CHAINS Lass [nicht] los!

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»Why?«

»Because it looked good on you.«

Das hatte ich übrigens auch innerhalb der letzten Tage gelernt. Der blaue Kettenschlumpf sprach ganz passabel Englisch. Immer, wenn ich ihm zu langsam war, oder er das Gefühl hatte, ich verstand nur Bahnhof, wiederholte er mir die Essenz der Unterhaltung, oder in unserem Falle eher des Streitgespräches, auf Englisch. Völlig unnötig. Natürlich kapierte ich, was er von mir wollte. Ebenso kapierte ich, dass er ganz genau wusste, dass meine Frage nicht auf das dämliche T-Shirt abzielte. Er wollte mir nur auf den Keks gehen.

»Warum willst du mitkommen?«

Luka zuckte mit den Schultern.

»A pretty girl like you shouldn’t be left alone.«

What the fuck? Ernsthaft? Das hatte er nicht wirklich gesagt, oder? Da fiel man doch glatt vom Glauben ab.

***

Ein Regenschirm gehörte zu den Dingen, die ich bewusst zu Hause gelassen hatte, im Glauben, ich würde ihn nicht benötigen. Zumindest nicht sofort. Falsch gedacht. Es regnete wie aus Kannen. Die Haare zu föhnen, hätte ich mir sparen können. Luka trottete neben mir her und fand das Wetter offenbar total prima. Wir sahen nach zehn Minuten Fußweg bereits aus wie die Schweine, weil er wirklich keine einzige Pfütze ausließ. Anlauf und volle Lotte mitten in die Wasserlache. Wir waren noch nicht an der Uni angekommen und ich war schon der verdreckte Aussätzige. Sollten wir jemals dort ankommen. Ich hatte mir den Weg auf Google Maps angeschaut. Wo auch immer mich Luka hin zerrte, es war entweder nicht die Uni oder ein wahnwitziger Umweg. Zu meiner Überraschung schwieg meine selbsternannte Begleitung die meiste Zeit. Manchmal deutete er um eine Ecke, manchmal ging er einfach davon aus, dass ich ihm folgen würde, und sprintete voraus. Eine Weile folgten wir der Straßenbahnlinie, was mir die Orientierung erleichterte. Dem Kopfsteinpflaster nach zu urteilen, waren wir auf dem Weg in die Altstadt. Die Straßen waren schmal, und rechts und links der Schienen reihte sich Boutique an Boutique. Darunter war sogar ein Hutladen. Kaufte man heutzutage noch Hüte? Oder war das einer dieser unscheinbaren Läden, die im Keller Geldwäsche betrieben? Beides lag im Bereich des Möglichen. Wir passierten eine große Kirche, die ich für den Dom hielt, aber eines besseren belehrt wurde. Der Dom lag einige hundert Meter weiter rechts. Man konnte ihn durch die Häuserreihen erspähen. Die Kirche war um ein Vielfaches pompöser als der echte Dom. Ich hätte meinen Arsch darauf verwetten können, dass die Touristen hier immer das falsche Bauwerk fotografierten. Danach verließen wir für eine Weile die Stadtmitte und kamen zum Flussufer. Dort standen erstaunlich viele Baukräne. Möglicherweise für Brückenarbeiten. Ich wusste es nicht, aber ich fragte auch nicht. Einige Schiffe fuhren flussabwärts und irgendein Verrückter paddelte trotz dieses Wetters mit dem Kanu auf dem unruhigen Gewässer herum. Am anderen Ende der Brücke angekommen, bog Luka rechts in eine Gasse ein und öffnete die Tür zu einer winzigen Bäckerei. Die Türglocke klingelte, und aus dem Hinterzimmer rief eine weibliche Stimme, sie würde gleich bei uns sein. Die Ladenfenster gingen fast bis zum Boden hinunter und auf den breiten Fensterbänken lagen Kissen. Luka zog am Automaten zwei Becher Kaffee und deutete auf die improvisierte Bank im Schaufenster. Ich nahm den einen Becher entgegen, nippte daran und setzte mich.

»Was machen wir hier?«

In diesem Augenblick kam eine ältere, rundliche Dame aus dem Hinterzimmer, deren Augen aufleuchteten, als sie uns sah. Uns? Nein. Als sie Luka sah, denn offenbar kannten sie sich. Sie eilte nochmals nach hinten und kam wenige Augenblicke später mit zwei gefüllten Bäckertüten zurück. Eine drückte sie Luka, eine mir in die Hand, murmelte etwas bezüglich des Backofens und der Spülmaschine und verschwand wieder. Luka fischte eine gigantische Schokoladenpyramide aus seiner Tüte und stopfte sich die Spitze in den Mund. Ich starrte ihn mal wieder dümmlich an, während er mit der Hand in der Luft herum wedelte und seine Ketten klirren ließ.

