"Rosen für den Mörder"

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Ein „ganzer Kerl“:
der Ordensjunker

Ausgestattet mit dem erfreulichen Zeugnis aus Grottenhof, macht sich der 18-jährige Franz Murer im Sommer 1930 auf Arbeitssuche – und hat Glück: Die Fürstlich Schwarzenberg’sche Forstdirektion engagiert ihn „auf Praxis“ für ihren Gestüthof in Laßnitz-Murau. Eineinhalb Jahre lang sammelt er als Knecht im Pferdehof der Adelsfamilie erste Erfahrungen in einem großen landwirtschaftlichen Betrieb, 1932 tritt er dann auf einem Gut in Vasoldsberg bei Graz als „Adjunkt“ seine erste richtige Stelle an. Ein Jahr später bietet sich die nächste Chance: Ein Schulkamerad aus Grottenhof, der als Verwalter auf dem Gut Marienhof bei Nikitsch im Burgenland tätig ist, bietet ihm eine Stelle an: Murer soll als sein Gehilfe die Verwaltung der Ackerbauflächen des Guts übernehmen. Die Herausforderung für den jungen Steirer ist groß: Der Betrieb im Besitz eines ungarischen Grafen umfasst 550 Joch, am Gutshof sind nur Ungarn beschäftigt, dazu kommen kroatisch sprechende Saisonarbeiter aus dem nahen Kroatisch Minihof. Das Gut, dessen Felder die Grenze zu Ungarn bilden, wird als Pachtbetrieb geführt und umfasst auch eine große Spiritusbrennerei, das jährliche Kontingent beträgt ca. 1000 Hektoliter „Feinsprit“. Murer bewältigt die Aufgabe erfolgreich, in seiner autobiografischen Notiz vermerkt er: „Beruflich war diese Zeit für mich sehr schön und ich denke gerne daran zurück.“ Mit den ungarischen und kroatischen Hilfskräften hat er das „beste Einvernehmen“, „politisiert“ wird angeblich nicht, wohl aber verfolgt Murer in den Zeitungen aufmerksam das Zeitgeschehen und wandelt sich allmählich zu einem Sympathisanten der Nationalsozialisten. Fasziniert vom Aufstieg Hitlers, beginnt er den „autoritären“ Staat, wie ihn Engelbert Dollfuß mit Unterstützung der „Starhembergheimwehr“ führt, abzulehnen, die Hinrichtungen nach dem Juliputsch bestärken ihn in der Ablehnung des „Ständestaats“: „Nach Niederschlagung der Putschversuche war ich wirklich das erste Mal entsetzt, als ich las, daß einige Verwundete mit der Tragbahre zum Galgen gebracht wurden und das von einer christlichen Regierung“, erzählt er in seiner autobiografischen Skizze. Zu erwähnen vergisst Murer, dass es wohl vor allem die Nachrichten von zuhause sind, die ihn bewegen: Der Aufstand der Nationalsozialisten in den obersteirischen Gebieten fordert zahlreiche Todesopfer, nirgendwo sonst wird mit derartiger Brutalität agiert. Es ist auch keine Splittergruppe, die hier ihr Glück versucht, sondern eine breit in der Bevölkerung verankerte, gut organisierte und zentral gelenkte Streitmacht. So sieht sich Judenburg am Morgen des 26. Juli 1934 von Hunderten von mit Maschinengewehren bewaffneten SA-Leuten eingekreist, in Leoben kommt es zum blutigen Kampf zwischen den Aufständischen und einem Bataillon des Bundesheers, das sogar Artillerie zum Einsatz bringen muss, um sich gegen die SA-Kämpfer durchzusetzen. Gut möglich, dass unter den Todesopfern auf Seiten der Nazis auch Bekannte aus dem persönlichen Umfeld Murers sind – nach dem „Anschluss“ werden sie als Märtyrer gefeiert werden, nach 1945 fallen sie dem Verdrängen und Vergessen anheim. Der Juli 1934 bleibt in der Erinnerung vieler steirischer Bauernfamilien als blutiger Stachel zurück.


NS-Elite der Zukunft: Junker der Ordensburg Krössinsee marschieren singend zum 48. Geburtstag von Robert Ley auf. Im Hintergrund der Bergfried von Krössinsee, Februar 1938.


