Joseph

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Johanna vom See

Am späten Vormittag wachte David in seinem schmalen Bauernbett auf. Lärm von draußen hatte ihn geweckt. Auf dem Rücken liegend, öffnete er die Augen und ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Alles war so geblieben, wie er es sich vor Jahren eingerichtet hatte. Ein eintüriger Kleiderschrank, eine emaillebeschichtete Waschschüssel auf einem Metallständer, daneben ein Schränkchen mit einem Wasserkrug obenauf, der sich durch den Spiegel an der Wand verdoppelt zu haben schien. Die gesamte Einrichtung stammte aus den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts und war bei einer Haushaltsauflösung durch Zwangsversteigerung erworben worden. David selbst hatte die Stücke ausgesucht. Auch den Stuhl, den Tisch und das kleine Bücherregal. Er liebte diese schlichte Art von Provisorium.

Man packt einfach seine Tasche und geht. Wer nichts hinterlässt, vermisst auch nichts. Zudem denkt es sich in solchen Räumen besser. Nur nicht in diesem Augenblick. David stand auf, um das Gaubenfenster zu schließen. Draußen auf dem Nachbargelände spielte eine Mutter mit ihrem Kind Nachlaufen. Der Junge, höchstens acht Jahre alt, hatte die Frau jetzt erreicht und riss sie von hinten zu Boden. Sie wälzten sich im weichen Gras und wurden dabei von Sonnenstrahlen, die sich einen Weg durch die Blätter der Obstbäume suchten, getroffen. Die Mischung aus Licht und Schatten, die auf die beiden im Gras tollenden Gestalten fiel, veranlasste David dazu, der Szene länger beizuwohnen, als er ursprünglich beabsichtigt hatte. Für einen kurzen Moment dachte er an Aline und seine beiden Kinder François und Jean. Ein unbeschwerter Sommer mit leichten Gedanken und schönen Bildern. Wie lange war das her? Er versuchte sich an das Jahr zu erinnern. Da rief von unten eine Stimme seinen Namen. Die junge Frau saß jetzt im Gras, in ihrem Schoß der Junge, und winkte nach oben.

„Die Johanna“, murmelte David für sich und lächelte. Gut gelaunt ging er pfeifend zum Waschtisch. Er füllte das kalte Wasser aus der Kanne in die Schüssel und steckte anschließend seinen Kopf bis über die Ohren in das kühle Nass. Nach anfänglicher Stille hörte er, wie unten seine Mutter mit einer der Hausangestellten sprach. Zwei undeutliche dumpfe Stimmen drangen bis zu ihm hinauf und unter die Wasseroberfläche, mehr nicht. Mit einem Blubbern und Rauschen zog er seinen Kopf wieder aus dem Wasser. Sein langes, nasses Haar klatschte auf seinen Rücken. David schaute auf seine Armbanduhr. Fast anderthalb Minuten. Gar nicht so schlecht für jemanden, der vollkommen aus der Übung war. Mit seinen tropfnassen Haaren nahm er sich seine Kleider vom Stuhl und zog sich ohne vorheriges Abtrocknen an. Sein Blick fiel auf den kleinen unversehrten Rest eines verkohlten Blatt Papiers und eine filterlose Zigarettenkippe, die auf dem Tisch lagen. Seine kleine Beute aus der letzten Nacht. Vorsichtig steckte er die Sachen in kleine Klarsichthüllen mit Plastikverschluss und verstaute sie in seiner seesackähnlich geschnittenen Ledertasche.

Lächelnd verließ David sein Zimmer und ging die Treppe herunter, die mit Utensilien aus dem späten Mittelalter so voll gestellt war, dass nur ein schmaler Durchgang blieb. Unten in der Halle hingen an den Mahagoniwandkassetten unzählige Geweihe von Rot- und Dammwild aus der hiesigen Umgebung. Mit beiden Händen öffnete er die große Jugendstilschiebetür zum Esszimmer.

„Die Johanna ist ja da“, begrüßte er seine Mutter, die am Kopfende eines Tisches saß, an dem mit Sicherheit vierzig Personen bequem Platz nehmen konnten.

„Die gute Laune wird dir schnell vergehen. Du hast Post vom hiesigen Amtsgericht. Eine wirklich unappetitliche Geschichte“, antwortete die Mutter und bestrich mit einem kleinen Silbermesser den frischen Toast mit englischer Orangenkonfitüre.