»Frühstück. Iss.«

Ich spähte in meine Tüte und schüttelte den Kopf.

»Der bloße Anblick bereitet mir Zahnschmerzen.«

»Blödsinn. Iss.«

»Das ist mehr Schokolade, als man in seinem ganzen Leben essen sollte.«

Luka verdrehte die Augen.

»Red keinen Quatsch und iss endlich.«

Ich aß. Widerwillig. Aber was sollte ich schon tun? Den Müll brachte Luka anschließend hinterm Tresen in den Papierkorb und verschwand kurz in den Raum, in dem ich die Dame vermutete. Dann gingen wir. Was war mit der Rechnung? Ich war verwirrt. Aber ich sagte nichts. Luka führte uns denselben Weg zurück, den wir gekommen waren, machte aber mitten auf der Brücke kurz Halt. Er beugte sich über das Geländer und zog eine durchsichtige Plastiktüte aus seiner Hosentasche. Brotkrumen? Was sollte das? Spielten wir jetzt Schnitzeljagd? Oder Hänsel und Gretel? Nichts dergleichen. Er fütterte tonlos die Enten, die unter der Brücke im Regen schwammen, und lief dann weiter. Wir schlugen ein paar Haken durch winzige Gässchen mit uralten Fachwerkhäusern, kleinen Kneipen und Spelunken, und kamen schließlich wieder an der Kirche heraus, die nicht der Dom war. Der heftige Wolkenbruch war zwar vorbei, es nieselte aber immer noch. Erneut folgten wir der Straßenbahnlinie, und so langsam beschlich mich der Gedanke, dass ich hier gerade eine Stadtführung bekam. Auf die besondere Luka-Art und Weise. Der Typ hatte echt einen am Sträußchen. Hätte er das nicht einfach sagen können? Wenn ich ganz ehrlich mit mir selbst war, lautete die Antwort: Nein. Hätte er nicht. Zumindest nicht mit diesem Ergebnis, weil ich sicherlich abgelehnt hätte. Das passte mir natürlich überhaupt nicht. Am Ende musste ich mich auch noch dafür bedanken, dass ich hier gerade nass bis auf die Knochen durch die Stadt hechtete. Luka blieb abrupt stehen und deutete über die Straße.

»Das noch. Danach gehen wir zur Uni.«

Music! prangte in roten Lettern auf der Schaufensterscheibe eines Instrumentengeschäfts. Ich klemmte mir die Haare hinter die Ohren und stöhnte innerlich. Wollte er die armen Leute hier genauso quälen wie die WG die vergangenen Tage? Luka schnappte mich am Hemd und zog mich auf die automatischen Schiebetüren zu, die sich mit einem leisen Klackern öffneten. Konnte er vielleicht endlich damit aufhören, mich ständig durch die Gegend zu schubsen? Was sollte dieses ständige Antatschen? Ich lief ihm doch ohnehin schon den ganzen Morgen hinterher wie ein räudiger Köter. War das nicht genug? Offenbar nicht. Zu meinem Erstaunen führte er uns schnurstracks an den auf Hochglanz polierten Tasteninstrumenten vorbei ins Obergeschoss. Dort breitete er grinsend die Arme aus und drehte sich rasselnd im Kreis.

»Voilà! Such dir was aus!«

Ich staunte mit offenem Mund. Weniger, weil der ganze Saal mit Gitarren vollgestellt war. E-Gitarren, Westerngitarren, klassische Konzertgitarren, Flamencogitarren und einige Modelle, die mehr Designerstück waren als Instrument. Ich fiel nicht aus allen Wolken, weil ich so etwas noch nie gesehen hatte. Blödsinn. Ich kam ja nicht vom Ende der Welt. Ich kriegte einfach nicht auf die Kette, woher er wusste, dass ich spielte.

»Wie ...?«

Ich stammelte Wortfetzen vor mich hin.

»Quatsch nicht. Spiel.«

Ich schnappte mir eine Gibson LP Studio und folgte Luka in die Klangkabine. Eine Weile hörte er mir zu, dann ging er wortlos.