Knecht am Gestütshof des Fürsten Schwarzenberg: Eintrag in der „Betriebs-Liste“ des Guts für die Landwirtschaftskasse für Steiermark“ 1930/31.

Für den jungen Adjunkten der gräflichen Gutsverwaltung sind es ökonomische Aspekte, die besonderes Gewicht in der Entscheidung für Hitler gewinnen. Die, wie Murer meint, gegenläufigen wirtschaftlichen Entwicklungen in den beiden Ländern – „immer steigende Verbesserungen“ in Deutschland, „Arbeitslosigkeit und Not“ in Österreich – überzeugen ihn schließlich vollends davon, mit den Nazis die richtige Wahl zu treffen. Er habe sich allerdings, so behauptet er später in seiner autobiografischen Skizze, nie in einer illegalen NS-Organisation betätigt – dazu hätten in der abgeschiedenen Welt des Gutshofes an der ungarischen Grenze die Voraussetzungen gefehlt. Eine glaubhafte Aussage, auf jeden Fall aber ist er Sympathisant der Naziszene.

Es sind traurige Anlässe, die Murer zurück nach St. Lorenzen rufen: 1934 stirbt im Alter von nur 57 Jahren seine Mutter Maria, 1937 Vater Johann, auch er erst 58 jahre alt. Den Pötscherhof übernimmt der jüngere Bruder Georg, Franz hat inzwischen ja einen beruflich erfolgreichen Weg in der Fremde eingeschlagen.

Knapp vor dem „Anschluss“, im Februar 1938, wird Murer als Verwalter für ein Gut in Kleinmutschen engagiert, als Wohnadresse gibt er später Kleinmutschen 63 an. Auf dem Anwesen sieht er sich als wieder „einziger Deutscher“ mit Kroaten und Ungarn konfrontiert, nach eigener Aussage versteht er sich auch hier bestens mit ihnen – vor allem mit den Kroaten, von denen er nun erfährt, dass sich manche von ihnen zum Nationalsozialismus „bekennen“. Sein neuer Chef ist ein österreichischer Bankdirektor aus Warschau, der ihm auch, wie Murer freimütig berichtet, ein sehr gutes Gehalt zahlt, sodass „ich in der Lage gewesen wäre, eine Familie zu gründen“– das bessere Gehalt hat ihn wohl auch dazu bewogen, seine Stelle auf Gut Marienhof aufzugeben.

Mit der Abgeschiedenheit ist es nun vorbei, Murer holt offensichtlich nach, was er auf Gut Marienhof versäumt hat: Er sucht Kontakte in der illegalen burgenländischen Szene, die im März 1938 mit dem „Anschluss“ ihre große Stunde gekommen sieht. Jetzt, in der Euphorie dieser Tage, ist plötzlich für den aufstrebenden „Gutsverwalter“ alles anders, ein alternativer Weg zeichnet sich ab: Ein „deutscher Kreisleiter, welcher in Oberpullendorf seinen Sitz“ hat und hier offenbar seinen ostmärkischen Kollegen – gemeint ist wohl Paul Kiss (1894–1961), Kreisleiter von Oberpullendorf und Mitglied des Burgenländischen Landtags – in die Praxis des NS-Führerstaates einschult, „entdeckt“ angeblich den vom NS-Programm begeisterten jungen Agrarfachmann, der unbedingt auch seinen Teil zur „braunen Revolution“ Hitlers beisteuern will: Von besagtem Kreisleiter erfährt er, dass Männer zur Aufnahme in die NS-Ordensburg Krössinsee gesucht werden, es gelte den „Führernachwuchs“ zu sichern – eine Herausforderung, die ganz nach dem Geschmack Franz Murers ist, und so bewirbt er sich um die Aufnahme, schon zuvor tritt er mit dem Aufnahmedatum 1. Mai 1938 und der Mitgliedsnummer 6171713 in die NSDAP ein. (Bundesarchiv, NSDAP-Gaukartei.) Nachdenklich stimmt allerdings ein im Litauischen Spezialarchiv Wilna (LYA) erhaltenes Dokument, das eine NSDAP-Mitgliedschaft Murers „seit April 1933“ vermerkt, allerdings ebenfalls mit der Nummer 6171713. Handelt es sich hier um einen Irrtum oder hat Murer bewusst eine falsche Angabe gemacht? Später wird er sich damit rühmen, dass er seine Mitgliedsnummer gar nicht gewusst und zu seiner „Überraschung“ erst vom sowjetischen Untersuchungsrichter in Wilna erfahren habe. Die Formulierung in seiner autobiografischen Skizze lässt jedoch vermuten, dass sich Murer gerne einer niedrigeren Mitgliedsnummer gerühmt hätte: „Ich habe mich dann auch um die Parteimitgliedschaft beworben und bekam die Nummer der im Jahre 1938 beigetretenen Mitglieder.“