Am anderen Tischende war ebenfalls eingedeckt. Daneben ein silbernes Tablett mit einer handvoll Briefe.

David hatte sich gerade gesetzt, da öffnete sich eine Tapetentür, und die Haushälterin Frau Borgmann betrat mit einer silbernen Kanne voll heißem Kaffee den Raum.

„Sie trinken doch noch Kaffee, Herr David?“ war ihre kühle hanseatische Begrüßung, wie all die Jahre zuvor auch.

Seit mehr als vierzig Jahren war sie Angestellte im Hause Engel und gehörte längst zur Familie. Nur an ihrem Geburtstag und bei hohen Feiertagen zog sie sich zurück in ihr Zimmer und ward den ganzen Tag nicht gesehen.

„Es hat sich nichts geändert“, war seine zu einem Ritual gewordene Antwort.

„Das ist schön“, sagte Frau Borgmann mit einem Lächeln und schüttete den heißen Kaffee in eine Porzellanschale. Anschließend stellte sie die Kanne auf den Tisch. David fasste ihre Hände, zog sie auf seinen Schoß und küsste sie auf ihre faltige Wange.

„Aber David, dafür sind sie wirklich zu alt.“

„Dafür ist man nie zu alt!“ antwortete David und drückte sie fest an sich. Er roch ihre indische Gewürzseife, die ihn jedes Mal in die Kindheit zurückversetzte.

„An deiner Stelle würde ich mich um die Post kümmern“, warf die Hausherrin, ohne ihren Blick zu heben, vom anderen Ende des Tisches ein.

Frau Borgmann machte sich von Davids Schoß frei, glättete ihre Schürze und verschwand ebenso leise wie sie gekommen war, durch die Tapetentür in die Küche.

„Ist Johanna schon länger hier?“ fragte David interessiert während er die Post, die allesamt bereits geöffnet worden war, sortierte.

„Es steht zu befürchten, dass diese unsägliche Person für immer hier zu bleiben gedenkt“, war die Antwort der Mutter, die über ihren Brillenrand kurz zu ihm herüberschaute. „Ein großer Fehler, seinerzeit das Nachbargrundstück nicht mit erworben zu haben.“

Der Kauf des Anwesens, das sich wie ein Kuchenstück zum See hin verengte, fiel in dasselbe Jahr wie das Verschwinden der Kamera von Johannes Engel, die Jahre später, während der Olympischen Spiele 1972, in München beim einem Trödler wiederaufgetaucht war. Am 1. November 1957 war der Fotoapparat als gestohlen gemeldet worden. Am 3. November, nur drei Tage später, wurde der Kaufvertrag für das Anwesen bei einem Frankfurter Notar unterschrieben. Ein Nylonstrümpfehersteller aus dem Main-Taunusgebiet hatte Johannes Engel das große Grundstück mit dem Herrenhaus für einen Spottpreis überlassen. David hatte die Unterlagen unten im großen Archiv des Vaters gesichtet. Leider war der ehemalige Besitzer längst verstorben und die Hinterbliebenen hatten kein Interesse gezeigt, mit ihm in Kontakt zu treten, geschweige denn die alten Sachen wieder aufzuwärmen. Auch in der Kopie der Polizeiakte zum Fall des gewaltsamen Todes der Rosemarie Nitribitt, an die der Vater durch irgendwelche dunklen Kanäle herangekommen war, tauchte der Name des Nylonstrümpfefabrikanten auf. Seltsam war nur, dass er zur Sache nie verhört worden war. Zumindest gab es keinen Vermerk in einer der dicken Polizeiakten. Ein Anruf bei dem sich längst in Rente befindlichen Nachtportier hätte aber schon ausgereicht, um eine Verbindung zwischen dem Fabrikanten und der Toten herzustellen. Fast zwanzig Jahre war es nun her, dass David mit ihm gesprochen hatte. Anfangs naturgemäß über den Vater, der nach der Meinung des Portiers schon ein komischer Kauz gewesen sei.