***

Die Einführungsveranstaltung fand im alten Teil der Universität statt. Ich mutmaßte, es war früher ein Kloster gewesen. Ein verwinkelter Sandsteinbau mit vielen Erkern und Türmen und einem großen Innenhof, der bereits voller Menschen war, als wir dort ankamen. Ich erwischte mich dabei, wie ich näher an Luka heranrückte, um ihn in diesem Getümmel nicht zu verlieren. Als wäre diese Überlegung nicht schon schlimm genug, ertappte ich mich auch bei dem Gedanken, dass ich eventuell doch auf ihn hätte hören und das weinrote T-Shirt hätte tragen sollen. Wahrscheinlich wäre alles besser gewesen als das durchnässte Hemd, das ich trug, und an dem zu allem Überfluss auch noch mindestens drei Knöpfe fehlten. Hier waren alle so geschniegelt und gebügelt, dass wir völlig deplatziert wirkten. Luka in seinen zerrissenen Jeans und den Ketten sowieso, aber jetzt natürlich auch ich. Wir gingen durch das schmiedeeiserne Tor, an der Bibliothek vorbei und in den zweiten Stock hinauf. Was wollten all diese Menschen hier? War das immer so? Das gefiel mir ganz und gar nicht. Menschenmassen waren nicht so mein Ding. Wenn ich ehrlich war, waren Menschen im Allgemeinen nicht so mein Ding. Aber das musste man ja nicht gleich raushängen lassen. In einer Nische vor einem Fenster, das in den Innenhof blicken ließ, stand eine Gruppe ziemlich lächerlich aussehender Typen. Weiße Hemden, Anzughosen, Segelschuhe, gegelte Seitenscheitel. Gruselig. Alle trugen eine gestreifte Schärpe. Studentenverbindung. Leute, mit denen ich ganz sicher nichts zu tun haben wollte. Einerseits, weil mich keine zehn Pferde dazu bringen würden, in diesem Aufzug rumzulaufen. Eher trug ich Lukas Ketten. Andererseits, weil mir solche Verbindungen unheimlich waren. Man hörte Vieles. Neunundneunzig Prozent davon waren bestimmt in die Schublade der Gerüchte und Mythen zu stecken. Ich wollte aber gar nicht herausfinden, um was es sich bei dem verbleibenden Prozent handelte. Luka packte meinen Ärmel und flüsterte.

»Einfach ignorieren und weitergehen. Und hör auf, auf deiner Lippe zu kauen. Du blutest schon wieder.«

Shit! Luka stibitzte einen Kugelschreiber von einem Stehtisch und kringelte zwei Punkte auf dem Programmzettel ein, den wir unten im Foyer erhalten hatten. Er tippte darauf und hielt ihn mir unter die Nase.

»Da sollten wir hingehen. Das Erste ist die allgemeine Begrüßung des Dekans zum Semesterbeginn. Das Zweite ist irgendwas von der Organisation, mit der du hier bist. Ich glaube, die machen mit euch die Kurspläne.«

 

Gesagt, getan. Die erste Veranstaltung war eine glatte Zehn auf dem Langeweile-Barometer. Ich musste mir das antun. Schon klar. Warum Luka hierblieb, ging mir einfach nicht in den Kopf. Wieso er mich aber auch noch kommentarlos, ohne zu nörgeln, zur zweiten Veranstaltung begleitete, überstieg mein Verständnis bis ins Unermessliche. Wir liefen nebeneinander in den vierten Stock hinauf, zu einem kleinen Hörsaal am Ende des Ganges. Die meisten Stühle waren bereits besetzt, also drängten wir uns durch den Saal hindurch und setzten uns in die letzte Reihe. Es stellte sich heraus, dass wir nicht von einem Professor betreut wurden, sondern von einem Studenten aus einem höheren Semester. Studentenverbindungsstudent. Wir hatten ihn eine Stunde zuvor im Gang stehen sehen. Mister Einheitsbrei mit Schärpe. Er kam in den Saal gepoltert, stellte sich vor, riss einen unglaublich schlechten Witz, über den keiner der Anwesenden lachte, und begann anschließend tausend Dinge aufzuzählen, die man unbedingt tun oder lassen sollte. Man. Wer war das? Ich ganz bestimmt nicht. Ich knirschte mit den Zähnen und Luka wippte amüsiert mit seiner Stuhllehne. Er kippte nach hinten an die Wand und legte die Füße auf den Tisch. Der Verbindungsfuzzi sah das zwar nicht, weil er gerade geschäftig durch die Reihen ging und sich unheimlich wichtig vorkam. Trotzdem glaubte ich nicht, dass ihm das gefallen würde. Mitten in seinem Satz über optimierte Lernpläne hielt er inne und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Luka! Was willst du hier?«

Mein Begleiter rollte mit den Augen und deutete auf mich. Prima. Hervorragend. Sogar ein Blinder mit einem Krückstock konnte sehen, dass die zwei sich nicht ausstehen konnten. Ich wollte da nicht reingezogen werden. Das roch doch schon nach Ärger.

