Joseph

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Die Villa am See

David Engel hörte, wie hinter ihm der Dieselmotor startete und der Wagen sich Richtung Hauptstraße entfernte. Gerade eben hatte er dem Taxifahrer zu einem weiteren lukrativen Geschäft verholfen. Geradeheraus hatte er den Fahrer gefragt, ob er ihm den Glücksbringer, der am Rückspiegel an einem Samtband hing, nicht verkaufen wollte. David konnte sich selbst nicht genau erklären, warum er diesen Knochen unbedingt besitzen musste. Er hatte direkt eine hohe Summe geboten, um ein lästiges Feilschen von vornherein auszuschließen. Der Taxler hielt seinen sonderbaren Fahrgast nicht für einen Idioten. Für einen dieser Neureichen oder deren Nachkommen, die sich seit den zwanziger Jahren von den mit allen Wassern gewaschenen Bauern der Umgebung das Geld aus der Tasche ziehen ließen. Arme Tröpfe. Jahrhundertealte, wertlose, feuchte Wiesen waren über Nacht plötzlich ein Vermögen wert gewesen. Selbst sein Schwager, der jetzt in der Stadt wohnte, hatte erheblich davon profitiert.

Für heute würde er Schluss machen. Sein Auftrag war erfüllt. Er wäre froh, wenn er seinem Schwager den Wagen schon wieder heil zurückgebracht hätte.

Die lederne Reisetasche geschultert, betrat David Engel das parkähnliche Gelände. Er folgte nicht dem breiten Kiesweg, der direkt an der Villa am See endete, sondern ging in entgegengesetzter Richtung über die Wiese auf die am Hang stehende Baumlichtung zu. Sein Ziel war eine alte Holzbank, von der aus man eine gute Sicht über das ganze Gelände, die Villa und den See hatte. Schon als Kind war diese Stelle sein Lieblingsplatz gewesen.

Nach einer guten Viertelstunde setzte David sich auf den jahrelang der Witterung ausgesetzten halben Baumstamm und genoss für einen Moment die Aussicht. Ein schönes Gefühl überkam ihn, immer wieder feststellen zu dürfen, dass es Orte gab, die sich scheinbar nicht veränderten. Drei Wochen eintauchen in eine unbeschwerte Kindheit. Der Seele einen Ruck geben und sich weit hinaus auf den dunkelblauen Bergsee treiben lassen. Sich dem barocken Wolkenspiel hingebungsvoll überlassen. Das war genau das, was er jetzt brauchte.

Voll neugieriger Erwartung holte er aus seinem abgenutzten weißen Jackett den Talisman und begann mit seinen Untersuchungen. Die beiden Einfassungen aus Silber waren mit Stahlstichen verziert. Auf dem oberen Ende waren einzelne Punkte eingraviert, auf dem unteren ein Adler. Wenn er beides, Punkte und Adler, zusammenbringen könnte, wäre er einen großen Schritt weiter. David griff in die Innentasche seines Jacketts, holte sein kleines Notizbuch heraus und kopierte die siebzehn Punkte auf eine leere Seite. Anschließend verband er die Punkte miteinander und versuchte, die unterschiedlichen Bilder zu interpretieren, die sich aus den entstandenen Grafiken bilden ließen. Aber nichts ergab für ihn einen Sinn. Wenn es sich um eine verschlüsselte Botschaft handeln sollte, war seine Schlussfolgerung, hatte der Verfasser höchst wahrscheinlich auch eine Codierung benutzt. Er versuchte es mit der einfachsten Art: der Spiegelung. So setzte David die Koordinaten der siebzehn Punkte neu. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er das Ergebnis betrachte. Kein Zweifel, die Punkte bildeten ein Sternbild. Das Sternbild des Skorpions. Auf der oberen Einfassung ein Skorpion und auf der unteren ein Adler. Wo gab es da einen Zusammenhang?

David schloss die Augen und begann seine geistige Suche. Irgendetwas Religiöses, dessen war er sich sicher. Die vier Tierkreiszeichen im Zeichen der Religionen, die Vier war der Schlüssel.

„Vier..., vier..., vier“, sprach er zu sich selbst. Die vier Evangelisten, das war die Lösung. Die vier Evangelisten repräsentierten die vier Tierkreiseichen, zumindest nach der Symbolik der florentinischen Kirche San Mineato al Monte. Markus der Löwe. Matthäus, der geflügelte Mensch, also der Wassermann. Lukas, der Stier und Johannes, der Adler. Der Adler des Skorpions, das einzige von zwölf Sternkreiszeichen, das zwei Symbole hat. Einen Adler und einen Skorpion. Es waren unverkennbar die Zeichen des Evangelisten Johannes.