„Es war die erste Nacht Ihres Vaters in unserem Hause. Er konnte nicht schlafen, wie er sagte, und so kamen wir unten im Empfang ins Gespräch. Er erzählte von seinen Kriegserlebnissen, - besonders von den Brandbomben, die er als Kind erlebt hatte. Ihr Vater bezeichnete sie als unauslöschliches Trauma und deshalb wollte er doch allen Ernstes die Generalpläne des Hotels einsehen, Fluchtwege, Versorgungsschächte, alles wollte er wissen. Er hat wirklich nicht losgelassen, bis ich ihm dann die Pläne mit auf sein Zimmer gegeben habe. Ein überaus ängstlicher Mensch ist Ihr Herr Vater gewesen. Dafür habe ich einen Blick, das können sie mir glauben.“

Die Wirklichkeit muss indes ein wenig anders ausgesehen haben. Die abfotografierten Pläne des Hotels waren selbstverständlich auch im Archiv. Auf den daraus entstandenen Blaupausen waren mit verschiedenen Farbstiften Linien gezogen. An manchen Grundrissen der Zimmer war an den Wänden ein X eingezeichnet. Die Frage, welches Zimmer der Nylonstrümpfefabrikant hatte, konnte der ehemalige Nachtportier sofort beantworten, da dieser seit Jahren immer dieselbe Suite gebucht hatte. Sieben Kreuze waren im Grundriss der Senatorsuite von Davids Vater eingezeichnet worden. David hatte keine Kosten gescheut und die großzügigen Räumlichkeiten für zwei Tage angemietet. Durch Abklopfen der Wände hatte er gleich am ersten Tag alle sieben Eintragungen lokalisiert. Naturgemäß waren die Räumlichkeiten über die Jahre des Öfteren renoviert worden. Eines aber war geblieben. Die Ausfüllungen mit Gips. Die Ausmaße entsprachen einem Loch, in das eine Kamera, wie sie der Vater damals als vermisst gemeldet hatte, ohne weiteres hineingepasst hätte.

„Unser Anwesen am See war ein Hochzeitsgeschenk deines Vaters gewesen“, hatte die Mutter ihm auf seine Fragen hin lapidar geantwortet. David wusste es jedoch besser. Das Haus war zu Lebzeiten seines Vaters nie auf die Mutter umgeschrieben worden.

Amtsgericht prangte in dicken Lettern auf dem auf Umweltpapier geschriebenen Brief.

Ein feines Lächeln verbreitete sich um den schmalen Mund der Mutter, als David ohne ein Wort zu sagen aufstand und den Raum verließ. Über die Terrassentür betrat er den Garten und lief über den gepflegten Rasen. Mit einem seitlichen Schwung hatte er den Zaun übersprungen und stand nach wenigen Metern vor Johanna, die ihn mit festem Blick anstrahlte. David holte Luft. Er wusste genau, was er jetzt sagen wollte. Aber da war dieses Gesicht mit den unzähligen Sommersprossen, dem großen fleischigen Mund, da waren diese markante Nase, die kleinen Ohren und das Flachshaar, das wild nach allen Seiten abstand.

 

Äußerlich hatte sie sich kaum verändert. Zumindest das Kindliche in ihrem Gesicht war geblieben. Die funkelnden Augen, der trotzige Mund. Fast so wie vor zehn Jahren.

Johanna war damals gerade mal vierzehn Jahre alt. Sie waren in jenem Sommer gemeinsam an einem heißen Nachmittag mit dem Boot hinaus auf den See gefahren. Geradeheraus hatte sie es ihm ins Gesicht gesagt, dass sie mit ihm schlafen wollte.

„Ich will ein Kind von dir, jetzt und hier auf dem See!“

David blinzelte mit den Augen. Die Sonne hatte ihm direkt ins Gesicht geschienen. Vor ihm war Johanna gesessen, die vierzehnjährige Tochter der Nachbarn, die er nur in Konturen hatte erkennen können. Er hatte kurz überlegt, wie er einem Mädchen in diesem schwierigen Alter, antworten konnte, ohne es zu verletzen.

„Ich bin verheiratet und habe bereits zwei Kinder“, hatte er erwidert und dabei um die Plattheit seiner Antwort gewusst.

„Deine Frau ist langweilig und deine Kinder mittelmäßig, ich glaube kaum, dass du überhaupt der Vater bist.“

„Werd’ nicht unverschämt!“

David hatte das Ruderblatt schräg ins Wasser gesetzt und zum Schlag ausgeholt. Eine Wasserwand war steil aufgestiegen und über Johanna zusammengebrochen. Es hatte einfach platsch gemacht und das Mädchen war von oben bis unten klatschnass gewesen.