Die Aufnahmekriterien für die Ordensburg-Kandidaten, die zukünftige Elite der Partei, sind streng. Sie müssen sich zum einen in dem Beruf, den sie gewählt haben, bereits bewährt haben. Ein schriftlicher Test, dem sie sich unterziehen müssen, soll dann überprüfen, ob sie den Anforderungen auch geistig gewachsen sind, eine der Fragen bezieht sich auf die Erwartungen, die der Bewerber an die Ausbildung auf einer Ordensburg hätte. Murer, der in seiner Euphorie mit seinem Ziel erst gar nicht hinter dem Berg halten will, erklärt den Prüfern, wie er in seiner autobiografischen Notiz erzählt, dass er „Bauernführer“ werden wolle. „Politische Fragen“, so merkt er an, seien in diesem Test jedoch keine gestellt worden.

Robert Ley, selbst nicht unbedingt eine sportliche Erscheinung, fordert weiters von den Kandidaten absolute Gesundheit und so wird Murer in der Klinik für Innere Krankheiten am Allgemeinen Krankenhaus in Wien auf Herz und Nieren untersucht. Geleitet wird die Klinik von einem Mann, dem die Nazis vertrauen: Professor Hans Eppinger junior (1879–1946), einem Spezialisten für Leberkrankheiten und Kreislaufstörungen, der später im KZ Dachau an 90 Roma und Sinti eine Versuchsreihe zur Trinkbarkeit von Meerwasser vornehmen wird – die Häftlinge bekommen dabei nur Meerwasser zu trinken, eine Tortur, an der viele nach kurzer Zeit sterben. Eppinger, der 1946 im Nürnberger Ärzteprozess aussagen soll, begeht kurz vor Prozessbeginn Selbstmord. Murer besteht den Gesundheitscheck an der Eppinger-Klinik ohne Probleme und wird schließlich an der Ordensburg Krössinsee aufgenommen.

„Politische Soldaten“:
Krössinsee

Robert Ley, der Leiter der Deutschen Arbeitsfront, ist ein Besessener. Er sieht sich für die „Schulung und Erziehung des deutschen Menschen“ verantwortlich und will für den „Führernachwuchs“ der Partei eine neue „Auslese“, eine Elite, die die „bürgerliche Auslese“ ersetzt. Er träumt von „wirklich vollkommenen Kerlen in jeder Beziehung“, von Männern, die den „Willen zum Führen in sich tragen“, die „Freude am Herrschen“ (Zitate Robert Ley) haben. Dafür, so meint er, braucht es auch besondere Ausbildungsstätten – „Ordensburgen“, die allein schon durch ihre Architektur den Kandidaten „jeden Tag von neuem ein Sinnbild der Größe und der Würde der nationalsozialistischen Weltanschauung“ sein sollen. „Gewaltig, neu und zweckmäßig“ sollen diese vom Grund auf neu erbauten Ordensburgen sein, ein Ebenbild der „neuen, gewaltigen Weltanschauung Adolf Hitlers“. Ein Umbau alter Burgen oder Schlösser kommt daher für Ley nicht in Frage, die Anlagen werden neu geplant: Sonthofen im Allgäu, Vogelsang in der Eifel und Krössinsee in Pommern.

 

Als „Dankesschuld und Geschenk der schaffenden deutschen Menschen“ übergibt Robert Ley am 24. April 1936 die Ordensburgen Krössinsee, Vogelsang und Sonthofen dem „Führer“. Der Nachwuchs der Partei soll hier zu „ganzen Kerlen“ erzogen werden, ja, Ley legt seinem vergötterten Chef gegenüber ein Gelöbnis ab: „Diese Männer, die hier hinausgehen, werden gehorchen gelernt haben, werden treu und Kameraden für das ganze Leben sein.“ In einem Interview für die Zeitung Der SA.-Mann führt Ley die Ziele näher aus: Kein „neuer Priesterstand“ soll herangebildet werden, sondern sein Ideal sei der „politische Soldat, der den Begriff Prediger und Soldat in sich eindeutig vereinigt“. (Zitiert nach Robert Ley, Wir alle helfen dem Führer.)