Eine wohltuende Wärme überkam ihn. Selbstzufrieden räkelte sich David auf der Bank und streckte seine Arme aus.

Was gab es Schöneres, als den Dingen ihr Geheimnis zu entlocken?

Er fasste alles zusammen: Dem Äußeren nach entsprach der Gegenstand also einer religiösen Reliquie, die in einem Bezug zum Evangelisten Johannes stand. Die Silbereinfassung schätzte er auf höchstens zehn Jahre. David schabte ein wenig an dem Mittelstück, das wie ein kleiner, durch die Sonne ausgetrockneter grober Splitter eines Treibholzes aussah. Nein, nein, es gab keinen Zweifel: Das Mittelstück war ein Knochen. Und wenn ihn nicht alles täuschte, handelte es sich hierbei um einen menschlichen Knochen. David schloss erneut die Augen und ging systematisch das menschliche Skelett von oben nach unten durch. Scheitelbein, Schläfenknochen, Halswirbel, Atlas, vorderer und hinterer Höcker, Schlüsselbein und Schulterblatt, Elle und Speiche, Finger, Mittelhand und Handwurzel, Brustbein und Rippe, Kreuzbein, Darmbein, Schambein und Sitzbein, Oberschenkel, Knie und Unterschenkel, Fersenbein, Sprungbein, Grundglied und Endglied.

Er war sicher: Mittelhand, mit aller größter Wahrscheinlichkeit handelte es sich hierbei um einen Mittelhandknochen. David Engel hatte seine eigene Methode, um einen Knochen zu definieren. Er legte das in Silber eingefasste Mittelstück auf seine Hand und ging Finger für Finger durch. Von der Größe seiner eigenen Hand zu schließen, handelte es sich um den Mittelknochen des Zeigefingers der rechten Hand. Er steckte den Talisman zurück in seine Tasche. Den ersten Zauber hatte er ihm bereits entlockt, den Rest würde er wahrscheinlich in einer Nacht am Computer klären. Nur eine Sache beschäftigte ihn dennoch, er hatte den Fetisch schon einmal gesehen. Nur wo? vielleicht in einer anderen Form. Aber das Grundmuster: rote Samtschnur, silberne Einfassung und Knochen waren identisch. Nur, warum hatte es ihn damals nicht interessiert?

Wenn es in einem Museum war, würde er es über das Internet herausbekommen. Eine weitere Möglichkeit wäre eine Kirche. In einem Gotteshaus waren Reliquien nichts Außergewöhnliches. Da wäre auch er ohne weiteres daran vorbeigegangen.

Als David nach mehr als zwei Stunden, die Sonne war inzwischen hinter den Baumzipfeln verschwunden, unten den Kiesweg betrat, um zur Villa zu gelangen, kam ihm nach etwa hundert Metern ein schwarzer Pullmann entgegen. Fast auf gleicher Höhe verlangsamte der Wagen seine Fahrt und fuhr im Schritttempo an ihm vorbei. David blickte zur Seite, konnte aber im Inneren nichts erkennen, da die Fenster mit grauen Gardinen zugezogen waren.

Irgendwas aber schoss in diesem Moment durch seinen Körper, der sofort in eine sonderbare Erregung geriet. Lange war David sich nicht mehr so nahe gewesen wie in diesem Augenblick. Starr vor diesem ihn überkommenden nicht benennbaren Gefühl, drehte er sich erst um, als er das Autokennzeichen nicht mehr lesen konnte. Nur eines konnte er nach dieser seltsamen Begegnung mit Sicherheit sagen: Ein ausländisches dunkles Nummernschild gesehen zu haben.

Die kleinen weißen Kieselsteine knirschten unter seinen Füßen. So war es jetzt, so war es immer gewesen. Seit seinem zwölften Lebensjahr, dem Beginn seiner Internatszeit, derselbe Weg, dasselbe Gefühl. Vor ihm lag der gotische Vorbau des Eingangsportals, die Tür in Eiche und Schmiedeeisern verziert. Im oberen Drittel das bierfarbene Butzenfenster mit Gitter davor. Auf dem Vordach an beiden Seiten die Regenspeier in Form kleiner Drachen - die wenn ein Gewitter über den See niederbrach - recht gespenstisch aussahen und im kurzen, hellen Schein der Blitze bizarre Schatten auf Weg und Rasen warfen. Wie das Mausoleum eines Fabrikanten aus der Gründerzeit sah der Eingangsbereich aus, wenn man sich das Haus wegdachte. Es gab Zeiten, da hatte er sich nicht nur das Haus, den See, nein sein ganzes Leben einfach weggewünscht.