„Schlappschwanz“, war Johannas ganzer Kommentar gewesen. Sie war aufgestanden und hatte dabei durch die Verlagerung ihres Gewichts versucht, das Boot zum Kentern zu bringen. Als das nicht den nötigen Erfolg gebracht hatte, zog sie ihr T-Shirt und das Bikiniunterteil aus und sprang ins Wasser.

Kein Jahr später, gerade mal fünfzehn Jahre alt, hatte sie einen gesunden Jungen geboren, und alle Welt rätselte seitdem, wer wohl als Vater in Frage kommen könnte.

„Hier“, mehr brachte David nicht heraus und überreichte Johanna den Brief des Amtsgerichts. Etwas abseits saß der Junge auf einer Schaukel, die zwischen zwei Obstbäumen befestigt war. In regelmäßigen Abständen tauchte sein Gesicht aus dem Schatten der Bäume auf. Ein lächelndes, fröhliches Kindergesicht strahlte ihn an. Es war Davids Gesicht, genauer gesagt, sein eigenes vor zweiunddreißig Jahren, daran gab es keinen Zweifel.

Vom Regen in die Traufe

Ganze drei Wochen bleibt der kleine Martin in der Obhut des ehrwürdigen Pfarrers von Tamm. Dann bringt ihn der katholische Adelsmann in das fast zweihundert Kilometer entfernte Kloster und Internat. Um zur nächsten Bahnstation zu kommen, müssen sie zu Fuß den Berg überwinden, was zu dieser Jahreszeit nur noch über die Passstraße möglich ist. Martin sieht von weitem die kleinen Rauchschwaden, die wie Schweinekringel aus dem Kamin des Huftreteranwesens steigen. Der Pfarrer aber verweigert einen Besuch. Sehnsüchtig und mit Tränen in den Augen schaut Martin zurück und schwört bei Gott, ein Leben lang auf das Kind aufzupassen, das einen solchen nachhaltigen Eindruck auf ihn hinterlassen hat. Bei den immer ungestümeren und hemmungslosen nächtlichen Übergriffen des Kirchenmannes hat er oft das Bild des kleinen Joseph vor sich gehabt. Lichtumstrahlt hat er ihm durch das Kirchenfenster des Evangelisten Johannes zugelächelt, als wolle er ihm sagen, dass bald alles vorbei sein und ein Ende haben würde. Das hat ihm Trost gegeben. Auch wenn er manchmal wie ein ganz normaler Junge denkt. Vom Regen in die Traufe. Dieser Satz lässt ihn eine ganze Weile nicht mehr los. Obwohl er es als Sünde empfindet, undankbar zu sein. Selbst als er zum ersten Mal in seinem Leben in einem Zugabteil sitzt und durch das Fenster die winterliche Landschaft an sich vorbeiziehen sieht, kann er keine Freude empfinden. Der Pfarrer liest sein Brevier, und der kleine Martin muss unwillkürlich an den Schiffsjungen Jim Hawkins denken, der sich auch so maßlos im Schiffskoch John Silver getäuscht hatte. Aber noch ist er der felsenfesten Überzeugung, dass alles einen guten Ausgang nehmen muss. Spät am Abend hinterlassen der adlige Kirchenmann und der Junge eine kleine Spur im Schnee, die durch einen eisigen Wind schnell verweht wird. Zwei Stunden gehen sie durch die frostige Kälte, da sehen sie vor sich einen düsteren rechteckigen schwarzen Kasten, der von zwei großen schlanken Türmen gerahmt wird. Der kleine Martin träumt von einer heißen Suppe und einem Ofen, der bullert und in dessen Innerem man das Holz knacken hört. Aber nichts dergleichen erwartet ihn. Im Kloster und im angrenzenden Jungeninternat hat man längst schon zu Abend gegessen, und Ausnahmen werden grundsätzlich nicht gemacht. Das alte Gemäuer ist kalt und feucht. Von einem Ofen keine Spur. Zum Abschied schenkt ihm der ehrwürdige Pfarrer von Tamm eine kleine Bibel und segnet sein gesenktes Haupt. Der kleine Martin blickt erst wieder auf, als die Schritte seines Peinigers auf dem Steinboden verklungen sind. Ein Ordensbruder führt ihn dann durch weitläufige dunkle Gänge in den Internatstrakt.