Sport „liefert neue Kraft zum Lebenskampf“: Hangeln am Seil gehört für die angehenden Ordensjunker zum Ausbildungsprogramm. Foto: Willi Ruge, 1939.

Mut, Entschlusskraft und Kühnheit der Ordensjunker sollen erprobt und weiter gefördert werden, ein Absprung mit dem Fallschirm aus dem Flugzeug und der Sprung vom Zehn-Meter-Brett gehören daher ebenso zum Ausbildungsprogramm wie Box- und Fechtunterricht. In Krössinsee dominieren Wassersportarten wie Rudern und Segeln, auch sie liefern „neue Kraft zum Lebenskampf“ und fördern die „Grundeigenschaften echten Mannestums“. (Robert Ley)

Am 1. Dezember 1938 beginnt in Krössinsee Murers Ausbildung zum „Ordensjunker“, der Tagesablauf der Nachwuchsführer ist streng geregelt: Um 6 Uhr werden die Lehrgangsteilnehmer geweckt, es folgen Frühsport, Frühstück und die Flaggenparade. Dann beginnt der Unterricht mit Vorträgen von Gast- und Hauptlehrern. Nach dem Mittagessen steht der Sport am Programm, mitunter folgen militärische Übungen und Exerzieren. Vor dem Abendessen um 19 Uhr müssen die angehenden „politischen Soldaten“ in kleinen Arbeitsgruppen noch einmal den Lehrstoff vom Vormittag durcharbeiten, erst nach dem Abendessen haben sie frei, Zapfenstreich ist um 22 Uhr. Für etwas Abwechslung sorgen Ausflüge ins Umland und ins Stadttheater Stettin, auch auf der Ordensburg selbst finden kulturelle Veranstaltungen statt – zu manchen Konzerten etwa hat auch die Bevölkerung aus der Umgebung Zutritt (Rolf Sawinski, Die Ordensburg Krössinsee in Pommern).

Vor der Abreise nach Pommern vollzieht der 26-Jährige, der sich ganz dem „Führer“ verschrieben hat, einen symbolisch wichtigen Schritt: Am 16. Oktober 1938 tritt Franz Murer laut Bescheinigung der Bezirkshauptmannschaft Murau aus der Kirche aus, ja, die Kraft für sein zukünftiges Leben, so dünkt es ihm, kommt jetzt aus anderer Quelle, er will wie viele seiner neuen Kameraden ganz mit der alten Welt abschließen. Unterstützung für diese Entscheidung hat er, so scheint es, von Seiten der Familie: Auch Schwester Romana, geboren 1916, und Bruder Peter (Petrus) treten 1940 bzw. 1942 aus der Kirche aus, ein Indiz dafür, dass seine Geschwister die Begeisterung für die NS-Ideologie weitgehend teilen. Nach Kriegsende werden die Murer-Geschwister wieder in den Schoß der Kirche zurückkehren – Franz Murer macht diesen Schritt am 24. Februar 1946 in Gaishorn.


Das Blatt der „politischen Soldaten“ aus der „Falkenburg“ Krössinsee: die „Burggemeinschaft“.

Nach fünf Monaten Schulung wird Murer am 8. Mai 1939 zur Wehrmacht eingezogen und absolviert beim Flak-Regiment 51, das dem Luftverteidigungskommando 2 untersteht, in Stettin eine Kurzausbildung, sein „Heimat-Luftgau“ ist von nun an „Posen I“. Am 5. August 1939 schickt man den Ordensjunker nach Hause – Murer bleibt damit der Feldzug in Polen erspart, zu dem die aus fünf Batterien bestehende Einheit bereits wenige Wochen später aufbrechen muss.