Ehe David läuten konnte, wurde ihm die Tür bereits geöffnet. In einem langen schwarzen Gewand, die Haare mit einem Stirnband zusammengehalten, stand die Hausherrin selbst vor ihm. In einer Hand hielt sie eine lange silberne Zigarettenspitze, in der anderen einen fast leeren großen Cognacschwenker und starrte ihn mit schwarz geschminkten Augen an.

Irgendetwas war anders als sonst. Nicht, dass es David in all den Jahren verborgen geblieben wäre, dass seine Mutter trank und rauchte, - es aber vor seinen Augen zu tun, und das auch noch an der Eingangstür, war neu. Die Mutter drehte sich auf der Stelle um und schwebte zurück in die große Eingangshalle, die einem Rittersaal glich. David folgte ihr, ohne ein Wort der Begrüßung mit ihr gewechselt zu haben. Aline hatte angerufen, dessen war er sich sicher. Aus ihrer Sicht schien es verständlich, dass sie die Dinge ein für alle mal klären wollte.

David stellte sein Gepäck neben die Rüstung eines Johanniterkreuzritters und folgte seiner Mutter in den Salon.

„Es ändert sich ja nichts. Die Kinder werden dich sicher besuchen.“

„Alles wird sich ändern“, krächzte die Mutter, „ich werde das Anwesen verkaufen!“

David reagierte darauf nicht sonderlich erstaunt. Es war nicht das erste Mal, dass die Mutter die Villa am See verkaufen wollte. Irgendeine Hassliebe verband sie mit alldem hier. Für ihn war es ohnehin verwunderlich, dass sie in den letzten Jahren das Anwesen immer mehr der komfortablen Stadtwohnung in Hamburg vorgezogen hatte.

Im Kamin loderten die Flammen. Ein ganzer Papierstapel war offensichtlich erst vor kurzem in den unersättlichen Schlund des Feuers geworfen worden. Kleine Rußflocken und gewellte wie Kohlepapier aussehende Klumpen zeugten am Rand des Kamins davon. Am anderen Ende des Raumes stand der mannshohe stählerne Tresor einer englischen Firma aus dem Jahre 1924 offen. Außer ein paar Schatullen und Samtschobern war aus dem Inneren alles ausgeräumt worden.

 

„Willst du auch was trinken, dann bedien’ dich. Das Personal hat heute frei“, sagte die Mutter müde.

David ging an die Anrichte und wählte aus den unzähligen Kristallflaschen einen Brandy aus.

Längst hatte sich die Hausherrin in eins der schweren Ledersofas fallen lassen und starrte wie in Trance in die lodernden Flammen des Kamins.

David war froh, dass er nicht zu reden brauchte und seine Mutter keine Fragen stellte. Er würde noch ein, zwei Brandies trinken und dann früh zu Bett gehen.

Sein Blick konzentrierte sich auf den geöffneten Tresor. In Gedanken sah er die alten Ordner, deren gelbe Rücken mit lateinischen Zahlen nummeriert waren und die großen dicken Briefumschläge, die an einer roten Kordel ein Wachssiegel trugen. All das war jetzt verschwunden, wohl in den Flammen. David dachte daran, wie er als Kind das ganze Haus systematisch durchforscht und so manches Geheimnis entdeckt hatte. So auch die geheimen Räume im Keller, wo der Vater ein zweites Fotolabor und ein gewaltiges Bilder- und Dokumentenarchiv unterhalten hatte. Bis heute hatte er mit niemanden über seine Entdeckung gesprochen.

David stand auf und legte Holz nach. Wie ein Taschenspieler steckte er dabei unbemerkt den kleinen unversehrten Rest eines verkohlten Blatt Papiers ein.

„Du hattest Besuch“, begann er den Versuch einer Unterhaltung.