In Anbetracht des karg eingerichteten und zudem eiskalten Schlafsaales, in dem vierundzwanzig Betten stehen, kommt dem kleinen Martin wieder dieser eine Satz in den Sinn. Vom Regen in die Traufe. Das aus rohem Holz gezimmerte Bett ist mit einem Strohsack ausgelegt, der an manchen Stellen steinhart, an anderen feucht ist. Es riecht nach frischem Jungenurin und Schimmel. Eine schwere, kratzige Decke dient dem kleinen Martin zum Zudecken. Gegen die eisige Kälte, die durch die Ritzen des Fensters unter dem er schläft, zu ihm ins Bett kriecht, kann sie aber nichts ausrichten. Verloren starrt er an die Decke, wo sich ein Fleck von der Farbe und Größe eines Eieromelettes, wie es die Mutter immer gemacht hat, befindet. Er möchte weinen, aber sein Gesicht ist bereits nass, denn von oben tropft es stetig. Aus den Nachbarbetten ist ein gedämpftes Kichern zu hören.

Sieben Jahre wird es dauern, bis er es als Primaner zu einem Einzelzimmer geschafft hat. Wenn er jetzt in die Zukunft sehen könnte, würde er bestimmt auf der Stelle umkehren und sich freudestrahlend in die prügelnden Arme des Vaters werfen. Doch niemand, auch er nicht, kann wirklich wissen, was auf ihn zukommen wird.

Ehe der Kirchenwirt nach mehr als drei Wochen unter Anteilnahme aller Dorfbewohner unter die Erde kommt, werden im Ort zwei Kinder geboren.

Dr. Holzer beobachtet nicht erst hier auf der Beerdigung die junge Kirchenwirtin. Wann immer es die Zeit zulässt, beschattet er sie und führt Buch über jeden ihrer Schritte. Etwas Seltsames hat sich nämlich am Tag nach dem Tod ihres Mannes ereignet, für das er noch keine hundertprozentige Erklärung gefunden hat. Im unterdrückten Siegestaumel hat er tags darauf in den frühen Morgenstunden den Gasthof aufgesucht, in dem es von Polizeibeamten nur so wimmelte. Die Leiche des Kirchenwirts ist in einem erbärmlichen Zustand gewesen. Ratten haben den Verstorbenen angeknabbert und teilweise sind Gliedmaße abgehackt gewesen. Nachdem er der Witwe eine Beruhigungsspritze, die in Wirklichkeit ein Schlafmittel beinhaltete, gesetzt hat, ist er in den Keller gestiegen, um in der Dunkelkammer als erstes nach den verfänglichen Negativen zu suchen. Zu seiner Überraschung ist der Raum aber leer gewesen. Nichts hat mehr darauf hin gedeutet, dass hier einmal Filme entwickelt und Bilder vergrößert worden sind. Unmöglich kann die Frau die schweren Apparaturen und Wannen unbemerkt an der Polizei vorbei nach oben geschleppt haben. Das muss jemand anderes erledigt haben. Wenn sie aber einen Helfer gehabt hat, muss er es baldmöglichst herausbekommen. Vielleicht gibt es ja doch einen Liebhaber, mit dem sie unter einer Decke steckt.

So steht Dr. Holzer auf der Beerdigung, lauscht nur scheinbar den Worten des Pfarrers und lässt die junge Witwe nicht aus den Augen. Nichts, aber auch rein gar nichts, ist ihm in den letzten Tagen als besonders oder bemerkenswert aufgefallen. Die Frau verhält sich, wie es sich für eine Witwe eben schickt. Außer mit dem Pfarrer, dem ständig besoffenen Schreiner und Totengräber, einem Versicherungsvertreter aus der Stadt, dem Postboten, dem Fleischer und nicht zuletzt dem Brauereifahrer hat sich niemand der Kirchenwirtin genähert.

Er ist mir kein guter Mann gewesen, denkt die junge Witwe indes am offenen Grab. Betrogen hat er mich mit jeder Bedienung. Und wenn er nachts zu mir ins Bett gestiegen ist, hat es fast immer wehgetan. Mit siebzehn hat er mich zur Frau gemacht. Jetzt bin ich sechsundzwanzig, und meine Hände sind so rau wie bei einer Siebzigjährigen. Am besten ist es, ich verkaufe alles und ziehe in die Stadt. Oder ich gehe nach Italien.