»Nimm die Schuhe vom Tisch!«

Ich hatte gerade ein Déjà-vu. In meinem Kopf sprach der Typ mit Sirins Stimme. Auch diesmal zog Luka nur belustigt eine Augenbraue in die Höhe. Er machte aber keine Anstalten, der Aufforderung Folge zu leisten.

»Wieso? Ist doch nicht dein Tisch.«

Oh Mann! Luka! Echt jetzt? Das war eiskalte Provokation. Auf einem Silbertablett serviert. Aber scheinbar war dem Typen eingebläut worden, dass er hier eine Vorbildfunktion erfüllte. Er ignorierte Luka und sah stattdessen mich an. Vermutlich kleckste das Blut schon auf mein Hemd, so sehr biss ich mir auf die Lippe.

»Wie gut sprichst du deutsch?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Gut. War auf ’ner deutschen Schule.«

Er wandte sich wieder Luka zu.

»Er braucht dich nicht. Also verschwinde!«

Luka hielt sich theatralisch die Hand aufs Herz und verzog gequält das Gesicht, ehe er laut rasselnd aufstand. Er grinste mich an.

»See ya later, Cupcake.«

Dann packte er mich am Kinn und drückte mir einen Kuss auf die Lippen. Er grinste den Verbindungstypen an, salutierte und schlenderte aus dem Saal. Währenddessen wünschte ich mir, die Erde würde sich auftun und mich verschlingen. What the fuck? Ich wollte sterben. Jetzt. Sofort. Auf der Stelle. Stattdessen musste ich mir von einem geschniegelten Besserwisser mit Seitenscheitel und Bundfaltenhose anhören, warum ich mich lieber von Luka fernhalten sollte.

***

»Wo ist er, dieses gottverfluchte Arschloch?«

Ich preschte durch die Tür, warf mit voller Wucht meine Schlüssel auf den Esstisch und stieß mir das Knie an dem dämlichen Clavinova.

»Aua! Warum steht der Scheiß hier rum?«

Voller Absicht trat ich nochmals dagegen.

»Luka! Ich schwör dir, noch so eine Nummer, und du kannst dir schon mal dein Grab schaufeln!«

»Hör auf zu brüllen. Er ist nicht da.«

Robert schaute verschlafen über die Lehne der Couch. Oder bekifft. Konnte auch sein. Ich stieß einen gequälten Laut aus. Ärger? Verzweiflung? Am ehesten eine Mischung aus beiden. Robert rappelte sich auf. So wie der aussah, hatte er heute noch keinen Fuß vor die Tür gesetzt. Er wühlte durch die Küchenschränke, nahm einen Edding, schmierte etwas an die Schranktür und wühlte weiter. Kam mir komisch vor. Ging mich aber nichts an. Ich ließ mich in den Sessel ohne Beine fallen und wurde prompt von Kater Nein belagert. Er schnurrte. Wieso? Er hatte überhaupt keinen Grund, sich mit mir anzufreunden. Ich ignorierte ihn konsequent und er perforierte mir rhythmisch mein Bein. Kapitän Rotbart schleppte zwei Flaschen Bier und zwei Snickers an, setzte sich und kaute auf dem Schokoriegel.

»Ich soll dir von Sirin ausrichten, du sollst die Kaffeemaschine ausschalten und den Stecker ziehen, bevor du gehst.«

Aha. Ich legte die Stirn in Falten.

»Don’t shoot the messenger.«

»Warum der Stecker?«

»Frag nicht. Mach’s einfach.«

Als Robert checkte, dass ich weder Bier noch Schokolade wollte, nahm er sich auch das zweite Snickers und warf die Verpackung auf den Nierentisch.

»Also? Erzähl! Was hat er diesmal ausgefressen?«

Mir blieben die Worte im Hals stecken. Was sollte ich darauf denn antworten? Ach, halb so wild. Mich im Regen durch die Stadt geschleift und dann in der Uni geküsst. In einem Hörsaal. Vor versammelter Mannschaft. Auf den Mund! Hallo? Ich knirschte mit den Zähnen und raufte mir die Locken. Robert schmunzelte.