„Es hört eben nie auf“, murmelte die Mutter und steckte sich eine Zigarette in die silberne Spitze. Fast automatisch fiel sein Blick in den Aschenbecher, in dem vier Zigarettenstummel lagen. Die drei mit dem markanten Goldring ordnete er seiner Mutter zu. Die vierte war filterlos. Erneut stand David auf, nahm den schweren Messingteller vom Tisch und warf die Stummel in das Feuer. Dass es nur drei waren, die er entsorgte, konnte die Mutter von ihrem Platz aus nicht erkennen. Es beunruhigte ihn ein wenig, diesen kläglichen Rest einer Zigarette nicht auf der Stelle untersuchen zu können. So setzte er sich wieder hin, starrte durch sein halbleeres Brandyglas in die Flammen des Kaminfeuers und lauschte dem dumpfen beruhigenden Ton des Pendels der alten Standuhr.

Ein Kälteschauer weckte David aus einem schwarzen Nichts. Im Kamin war das Feuer längst erloschen. Nur die unteren, größeren Holzscheite glühten noch. Das flimmernde Rot versetzte den Raum in einen sonderbaren Zustand. Der mannshohe Tresor war verschlossen und der Vorhang davor halb zugezogen. Der Tisch mit Mutters Glas und Aschenbecher war abgeräumt. Schwerfällig richtete sich David auf. Er fror am ganzen Körper, und es gab kaum eine Körperpartie, die nicht schmerzte. So schleppte er sich mühsam im Halbdunklen über die breite Stiege hinauf in den zweiten Stock, wo er am Ende des Ganges sein Zimmer hatte.

Joseph Huftreter wird getauft

In der kleinen Wehrkirche, die erhöht auf einem nackten Felsen im Zentrum des Bergdorfes steht, ist es bitterkalt. Der ehrwürdige Pfarrer Ignatius Sebastian von Tamm sitzt in seinem weißen Untergewand auf einer schmucklosen Holzbank und versucht, innere Ruhe zu finden. Schließlich muss er heute ein Kind taufen, das in Sünde entstanden ist. In jedem anderen Fall hätte er dies naturgemäß verweigert, aber wie ihm der Landarzt und designierte Landtagsabgeordnete Dr. Julius Holzer in einem vertraulichen Gespräch mitgeteilt hat, ist dem neuen Erdenbürger nur ein kurzes Leben beschert. Dann ist es schon besser, wenn er als Christenmensch vor den Thron des allmächtigen Herrn tritt. Nur ungern erinnert er sich daran, wie ihn die beiden Huftreter Schwestern mit Steinen und der Androhung den Hund von der Kette zu nehmen vom Hof gejagt haben, nachdem ihr Vater gestorben war. Jetzt liegt die arme Seele des alten Huftreter mit gebrochenen Knochen am äußersten Rand des Gottesackers direkt neben dem Gebeinhaus, und irgendwo oben auf dem Huftreteranwesen seine älteste Tochter Maria Magdalena, verscharrt wie ein Hundeknochen in ungeweihter Erde. Der Landarzt hat ihm das glücklicherweise gebeichtet. So obliegt beiden durch ihre gebotene Schweigepflicht zumindest nicht die unangenehme Aufgabe, irgendeine Aufsichtsbehörde zu benachrichtigen.

„Umso näher die Menschen dem Herrn, desto gottloser sind sie“, so sein Bischof vor mehr als zwanzig Jahren, als er hier in den Bergen seine Stelle angetreten hat. In tiefster Demut all die Jahre ertragen. Seit zwei Jahren aber friert er. Eine unheimliche Kälte hat sich in seinem Inneren breit gemacht. Eine Kälte, die ihn von Tag zu Tag immer mehr in Beschlag nimmt.

Knarrend öffnet sich die Sakristeitür. Der zwölfjährige Martin, jüngster Sohn des Gemeindebediensteten, steht im Eingang und klopft sich den Schnee von der väterlichen Kotze. Im weißen Untergewand kniet der Pfarrer vor dem dunklen Sakristeischrank, der von einem silbernen Heiland, einem Geschenk, derer von Tamm, zur Primiz, überragt wird.

Der Pfarrer ist ein Heiliger, dessen ist sich der Martin sicher. Ihm gehorcht er blind, ihm will er nachfolgen. Nach Ostern wird er seine Schulausbildung in einem Jesuitenkloster fortsetzen. Bis dahin will er fleißig Lateinvokabeln lernen, hat er sich geschworen. Er wird der erste in der Familie sein, der studieren darf. Das alles hat er dem Pfarrer zu verdanken, zu dem er sich jetzt auf den kalten Steinboden niederkniet, um ihm im Gebet noch näher zu sein.

