwarzen Schale, die verwelkten Wiesenblumen im Würstchenglas, alles stand noch an seinem Platz.

Gabriel stellte seinen Rucksack auf den Boden und holte einen Akkuschrauber heraus. In Sekundenschnelle löste er geschickt die Schrauben des Eisengitters. Vorsichtig nahm er es ab und reichte es zusammen mit der Stabtaschenlampe an David weiter.

„Ich habe es geahnt“, flüsterte Gabriel, stellte die abgebrannte Kerze beiseite und nahm vorsichtig die Schale heraus. Mit einem skalpellähnlichen kleinen Messer kratzte er vorsichtig an der schwarzen Lackierung. Was da im Schein der Stabtaschenlampe unter der Farbe hervorkam, war ein Knochen. Von der Form her war es auch diesmal ein Leichtes, ihn zu bestimmen. Kein Zweifel, es handelte sich um das Becken eines Menschen.

Ungläubig starrte David auf das lackierte Skelettteil und schaute zu, wie Gabriel mit dem kleinen Messer ein winziges Stück Knochen abschabte und es in einer kleinen Plastikdose verschwinden ließ.

„Wir müssen einen Abdruck machen“, erklärte er kurz, „in deinem Rucksack ist alles, was wir dafür brauchen.“

David holte die Schalen, die zwei Komponentenpulver und einen Wasserkanister aus seinem Rucksack.

Gabriel begann sofort damit, das weiße Pulver mit der Flüssigkeit zu verbinden. Während sie die chemische Reaktion beobachteten, schwante ihnen beiden, dass sie in dieser Nacht höchstwahrscheinlich noch mehrmals fündig werden würden.

Ein Kreuzweg hat normalerweise vierzehn Stationen, kalkulierte David im Stillen. Unmöglich, das in einer Nacht zu schaffen.

Gabriel tauchte bereits das schwarzlackierte Becken in den flüssigen Kautschuk.

David schulterte unterdessen den Rucksack seines Freundes und wollte schon zur nächsten Station aufbrechen, da hielt ihn Gabriel zurück.

„Das machen wir morgen bei Tag“, erklärte er entschlossen. „Ich habe da nämlich ein neues Gerät, das erleichtert unsere Arbeit ungemein.“

Dann begann er, sich genüsslich eine Zigarette zu drehen und machte es sich im Gras bequem.

„Drehst du mir auch eine?“ fragte David und setzte sich neben ihn.

Gabriel schaute ein wenig irritiert, hatte er David doch, solange er ihn kannte, nie rauchen gesehen. Und weiß Gott, sie hatten gemeinsam grauseligere Funde als diesen hier erlebt.

„Ich habe dein Dossier über die Zigarettenkippe gelesen“, sagte David leise und nahm einen ersten zaghaften Zug, „eine original Schweizer Davidoff, deren Filter abgebrochen worden ist, richtig?“ Gabriel nickte und blies Rauchkringel in die Nachtluft.

„Richtig!“

„Ich kenne nur einen, mit so einer Marotte“, sinnierte David und zögerte. Gabriel führte seinen Gedanken zu Ende:

„Ich weiß, dein Vater, aber der ist schon seit vierzig Jahren tot. Aber keine Sorge, wir werden alles herausfinden, dafür bin ich schließlich da.“

Schweigend saßen die beiden in der Wiese und warteten darauf, dass sich die Gummiform festigte.

Das Archiv des Vaters wies eklatante Lücken auf. Das war David sofort aufgefallen, als er einen Tag nach seiner Ankunft in den Keller gestiegen war. Der oder diejenigen, die all die Akten, Filmrollen, Kontaktabzüge und Zeitungsausschnitte entwendet hatten, mussten sich ihrer Sache ziemlich sicher gewesen sein und gezielt gesucht haben. Sie hatten sich zumindest nicht die Mühe gemacht, Lücken in den Regalen zu schließen oder überhaupt Spuren zu verwischen. Vor allem die Bilder und Unterlagen aus Johnny Engels Frankfurter Zeit waren verschwunden. Mit der Geschichte von Rosemarie Nitribitt hätte er gern sein Buch über den Vater begonnen: Wirtschaftswunder. Es geht wieder aufwärts in Deutschland, und mitten drin diese Frau. Welche Rolle hatte sie gespielt? Und in welchem Zusammenhang hatte sie zu seinem Vater gestanden? Mit eben diesen Fragen müsste er das Buch beginnen und es in den Fluten der Hamburger Sturmflut von 1962, kurz nach seiner Geburt enden lassen. Zum Glück hatte er bei seinen letzten Besuchen immer wieder Unterlagen eingescannt und auf seinen Laptop geladen. Aber das übrig gebliebene Material waren Fragmente, die niemals ausreichen würden, um eine fundierte Geschichte zu beginnen. An die zweihundert Aktenordner, in denen Kopien von Frankfurter Prozessprotokollen abgeheftet waren, fehlten komplett. Ähnlich verhielt es sich mit den Bildern vom Frankfurter Leichenschauhaus und den unzähligen Beerdigungsbildern, auf denen eine Unzahl von Trauergästen abgebildet war. Fünfziger Jahre, das konnte er einordnen. Aber welches Jahr, welcher Tag und um wessen Beerdigung handelte es sich überhaupt?

David nahm sich vor, zumindest auch noch die restlichen Unterlagen zu dieser Sache einzuscannen. Ob er alles einordnen konnte oder nicht - die gigantische Anzahl an Bildern und Negativen galt es zu sichern. Dann konnte man in Ruhe weitersehen.

Natürlich hatte er die Mutter zur Rede gestellt. Gleich nach der Entdeckung. Und was hatte sie gemacht? Ihm eine weitere Lüge aufgetischt. Mit der üblichen Nonchalance, die ihn so ärgerte, weil sie ihn einmal mehr für dumm verkaufte.

„Ein Museum interessiert sich für den Nachlass deines Vaters“, hatte sie achtlos gesagt und nicht einmal von ihrem Buch aufgeschaut. „Er hat mit seinen Bildern Geschichte dokumentiert, Zeitgeschichte. Es war längst an der Zeit, dass das Werk deines Vaters angemessen gewürdigt wird.“

Und als ob das alles noch nicht genug gewesen wäre, hatte sie noch eine ihrer üblichen Nörgeleien nachgesetzt:

„Du und dein Buch. Wie lange schiebst Du es schon vor dir her, ein Buch über deinen Vater zu schreiben?“

Es war nicht zu übersehen gewesen, dass sie ihn damit getroffen hatte. Er war stumm und ihr eine Antwort schuldig geblieben. Tausend Dinge gingen ihm seither durch den Kopf.

Die letzten zehn Jahre waren wie im Fluge vergangen. Von wirklicher Selbstbestimmung keine Spur. Seine Ehe war daran gescheitert, und von einem innigen Verhältnis zu seiner Mutter konnte man auch nicht gerade sprechen. Eigentlich war er sich auch heute noch selbst genug. Es gab einfach so viele Dinge, die ihn interessierten, fesselten. Mehr als genug für ein Leben.