»Okay. Ich frage anders. Auf einer Peinlichkeitsskala von Eins bis Zehn. Wo?«

Da brauchte ich nicht lange zu überlegen.

»Fünfhundert!«

Mein rotbärtiger Mitbewohner lachte laut.

»Alles klar. Nimm’s ihm nicht krumm. Er überspannt den Bogen manchmal.«

Ich starrte ihn ungläubig an und fuchtelte so heftig mit den Armen, dass es dem Kater zu ungemütlich wurde. Er stolzierte davon. Angekekst. Mit erhobenem Kopf und rasant zitterndem Schwanz. Möglicherweise war ich dem Kater auch zu laut. War mir aber egal. War mir auch egal, ob Karla schlief oder ob Sirin irgendwelche Dezibel-Grenzwerte parat hielt und mir den Mund verbot. Ärger und Entsetzen wollten raus.

»Nicht krummnehmen? The fuck? Dude, der kann mich doch nicht einfach küssen!«

Robert verschluckte sich am Bier.

»Er hat ...?«

»Ja.«

»Bist du ...?«

»Was?«

Er verdrehte die Augen und mir ging ein Licht auf.

»Rob, that is absolutely not the point! Darum geht’s nicht!«

Keine Ahnung was Robert so amüsierte. Er hielt sich den Bauch und lachte Tränen.

»Das ist echt neu. Er macht immer ganz genau und ausschließlich das, was er will. Schon klar. Aber das ist neu.«

Er kicherte intervallartig, während ich mich zerknirscht tief in die Kissen sinken ließ.

»Der kann was erleben, wenn er später heimkommt.«

»Da kannst du lange warten.«

»Wieso?«

»Luka hat vorhin seine Sachen gepackt und gesagt, er sei über Nacht bei seinen Eltern.«

Na prima. Ade, du glühende Wut. Aufgekochte Streits waren einfach nicht dasselbe. Damit musste ich wohl leben.

Wir hingen im Wohnzimmer herum. Schweigend. Nur der Fernseher lief. Ob man an diesem wohl auch den Stecker ziehen musste? Blieb abzuwarten. Robert nickte ein. Ich schaltete um. Er wachte auf und schaltete zurück. So ging das eine ganze Weile, bis uns der Kater mit ohrenbetäubendem Getöse aus unserer Lethargie riss. Er war auf das Clavinova gesprungen und stakste über die Tasten.

»Wieso steht das hier eigentlich mitten im Weg rum? Sirin kriegt einen Herzanfall, wenn sie das sieht.«

»Hat Luka vorhin hierher geschoben. Für dich. Er sagte, du seist zu gut erzogen, um ohne gefragt zu haben in sein Zimmer zu gehen.«

Schon wieder war ich sprachlos.

***

Selbstverständlich hatte ich das Instrument nicht angefasst. Eher hätte ich mir die Finger abgehackt. Ich lag wach in meinem Bett und kriegte einfach nicht auf die Kette, welches Spielchen Luka hier versuchte zu spielen. In der Regel waren Leute ziemlich einfach zu lesen. Egal wer, egal wann, egal wo. Man musste lediglich hinsehen. Richtig hinsehen. Man musste gut zwei Drittel von dem löschen, was laut ausgesprochen wurde und durch das ersetzen, was man sah. Kleine Gesten. Gewohnheiten. Nervöse Ticks. Dafür brauchte man kein Psychologiestudium. Einfach nur die Augen öffnen. Dann sah man mehr, als man sehen wollte. Es sei denn, man war von seinem selbstgeschaffenen Dunstkreis aus Lügen so eingenebelt, dass man die eigene Hand vor Augen nicht mehr wahrnahm. Vermutlich war genau das der Grund, warum ich so oft aneckte. Menschen fragten immerzu nach den Meinungen Anderer, wollten aber eigentlich die Meinungen im Wortsinne, also deren Blickwinkel, gar nicht wissen. Vielmehr ging es darum, ihnen vorzubeten, was sie hören wollten. Das tat ich nicht. Unter keinen Umständen. Oftmals erwischte ich mich bei dem bitteren Gedanken, dass, egal was und wie man Dinge anpackte, im Endeffekt doch immer das Falsche dabei heraus kam. Früher schwieg ich. Meistens. Das führte für gewöhnlich dazu, dass man mir sagte, ich solle mich nicht so einigeln und von allem abschotten. Heute sprach ich. Meistens. Fasste in Worte, was andere mit Sicherheit nicht hören wollten. Seither sagte man mir, ich solle nicht so unterkühlt und gemein sein. Ergo: alles Mist. Ich drehte mich um, zog mir die Decke über den Kopf und dachte an Jake. Deafening silence. I’m scared shitless. Seine Worte. Immer und immer wieder: Matthew schweigt. Das macht mir Angst. Jake hatte es gecheckt. Wie Menschen tickten. Und damit auch ein stückweit, wie ich tickte. Ja, ich war ein arroganter Drecksack. Ich erlaubte mir, sehr schnell zu urteilen, weil ich oftmals richtig lag. Nicht immer, aber oft genug. Und nun lag ich hier und hatte nicht den leisesten Schimmer, was dieser blaugefärbte Wahnsinnige von mir wollte. Zum Kotzen! Das machte mich irre. Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und tippte eine Nachricht.