Unterdessen machen sich oben, fast am Scheitel des Berges, alle auf dem Huftreterhof reisefertig. Der Schnee ist in den letzten zwei Tagen so stark gefallen, dass Elisabeth den großen Schlitten aus der Scheune geholt und den Klepper davor eingespannt hat. Der Gundi hat sie die Festtracht ihrer verstorbenen Schwester umgenäht und dem Kleinen das Taufkleid ihres Vaters angezogen. Doch, heute können sie sich alle wirklich sehen lassen. In einen Korb packt sie ein paar leere Milchfläschchen, über die sie eine Decke legt. Vor der Taufe muss sie, wie jeden Tag, noch schnell bei der Müllegger vorbei. Die hat fast zur selben Zeit ein Kind entbunden, und in ihren großen Brüsten steckt zum Glück so viel Milch, dass es für zwei Kinder reicht. Elisabeth hält es für ein gutes Omen, dass heute in der Früh bei ihr endlich die Blutungen, eine Folge der unauslöschlichen Nacht, aufgehört haben. Sie wird sehr stark sein müssen, das weiß sie. Das ganze Dorf wird auf den Beinen sein. Seit Tagen zerreißen sie sich unten das Maul über sie und überlegen, wer wohl aus ihren Reihen der Vater des zu taufenden Kindes sein könnte. Dass niemand von ihnen ihrer Schwester, der Maria Magdalena, eine Träne nachgeweint hat, das weiß sie. Das war schon bei ihrem Vater so und wird, wenn es denn an der Zeit ist, bei ihr nicht anders sein.

Der Kirchenwirt reibt sich die Hände und zählt draußen auf dem bitterkalten Häusl das Geld, das ihm vorhin der Landarzt Dr. Holzer in einem Umschlag zugesteckt hat. Im Voraus hat er alles bezahlt, die ganze Pauschale. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er ihn glatt für den Vater des Täuflings halten. Das schlechte Gewissen wird ihn plagen und Wut um den missratenen Sohn, der ihn jetzt eine Stange Geld gekostet hat. Den Betrag, ohnehin nur ein überhöhtes Phantasieprodukt des Wirtes, hat er auch noch aufgerundet. Sorgfältig steckt der den dicken Umschlag zurück in seinen Trachtenrock. Am späten Abend wird er das Geld in ein sicheres Versteck bringen. Die Frau muss nicht alles wissen.

Gut gelaunt schreitet der Kirchenwirt durch den tiefen Schnee über den Hof, wo bald die Remise der Poststation stehen wird, und betritt von außen die Küche. Wie ein Feldherr schreitet er die brodelnden Töpfe ab, in denen Suppe, Erdäpfel, Wurzelgemüse und Tafelspitz schwimmen. Seit zwei Tagen bereitet seine Frau mit zwei Aushilfen alles für die Taufe vor. Er selbst ist zudem günstig an ein paar Fässer Bier gekommen, die mehrere Tage Frost abbekommen haben. Zu später Stunde, wenn ohnehin niemand mehr etwas wahrnimmt, wird er es seinen angesoffenen Gästen unter Zusatz von ein wenig Sodawasser kredenzen.

Das zweiundsechziger Jahr hat ohnehin schlecht genug begonnen. Fast alle im Dorf, die Geld haben, besitzen jetzt ein Auto und fahren am Wochenende in die Stadt. Und die anderen kleben an ihrer Halben oder einem Achtel Wein wie die Fliegen auf dem Häusl. Nein, nein, in diesen Zeiten muss jeder selbst schauen, wo er bleibt.

In der noch nicht geheizten Wirtsstube sitzt ein einziger Gast. Seine dritte Halbe ist schon wieder leer und er brüllt nach der Bedienung.

„Komm ja schon, komm ja schon“, antwortet ihm der Kirchenwirt.

Ohne das Glas zu spülen, nimmt er die leere Halbe und füllt sie erneut.

„Weißt schon, dass der Bub meinen Namen bekommt? Im Grunde bin ja ich der eigentliche Pate. Da kann sich der Lackel von Holzer noch so aufspielen wie er will!“

„Ist schon recht“, sagt der Kirchenwirt und stellt dem Schäfer Josef, dem Bestatter und Schreiner des Ortes, eine frische Halbe hin.

Naturgemäß kassiert er das Geld sofort, denn die Tauffeier hat noch nicht begonnen. Zudem weiß man bei solch einem Trunkenbold, wie der Josef einer ist, ohnehin nicht, an was er sich später noch erinnern kann.