Bei diesem Gedanken wird es ihr innerlich warm ums Herz, denn sie muss unwillkürlich an Antonio denken, den Scherenschleifer und Kesselflicker, der drei Tage bei ihnen im Haus genächtigt hat. So zärtlich und einfühlsam ist noch nie jemand zu ihr gewesen. Ein Lächeln wagt sie jedoch nicht über ihr Gesicht huschen zu lassen, denn sie spürt die bohrenden Blicke des Landarztes auf sich.

Seit Tagen schleicht er um mich herum, sucht meine Nähe, geht es ihr stattdessen durch den Kopf, ob er mehr von mir will? Und wenn ja – was genau?

Der Sarg wird an Seilen in die Grube heruntergelassen, und die kleine Gruppe von Gebirgsjägern schießt einen Salut. Da hat der Landarzt längst einen Plan. Von seinem Erfolg mehr als überzeugt, folgt er der Trauergemeinde tänzelnd zum Leichenschmaus in den Kirchenwirt.

Zur selben Zeit prostet ein Brauereifahrer in der Bezirksgemeinde seinem großzügigen Gastgeber zu. Sie sitzen in der Schwemme der Brauerei und genießen schon die fünfte Halbe miteinander.

„Wenn’s wollen, können’s ruhig des Öfteren für mi einspringen“, lacht der Bierkutscher und vermutet irgendeine Liebelei oder spinnerte Wette hinter der ganzen Maskerade. Immerhin musste er seinem Gegenüber für ein paar Stunden seine Arbeitskleidung und den Lieferwagen überlassen.

„Ein kleiner Spaß, nichts weiter“, antwortet der Fremde und bestellt eine neue Runde.

Das Fotolabor aus dem Kirchenwirt zu holen, ist wirklich ein Kinderspiel gewesen. Im hinteren Teil des Kellers sind Fässer gestapelt, die man aufklappen kann. Während der Besatzungszeit durch die Alliierten hat sie der Kirchenwirt zum Schmuggeln eingesetzt. Voller Stolz hat der Wirt sie ihm damals gezeigt, als er da unten den Raum für sein Labor anmieten wollte. Der Rest ist ein Leichtes gewesen. Von dem großen Kalender in der Küche hat der Fremde von der nächsten Bierlieferung gewusst. So hat er nur auf der Passstraße dem Brauereiwagen entgegenzugehen brauchen. Ein Geldschein hat ausgereicht, um in die Verkleidung zu schlüpfen und den Lastwagen für ein paar Stunden zu bekommen.

Der Fremde verabschiedet sich freundlich von seinem Zechkumpan. Er überquert den Platz mit dem malerischen Marktbrunnen, biegt in eine Gasse ein, umgeht den ganzen Häuserblock und betritt durch eine Pendeltür das ehrwürdige Hotel Zum roten Adler.

Der Portier rümpft die Nase, als der Fremde sich nach der Zimmernummer eines Gastes erkundet. Der Schlüssel hängt nicht am Haken, und er hat die Order, jeden, der nach dem Gast fragt, nach oben zu schicken. Zumindest verschwindet der ungepflegte Fremde auf diese Weise schnell im Aufzug und verschandelt nicht seine Empfangshalle.

Trotz roter Teppichläufer knarren die Dielen unter den schweren Bergschuhen. Der Fremde schaut sich mehrmals um, ehe er den Schlüssel hervorkramt und das Zimmer aufschließt. Sein Weg führt sofort ins geräumige Badezimmer vor den großen Spiegel, wo er sich durch das Herunterziehen seiner Perücke, das Abreißen der buschigen Augenbrauen und des Stoppelbarts seiner Verkleidung entledigt. Er muss mehr als vorsichtig sein, denn sie sind hinter ihm her. Eine unsichtbare Macht, die er nicht greifen kann, jagt ihn. Er weiß, dass sie von Tag zu Tag mehr werden. Sie wollen ihn vernichten, was nicht weiter verwunderlich ist. Die Wahrheit ist ihr größter Feind und sein Kapital. Er lässt ein heißes Bad ein und entledigt sich auch seiner Kleider. Dann breitet er seinen Mantel auf dem Bett aus, öffnet vorsichtig mit einer Rasierklinge die Naht des Futters und holt mehrere große Geldscheine heraus.