=== JAKE & DU ===

People are a bunch of bastards.

Prove me wrong. Please? (17:05)

Vor meinem Fenster tobte das Gewitter, das sich am Vormittag angekündigt hatte, und übertönte den Kater, der vor meiner Tür patrouillierte und lautstark seinen Unmut kundtat. Ob mir der Jetlag immer noch nachhing? Ich war völlig im Eimer, und doch zu wach, um schlafenzugehen. Ein äußerst unbefriedigender Zustand. Ich zuckte zusammen und mein Herz pochte mit mindestens siebentausend Schlägen pro Sekunde von innen gegen meine Rippen, als mein Handy piepste. Ich zögerte kurz. Dann schaute ich aufs Display.

=== KETTENSCHLUMPF & DU ===

Du bist sauer. (17:06)

Laut stöhnend kniff ich die Augen zu. Offensichtlich! Ja, natürlich war ich sauer, verdammt! Genervt steckte ich das Telefon unter das Kopfkissen und versuchte, die lächerliche Schnappatmung unter Kontrolle zu kriegen. An meinem linken Ohr ertönte ein erstickter, elektronischer Laut.

=== KETTENSCHLUMPF & DU ===

Du schweigst. Schweigen heißt Zustimmung. (17:08)

Ich hab dir das Klavier rausgestellt. Hast du gespielt? (17:08)

Na komm schon, Schneewittchen, sei nicht so stur. (17:11)

Ungläubig starrte ich in den grellen Schein des Chatverlaufs. Nein! So nicht, mein Freund! Fest entschlossen, mich gar nicht erst auf irgendeine Diskussion einzulassen, steckte ich das Telefon zurück unters Kissen und stand auf.

Das Wohnzimmer war leer. Scheinbar war Robert in seine Dunsthöhle zurückgekehrt. Ich heizte die Kaffeemaschine an. Dann nutzte ich die Gunst der Stunde und betrachtete die Schmierereien an den Küchenschränken. Im Chaos der letzten Tage hatte ich nur Satzfetzen aufgeschnappt, den Sinn aber noch nicht entziffern können. Sollte es überhaupt einen Sinn geben. Was hatten wir hier also? Telefonnummern, Namen und Geburtsdaten rechts oben. Freunde oder ehemalige WG-Mitglieder? Hm. Ich zuckte mit den Schultern. Weiter links standen kurze Sätze. Grüße. Viele Herzchen und Unterschriften. Das machte nur Sinn, wenn es sich obendrüber um WG-Mitglieder handelte. Derjenige, der auszog, schien sich hier verewigen zu müssen. Oder dürfen. Ansichtssache. Ich hab euch alle lieb, war jedenfalls ein Satz, der hier exzessiven Gebrauch fand. Das unterstützte meine Kommunen-Theorie. Die Kaffeemaschine hatte aufgehört zu blinken, also schob ich eine Tasse unter den Hahn und drückte auf den Knopf. Diese Padmaschinen brauten eine fiese Brühe, aber besser als nichts. An den Esstisch gelehnt, las ich weiter. Am mittleren Schrank war folgender Satz unterstrichen: Lebensnotwendiges wird sofort aufgefüllt! Darunter befand sich eine Liste, die scheinbar im Laufe der Zeit gewachsen war. Kaffee, Tee, Milch, Klopapier, Shampoo, Kopfschmerztabletten. Bier war durchgestrichen. Darunter folgte erneut das Wort Bier. Auch das war durchgestrichen. Wiederum darunter stand das Wort Gerstensaft. Doppelt durchgestrichen. Wer hier wohl den längeren Atem hatte? Ganz unten stand: Snickers. Wenn ich mich recht erinnerte, war das eine der Stellen, an der Robert am Nachmittag herumgekritzelt hatte. Hier wurden doch sicherlich Wetten abgeschlossen. Darüber, wie lange persönliche Vorlieben einen Platz auf der wichtigen Liste halten konnten. Das Snickers flog bestimmt noch an diesem Abend raus. Oder wann auch immer Sirin einen Fuß in die Küche setzen würde. Das war mein Tipp. Ich nippte am Kaffee und rieb mir die Augen. Auf die letzte Schranktür waren persönliche Nachrichten gekritzelt. Alle fingen identisch an. @Name. Doppelpunkt. Dann folgte die Nachricht. Und irgendetwas sagte mir, dass solche Notizen nur dann hinterlassen wurden, wenn sie in der Vergangenheit zu Streit geführt hatten. Meine Favoriten waren: @Luka: Plastikverpackungen – auch wenn sie grün sind – gehören nicht in den Bio-Müll! Und: @Robert: Im Wohnzimmer herrscht Hosen-Pflicht! Ich klemmte mir die Haare hinter die Ohren und kaute auf meiner Lippe. Wo war ich hier nur reingeraten? Am Ende der Schranktür angekommen, hielt ich inne und kniff die Augen zusammen. @Matt: Zieh den Stecker! Ich hasste, dass sie recht hatten. Das war ja auch vollkommen dämlich! Den Stecker von der Kaffeemaschine ziehen? Ernsthaft? Ich knurrte innerlich und zog den verdammten Stecker.