Elisabeth führt den Schlitten langsam den Berg hinunter. Hochkonzentriert und die Muskeln angespannt, achtet sie darauf, dass der Abstand zwischen Schlitten und Pferd derselbe bleibt. Kommen die Kufen erst einmal ins Rutschen, ist das schwere Ungetüm nicht mehr zu halten.

„Wie Weihnaaacht, wie Weihnaaacht“, ruft auf dem Bock die Gundi lallend in den weißen Wald und klatscht vor Freude in die Hände. Um ihr Kinn haben sich dünne Eiszapfen aus Spucke gebildet. Immer wieder schaut Elisabeth in das dicke Bündel aus Decken, aus dem nur der große, lang gezogene Kopf des Neugeborenen herauslugt, dem sein erster Ausflug in die Welt nichts auszumachen scheint.

Der Pfarrer hat seine Gebete beendet. Seine Lederschuhe knarren beim Aufstehen. Es hat nichts genützt, er ist immer noch da. Ein rührendes Bild, wie der kleine Martin auf dem kalten Steinboden vor dem silbernen Heiland kniet. Ein Gefühl ergreift ihn, das er nicht mehr zulassen darf. Eine nicht kontrollierbare Regung, die seit dem letzten Sommer, als er mit seinen Messdienern draußen am See schwimmen gewesen ist, immer wieder in heftigen Hitzeschüben über ihn kommt.

„Komm Junge, steh auf, es ist an der Zeit“, flüstert der Pfarrer mit weicher Stimme und streichelt dem Martin über sein Haar.

„Ich habe schwere Sünde getan“, antwortet ihm der Junge und neigt seinen Kopf verschämt zu Boden, „mein Vater hat meinen Bruder, den Johann, fast zu Tode geprügelt, und ich habe dabei große Freude empfunden.“

Der Johann ist dem Pfarrer ohnehin ein Dorn im Auge. Ein Halbstarker ohne Manieren, Anstand und Moral. Sicher, auch er ist einmal Messdiener gewesen und dem Martin nicht unähnlich. Aber jetzt raucht und trinkt er in aller Öffentlichkeit, zieht alles in den Schmutz und verbreitet mit seinem alten Wehrmachtmotorrad im Ort nur einen Lärm, der unerträglich ist.

„Ist schon gut“, murmelt der Pfarrer und zieht den Kopf des Jungen an seinen Schoß. So verharren beide, der eine in heiliger Andacht, der andere in sündiger Wollust.

Elisabeth kann vom Bock des Schlittens schon die ersten Dächer des Dorfes erblicken. Der gefährlichste Teil des Weges liegt hinter ihnen. Gundi hat das Bündel mit dem Kleinkind auf ihren Schoß genommen. Und so schaut der Junge zum ersten Mal auf das karge Bergdorf, das eingebettet zwischen den Bergen liegt. Es scheint ihm zu gefallen, denn ein vergnügtes Lächeln überzieht sein unförmiges kleines Gesicht.

Dem kleinen Martin hingegen steht Schweiß auf der Stirn. Sein Kopf ist purpurrot und glüht, so müht er sich ab mit dem rauen Hanfseil, an dem er sich mit beiden Händen festklammert, um die große Glocke, die zwanzig Meter über ihm hängt, in Schwingung zu bringen. Der Pfarrer steht unterdessen am Sakristeibecken und wäscht sich zum wiederholten Mal die Hände. So voller Sünde, wie er ist, ist an ein Gebet nicht zu denken.

Im Gemeindeamt, wo die Familie Ganser das obere Stockwerk bewohnt, machen sich alle, bis auf die Großmutter, die seit Jahren ans Bett gefesselt ist, für die Heilige Messe fertig. Zu siebt bewohnen sie drei Zimmer und demgemäß herrscht ein unruhiges Treiben auf dem Flur. Immer wieder wird nach der Mutter gerufen, deren Aufgabe es ist, die Familie im guten Glanz erscheinen zu lassen. Allen Familien im Dorf geht es so, denn fast jede fühlt sich wegen der Nacht des 17. Februars verpflichtet, der Taufe beizuwohnen. Auch die Väter haben neben Dr. Holzer einen kleinen Brief bekommen. Geschrieben auf einer alten Schreibmaschine mit blassen unsauberen und hüpfenden Buchstaben. Auch in ihren Exemplaren war eine Schwarzweißfotografie des ältesten Zöglings beigelegt, wie er sich an der Huftreterin vergeht. Naturgemäß haben sie die unschöne Sache für sich behalten. Die Bestrafung des ältesten Nichtsnutzes erfolgte meist ohne Worte und wurde von den Delinquenten ohne mit der Wimper zu zucken und mit einem inneren Grinsen entgegengenommen.