Fürsorglich kümmert sich der Landarzt Dr. Holzer um die Witwe. Angezogen liegt sie auf dem Bett, während die Dorfgemeinschaft unten im kleinen Saal feuchtfröhlich und lautstark Abschied von ihrem Mann, dem Kirchenwirt, nimmt. Der Landarzt öffnet einen Blusenärmel der jungen Witwe und schiebt ihn nach oben. Routiniert bindet er ihr den Gummischlauch fest um den Oberarm. Die Venen schwellen augenblicklich an, und auf blasser Haut zeichnen sich bläulich ihre Adern ab. In der silbernen Nierenwanne liegt schon das Spritzenbesteck bereit. Mit einer Rasierklinge durchtrennt Dr. Holzer die Spitze der Glasampulle und zieht die Flüssigkeit auf. Ein leises Stöhnen ist zu hören. Dann folgt ein kurzes Aufbäumen, des Körpers bevor die Kirchenwirtin einfach nur stumm daliegt und ins Leere starrt. Der Puls und die Körpertemperatur steigen an. Während der Landarzt seine Instrumente wieder in die Tasche steckt, beginnt für die junge Frau eine seltsame Reise. Sie taucht ein in irgendeine Art seltsames Bergwerk. Ihr ist kalt, und die Wände sind pechschwarz. Ein Rauschen nimmt Besitz von ihren Ohren und sie spürt, wie ihr starker Wind entgegenschlägt. Die Kirchenwirtin glaubt, in einer Lore zu sitzen, die in den Berg einfährt. Die mit der eisigen Kälte gekoppelte Dunkelheit wird abrupt abgelöst durch ein bizarres Farbenspiel, das ihr die Stollenwände bieten. Der nackte Stein leuchtet in allen erdenklichen Farben und strahlt eine Wärme aus, die ihr Innerstes fast verbrennt. Sie schwebt aus der Lore, die krachend in die Tiefe fährt und gleitet ruhig durch die Steinhöhle. Zum Glück kann sie fliegen und durch jede Art von Materie dringen. Der Fels ist nichts anderes als ein buntes Gebilde aus warmer Luft. Ganz unten im Berg liegt ein See, so groß wie ein Ozean. Doch als sie eintauchen will, passiert etwas Sonderbares. Das Wasser entpuppt sich als ein großer Karamellpudding, der sie wieder nach oben katapultiert.

 

Während all dem sitzt der Landarzt Dr. Holzer an ihrem Bett und beobachtet interessiert, wie sich die Pupillen seiner Patientin verändern. Auch das Rucken und Zucken, das durch ihren Körper geht, als würde sie von unsichtbarer Hand geschüttelt, entgeht ihm nicht. Mit geschickter Hand öffnet er ihre Bluse, schiebt den Büstenhalter zur Seite und fingert an den steifen Brustwarzen herum. Leicht erregt geht er mit seinen Händen weiter auf Entdeckungsreise. Er schiebt ihr den Rock hoch und greift ihr in den feuchten Schritt. Vollkommen benommen von der Macht, die er in diesem Augenblick verspürt, legt er sich zu ihr. Das Stimmengewirr und Gelächter, das unten aus dem Saal von der Trauergemeinde nach oben dringt, nimmt er nicht mehr wahr.

Der Fremde hat sich eine Flasche guten schottischen Whiskys auf sein Hotelzimmer bringen lassen. Jetzt sitzt er in der Badewanne und betrachtet durch ein kleines Sichtgerät die Negative des Kirchenwirtes. Die Aufnahmen sind künstlerisch nicht besonders wertvoll, dafür aber eindeutig. Die Schwester von Maria Magdalena, die Elisabeth, wird von mehreren Halbstarken vergewaltigt. Ein paar der verzerrten Gesichter hat er beim Kirchenwirt schon einmal gesehen. Es wird ihm keine große Mühe machen, den Fratzen Namen zuzuordnen. Aber er muss vorsichtig sein. Denn sie sind hinter ihm her. Und seine Spuren sind längst nicht alle verwischt. Seinetwegen hat es Tote gegeben. Unvorsichtige Informanten, die so naiv gewesen sind, zu glauben, die andere Seite würde sich an Absprachen halten und bezahlen, sind einfach ausgeschaltet worden. Die andere Seite prahlt mit ihren Morden. Sie setzen sie in die Zeitung, meist auf die dritte Seite. Vielleicht machen sie es, um ihm Angst zu machen oder Respekt einzuflößen. Er weiß es nicht, und es ist ihm im Grunde auch egal. Immerhin hat er ihre Spielregeln und Eitelkeiten auf das heftigste verletzt. Er ist im Grunde nur der Wahrheit verpflichtet. Er hält fest, mehr nicht. Er taucht seinen Kopf ins warme Wasser und hat schlagartig ein neues Ziel vor Augen. Warum nicht den Winter an der Riviera verbringen?