 

»Hi Matthew.«

Alter Schwede. Ich erschrak zu Tode. Hatte Sporty Spice etwa eine Ausbildung zum Ninja gemacht? Karla saß auf der Lehne der grüngeblümten Couch und schnürte ihre Turnschuhe.

»Ich sehe, du stehst auch schon auf der Liste der Todsünden.«

Sie lächelte und ich zuckte mit den Schultern.

»Hab ich den Rekord gebrochen?«

»Nein.«

Karla erhob sich, machte mit den Armen einige Dehnübungen und kam zu mir herüber.

»Hier. Tag Eins. Ich glaub, das kann man nur schwer toppen.«

Sie tippte mit dem Zeigefinger auf einen fast verblassten Satz, der mit Kugelschreiber geschrieben und mir deshalb wohl vorher nicht aufgefallen war. Dort stand: @Luka: Wenn du in dieser WG schon Sex haben musst, dann in deinem Zimmer! DEINEM. In Blockbuchstaben. Dreifach unterstrichen. Ich starrte mit offenem Mund zwischen der Schranktür und Karla hin und her, die den Kopf schüttelte und die Hand hob.

»Frag nicht. Ich weiß keine Details. Bin auch nicht scharf drauf.«

Ich wollte mir die Augen mit Seife auswaschen und den Löschen-Knopf für mein Gedächtnis finden. Dringend!

»Ich geh jetzt jedenfalls joggen. Willst du mitkommen?«

Das Entsetzen stand mir ins Gesicht geschrieben. Joggen? Ich? Heute? Ich war fix und alle.

»Nur ein Angebot. Deine Entscheidung.«

Schon klar. Ich haderte mit mir. Vielleicht war es doch gar keine so dumme Idee. Gegebenenfalls setzte die Beschäftigung mein Hirn eine Weile auf Durchzug, und ich schaffte es, nicht doch noch Luka irgendeine angeätzte Bemerkung hinterherzuwerfen. Karla grinste.

»Gib dir ’nen Ruck. Zieh dich um. Ich warte.«

Wir nahmen fast denselben Weg, den Luka am Morgen mit mir gegangen war. Minus diverse Schleifen und Schlenker. Und ich lernte, dass man sich immer mit Seinesgleichen messen sollte. Nicht mit der Profiliga. Eines war gewiss, Sportler war ich nicht. Karla dafür umso mehr. Auf einer Aussichtsplattform oberhalb des Flusses blieben wir eine Weile stehen, und Karla erklärte, was man sich flussauf- und flussabwärts unbedingt anschauen musste. Stadtführung Nummer Zwei. Das tat sie nur meinetwegen. Damit ich durchatmen konnte. Ganz sicher. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass sie ohne Klotz am Bein zügiger vorangekommen wäre. Obwohl sie ein Skelett war und für dieses Workout keine Energie haben sollte. Aber ich schluckte meinen angeknacksten Stolz hinunter. War ja selbst schuld. An der Brücke bogen wir dann ab und gingen die Stufen zum Flussufer hinunter. Dort führte ein schmaler Trampelpfad unter der Brücke hindurch und stieß am anderen Ende auf einen geebneten Radweg. Von dort aus joggten wir am Kai entlang. Karla lief lässig neben mir her, während mir der Schweiß in die Augen tropfte und brannte wie Feuer. Sie deutete nach vorn.