 

Als hätten sie sich verabredet, verlassen die Familien des Ortes gleichzeitig ihre Häuser und betreten die Straße. Die Männer heben ihre Hüte, die Frauen nicken einander zu, und die Kinder ziehen hinter den Rücken der Erwachsenen Grimassen. So strömen die Menschen aus allen Richtungen zusammen und begeben sich zur alten Wehrkirche, die seit ewigen Zeiten über sie wacht.

Drei weitere Kinder sind mittlerweile in der Sakristei eingetroffen und helfen dem Pfarrer unter Anleitung des kleinen Martin in sein Messgewand. Aus der Kirche dringt Orgelmusik zu ihnen herein. Der Dorfschullehrer versucht, sich warm zu spielen, was äußerst schwierig ist. Obwohl seine Hände bis zu den Fingerkuppen in dicken Handschuhen stecken, sind sie steif vor Kälte. Er versucht an etwas Schönes zu denken, aber immer wieder taucht vor seinen stark bebrillten trüben Augen diese unsägliche Schwarzweißfotografie des einzigen Sohnes auf. Hat er dafür am Salzburger Konservatorium Musik studiert, um dann hier zu enden? Sein ganzes Leben stößt ihm auf, als hätte er einen ganzen Korb gegorenes Obst gegessen. Fugenlos müsste man sein, denkt er und spielt seinen hassgeliebten Bach. Zumindest versucht er es auf der rostigen verstimmten Orgel.

Im Schritttempo fährt Dr. Holzer mit seinem Wagen an den Dorfbewohnern vorbei. Seinen unsäglichen Sohn Barnabas hat er schon einen Tag zuvor zu seinem Bruder in die Stadt gefahren. Hinten auf der Rückbank liegen drei weiße Lilien, die ihn um diese Jahreszeit ein kleines Vermögen gekostet haben. Sie sind für seine Frau bestimmt, die vor mehr als fünf Jahren unterhalb der alten Wehrkirche auf dem Friedhof ihre letzte Ruhe gefunden hat. Vor einem großen Schneehaufen bringt er den Wagen zum Stehen. Er zündet sich eine Zigarette an und geht noch einmal, wie in den letzten schlaflosen Nächten auch, den Tag durch. Sein Plan scheint nicht nur perfekt, er ist es auch. So steigt er zufrieden aus dem Auto, öffnet den Kofferraum und schaut auf sein Taufgeschenk, einen Kinderwagen, der in dieser Luxusausführung nur in der Stadt zu bekommen ist. Letzte Nacht hat er die Kugellager der Räder mit Waffenöl geschmiert und die Gummireifen angeraut. Er schließt den Wagendeckel und geht mit den weißen, in Zeitung eingeschlagenen Lilien zum Grab seiner Frau. Ohne den Schnee wegzuwischen, entfernt er das Papier und legt die Blumen ab. Da hört er ein Klirren und Knarren, gemischt mit dem Geschnaufe eines alten Kleppers, das sich langsam aber stetig dem Friedhof nähert.

Elisabeth springt vom Bock und ist erleichtert, dass außer dem Wagen des Landarztes noch niemand aus der Dorfgemeinschaft die alte Wehrkirche erreicht hat. Vorsichtig nimmt die Gundi das Bündel mit dem Säugling vom Schlitten. Immerhin ist sie die Taufpatin, auch wenn sie nicht genau weiß, was das ist.

Eine steile holzüberdachte Stiege führt hinauf zur Kirche. Die erste Stufe ist noch nicht genommen, da fängt das Baby aus voller Brust an zu schreien. Purpurrot läuft es an, als ob es irgendetwas verschluckt hätte. Mit großen Augen und offenem Mund ringt es nach Luft. Entsetzen steht in dem eben noch so ruhigen Gesicht geschrieben. Vor Schreck hätte die Gundi das Bündel fast fallengelassen, aber die starken Hände des Landarztes übernehmen den Täufling sicher.

Keine fünf Monate gibt Dr. Holzer dem Kleinen. Neben den Schädeldeformierungen und der Diabetes ist mittlerweile wohl auch ein Asthmaleiden hinzugekommen. Ganz abgesehen vom angeborenen Herzfehler des Kleinen. Obwohl das Kind wie der Teufel schreit, ist sein Puls so schwach, dass er ihn kaum fühlen kann. Elisabeth übernimmt den angenommenen Sohn als drittes, aber auch das bringt keine Veränderung. Im Gegenteil, das Baby mobilisiert alle seine Reserven, um noch lauter schreien zu können. Es scheint, als hätte es vor irgendetwas unerklärliche Angst.