Am Abend steht Dr. Holzer rauchend am Fenster und schaut den Trauergästen hinterher, die nach und nach torkelnd den Kirchenwirt verlassen. Im Schlafzimmer riecht es nach süßlichem kaltem Schweiß. Auf der Bluse und unter den Achseln der jungen Witwe haben sich große dunkle Flecken gebildet. In gut einer halben Stunde wird sie aufwachen. Ihr wird kalt sein, und sie wird eine unbekannte Sehnsucht spüren, die nur er stillen kann. Dr. Holzer öffnet das Doppelfenster und schnippt die aufgerauchte Zigarettenkippe in den Schnee. Er nimmt seine Arzttasche und verlässt das Schlafzimmer der Kirchenwirtin.

Der Fremde sitzt im Bademantel auf seinem Bett und näht den Saum seines Mantels wieder zu. Die Brieftasche ist aufgefüllt. Er wird den Portier bar bezahlen und dann mit dem Taxi zum Bahnhof fahren. Am Schalter wird er einen Fahrschein kaufen und mit einem großen Geldschein bezahlen, in der Bahnhofsgaststätte eine Kleinigkeit essen und sich hinterher beim Wirt beschweren. In dem Moment, wenn der Zug in den Bahnhof einfährt, will er den anderen Reisenden folgen, um dann im Gewirr der Ein- und Aussteigenden auf der Toilette zu verschwinden.

Der ehrwürdige Pfarrer von Tamm ist froh, endlich den Zug verlassen zu können. Die Rückfahrt ist mehr als eine Zumutung gewesen. Mit Viehhändlern hat er sich das Abteil teilen müssen. Einen Spaß haben sie sich daraus gemacht, ihn mit ihren derben und anzüglichen Witzen aus der Fassung zu bringen. Schlüpfrige Frauengeschichten, die durch das ständige Kreisen der Schnapsflaschen immer unerträglicher wurden. Es hat ihn geschüttelt vor Ekel, und er hat sehnsuchtsvoll an den kleinen Martin gedacht.

Was für eine große Schuld hat er sich da aufgeladen? Der Allmächtige muss ihm verzeihen. Er wird Buße tun, große Buße tun, wenn es sein muss. Er muss den Martin vergessen. Die Versuchung ist immer ein Werk des Teufels, redet er sich ein. So spürt er beim Verlassen des Zuges einen gewaltigen Druck auf der Blase.

„Erleichterung, Erleichterung“, murmelt er vor sich hin, als er beim Betreten der Bahnhofstoilette mit einem Mann zusammenstößt.

Der entschuldigt sich höflich und verschwindet in einer der beiden Kabinen. Der Pfarrer aber hat in bekannte Augen gesehen, die ihn an etwas erinnern. Er weiß nur nicht, wo er sie einordnen kann. Dieser Blick hat ihn getroffen wie ein Kind, das man beim Klauen eines Apfels im Krämerladen erwischt hat.

Der weiß alles, denkt der ehrwürdige Herr von Tamm, während er auf der Holzbrille sitzt, sich erleichtert und nervös mit seinen Fingernägeln an der Toilettentür kratzt. Er wartet, bis der Andere an der Kette des Spülkastens zieht. Erst dann öffnet er seine Tür.

Aber was ist das? Hat auch da der Teufel seine Hände im Spiel?

Ein in seiner Erscheinung vollkommen anderer Mensch verlässt da die Toilette. Rote Haare, buschige Augenbrauen und ein Bart. Dieser Mensch hat niemals mit ihm die Toilette betreten. Eher gedrungen der Gang. Nur die Augen, diese klaren Augen, wie einem Bergsee entsprungen, schauen ihn an. Der Pfarrer folgt diesem Mann bis hinter den Bahnhof, wo er von einem Bierkutscher auf das herzlichste begrüßt wird. Der Lastwagen setzt sich in Bewegung. Der Pfarrer, wie ein Spion hinter einer Säule versteckt, schaut den roten Rücklichtern nach. Mit einem Mal weiß er, an wen ihn diese Augen erinnern. Das Fenster in seiner Kirche mit dem Evangelisten Johannes, dann wenn die Sonne hindurch bricht. Es sind seine Augen.