»Wir laufen bis zum Stadtstrand Café, trinken was und laufen dann wieder zurück. Okay?«

Ich nickte und biss die Zähne zusammen. Das Café war ein Mückenschiss am Horizont. Sicherlich noch fünfzehn bis zwanzig Minuten, bis wir dort ankamen. Falls wir dort ankamen. Und ich nicht vorher an Herzversagen starb. Karla ignorierte, dass meine Lunge wie ein Maracas-Quartett rasselte. Sie wusste scheinbar, wann man einem Mann seinen Stolz lassen musste.

Stadtstrand Café. Der Name war Programm. Am Ufer war Sand aufgeschüttet worden, es gab ein Beachvolleyballfeld und eine ganze Armada blauweißgestreifter Strandkörbe. Auf der Getränketafel stand in Blockbuchstaben: Winterpause ab November. Abschiedsparty an Halloween. Diesjähriges Motto: Feary Tales – Untote Märchen-Pärchen! Der Gruselwahnsinn war also mittlerweile über den Großen Teich geschwappt. Scheinbar machte der menschliche Drang, sich ab und an in aller Öffentlichkeit zum Affen zu machen, nicht einmal an Landesgrenzen Halt. Anyways. Ich ließ mich in einen Strandkorb fallen, und Karla besorgte zwei Flaschen Wasser. Und nun? Ich war unheimlich schlecht, was belanglosen Smalltalk betraf, und versuchte, mir irgendetwas halbwegs Brauchbares aus den Fingern zu saugen.

»Du arbeitest in der Bibliothek?«

Karla nickte stumm. Okay. Dead end. Über was redeten Menschen, die sich nicht kannten? Ich kaute auf meiner Lippe und verrenkte mir das Hirn.

»Du scheinst nicht oft daheim zu sein.«

Sporty Spice trocknete sich die Stirn mit einer Papierserviette und nickte.

»Ja. Hauptsächlich wegen der Klarinette.«

What? Ich machte große Augen und hob die Hände, um ihr zu signalisieren, dass ich nicht kapierte, was sie mir damit sagen wollte.

»Ich spiele Klarinette. Mein Freund wohnt alleine, da stört es keinen, wenn ich übe.«

Mir fielen fast die Augäpfel aus den Höhlen. Seriously?

»Wie bitte? Du ziehst aus und er darf bleiben?«

»Wer?«

»Na, er. Luka. Er und sein Klavier.«

Karla lachte.

»Das ist was anderes, glaub mir.«

Wie, um alles in der Welt, sollte das etwas anderes sein? Hatte nicht sogar der sonst so gechillte Robert vor einigen Tagen die Nerven verloren und durch die WG gebrüllt, Luka solle aufhören, das arme Instrument zu quälen? Schlief Sirin etwa nicht mit Ohropax, damit sie das Geklimper nicht ertragen musste? Wo, bitte schön, lag der Unterschied? Ich wischte mir mit dem Saum meines Shirts den Schweiß aus den Augen und starrte meine Joggingpartnerin verständnislos an. Aber sie lachte nur wieder.

»Ich bin ein blutiger Anfänger und produziere nur schräge Töne. Bislang. Hoffentlich ändert sich das bald. Luka hingegen ist richtig gut.«

»Bist du dir sicher, dass wir von derselben Person sprechen? Luka? Ungefähr so groß wie ich, blaue Haare, blaue Augen, markant kehlige Stimme?«

Karla kicherte.

»Ja, genau der Luka.«

Ich traute meinen Ohren nicht.

»Der Typ, der seit Tagen und Nächten schiefere Töne aus dem Clavinova quetscht, als die Menschheit je gehört hat? So, dass sogar der Kater nur noch durch die Gegend schleicht. Bauch am Boden. Kamm gestellt und Schwanz aufgeplustert. Der Luka?«

Sie lachte wieder.

»Keine Ahnung, was der im Moment hat. Wenn er will, spielt er großartig.«

Ich kniff skeptisch die Augen zusammen. Solange ich das nicht mit eigenen Ohren hörte, würde ich das bestreiten. Definitiv!

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