Während zwei der Ministranten die Silberschiffchen mit Weihrauch füllen, legt Martin mit dem dritten Jungen glühende Holzkohle in die beiden Weihrauchkessel. Er muss sich beeilen, denn im Tabernakel des barocken kleinen Hochaltars müssen die Hostien noch aufgefüllt werden. Ein kräftiges Kindergeschrei versucht im Kircheninneren, mit der Orgel in Konkurrenz zu treten. Was letztendlich auch gelingt. Entnervt nimmt der Dorfschullehrer seine schwere Brille von der Nase und reibt sich seine triefenden Augen. Jetzt gehört die Akustik ganz allein dem Kleinkind. Und so brüllt es weiter, als wäre der Leibhaftige persönlich hinter ihm her.

Martin hebt den Ministrantenrock und huscht aus der Sakristei. Im Seitenschiff, direkt am Taufbecken, sitzt Elisabeth Huftreter mit der Gundi, die ein Bündel auf dem Schoß hält. Neben ihnen Dr. Holzer, der Landarzt. Mit so einem schreienden Kleinkind kann der Pfarrer unmöglich die Heilige Messe eröffnen, denkt Martin und stellt seinen Auftrag hinten an. Schnellen Schrittes begibt er sich in Richtung Taufbecken. Und so steht der kleine Martin, in seinen Händen die goldene Schatulle mit den Hostien, das erste Mal vor dem Neugeborenen. Ein Sonnenstrahl bricht durch eines der bleiverglasten Kirchenfenster, erleuchtet den Evangelisten Johannes, trifft das runde goldene Etui und lenkt das kegelförmige Licht auf das gespenstische Antlitz des Täuflings. Vollkommen entrückt schaut der kleine Martin in das Gesicht des Babies. So nah ist er noch nie jemanden gewesen. Obwohl es bitter kalt ist in der alten Wehrkirche, durchflutet den Ministranten eine ungeheure Wärme. Mit einem Mal ist er nicht mehr zehn Jahre alt, sondern glaubt, das Universum zu begreifen. Noch nie zuvor in seinem Leben hat ihn so jemand wie der in Decken eingewickelte Kleine, angelächelt. Das Baby hat beim ersten Sonnenstrahl, der auf seine Nase zielt, aufgehört zu schreien. Es hat einen Verbündeten auf dieser ihm noch fremden Welt, das spürt es, während es den Messdiener studiert.

Nach dieser Begegnung betritt Martin als anderer Mensch die Sakristei und fängt von dem ehrwürdigen Pfarrer von Tamm eine Backpfeife, die sich gewaschen hat. Er selbst wird sich diese Reaktion bis zu seinem Tod nicht erklären können. Aber das Gefühl, den so sehr geliebten Jungen in diesem Moment für immer verloren zu haben, hat ihn bis zum Schluss nicht mehr losgelassen.

„Und so taufe ich Dich im Namen des Herrn auf die Namen Joseph Nepomuk Baptist Huftreter“, verkündet der Dorfpfarrer, wobei er bei dem letzten Vornamen mehrfach ins Stocken gerät. Das Kind ist freundlich, denkt er, es kann nichts dafür, dass es aus einer gottlosen Familie stammt. Es lächelt immerzu, ist voller Zuversicht. Selig sind die Kinder des Herrn, seufzt der Pfarrer innerlich und versucht mit aller Kraft nicht weiter zu denken. Gundi, die Taufpatin sabbert vor Freude in das Taufbecken und ist auch ansonsten kurz davor, alles laufen zu lassen. Für sie ist es ein schönes, prickelndes Gefühl, wenn der warme Urin an ihren Beinen herunterläuft.

Auch Elisabeth glaubt, dass heute ein ganz besonderer Tag ist. Vorne neben dem Taufbecken bekommt sie mit, wie sich plötzlich alle Fenster in der Kirche durch die eindringende Wintersonne erhellen. Urplötzlich, - vielleicht hervorgerufen durch das helle Farbenspiel, - glaubt sie, in einem imaginären Seitenschiff ihre gerade verstorbene Schwester Maria Magdalena zu erkennen. Gekleidet in ein festliches Ornat, lächelt sie zu ihnen herüber und gibt auch ihren Segen noch dazu.