Trotz aller Begeisterung für die „braune Revolution“ kehrt Rekrut Murer wohl nicht ungern in die Steiermark zurück. Er hat zwar hier kein richtiges Zuhause mehr, aber in Gaishorn am See wartet ein junges Mädchen auf ihn, das er vermutlich schon 1938 vor seine Abreise nach Krössinsee kennen gelernt hat: die 19-jährige Elisabeth Möslberger. Elisabeth teilt seine politisch-ideologischen Überzeugungen: Sie ist Mitglied beim BDM und in der Gaishorner Naziszene bestens verankert. Sitz der NS-Ortsgruppe ist die „Villa Größing“ – Anton Größing, Bürgermeister des Orts von 1934 bis 1938, hat sein Amt nach dem „Anschluss“ dem Nationalsozialisten Viktor Gasteiner (1903–1943), allgemein bekannt als „Hansl im Ort“, übergeben müssen. Parteigenosse und Ordensjunker Murer ist in Gaishorn willkommen und lebt sich rasch ein. Er stellt sich der Kreisbauernschaft zur Verfügung und beeindruckt diese mit neuen Ideen, die man offenbar auch umzusetzen versucht: „Wir haben dann dort Bewirtschaftungssachen gemacht“, wird er später etwas kryptisch dem Untersuchungsrichter erklären.

Zwischenspiel: eine Hochzeit
und ein Wilderer-Drama

Am 14. März 1940 heiratet Franz Murer, der bereits seit dem 1. März in Gaishorn am See bei seinem zukünftigen Schwiegervater gemeldet ist, die am 25. April 1920 geborene Elisabeth Möslberger, Tochter des Bauern Josef Möslberger (auch Mösslberger, 1882–1952), in Gaishorn. Der Ordensjunker heiratet in Uniform, obwohl nur eine standesamtliche Trauung vorgenommen wird, erscheint die junge Frau, wie ein erhaltenes Foto zeigt, im weißen Brautkleid. Dieses „Hochzeitsfoto“ hat eine eigene Geschichte: Es befindet sich heute in der Fotosammlung des israelischen Museums „Haus der Ghettokämpfer“ und ist wohl über den Urologen Dr. Mosche Feigenberg in dessen Besitz gelangt. Feigenberg, 1909 in Wilna geboren und im Ghetto als Arzt im Jüdischen Spital tätig, tritt im Prozess 1963 als Zeuge auf, bereits in der Voruntersuchung legt er das Bild dem Untersuchungsrichter vor, er gibt an, das Bild von einem „Herrn Dimitrowski“ bekommen zu haben. Von ihm stammt auch jenes bekannte Foto, das Gebietskommissar Hingst und Murer bei einer Veranstaltung zeigt – bis heute das einzige gemeinsame Bild der beiden Nazi-Zivilbeamten. (Siehe dazu auch Seite 234 ff.)


Hochzeit mit Elisabeth Möslberger in Rottenmann am 14. März 1940. Franz Murer heiratet in der Uniform der Ordensjunker.

Elisabeth Möslberger ist für den Ordensjunker und Flaksoldaten Murer eine „gute Partie“ – ihr Vater, Sohn eines Gast- und Landwirts in Lassing-Burgfried, ist Herr auf dem 60 Hektar großen, am Abhang des Sonnbergs gelegenen „Hubenbauernhof“ in Gaishorn 66 und war von 1924 bis 1934 Bürgermeister der Gemeinde. In den Besitz des Hofes gelangte er 1919 durch Heirat mit der Witwe Elisabeth Krenn, geborene Rainer, ein Jahr später wurde Tochter Elisabeth geboren.

Dem jungen Paar – Elisabeth ist bereits schwanger – sind noch einige Wochen gegönnt, dann muss Franz Murer wieder zur Luftwaffe. Am 19. April 1940 flattert für den Angehörigen des „Heimat-Luftgaus“ Posen I der Einrückungsbefehl ins Haus, am 22. April 1940 meldet er sich bei der 3. Flakersatzabteilung 51 in Stettin-Kreckow. „Trainingsgerät“ der Truppe ist die neu eingeführte 2-cm-Flak 38. Nach vier Wochen Ausbildung geht es über Hildesheim an die Front im Westen: Murer wird zur Reserve-Flak-Abteilung 522 der Flak-Division 5 versetzt und macht in dieser Einheit den Frankreichfeldzug mit, nach der Kapitulation des Gegners stationiert die Truppe in Calais und ist hier für die „Verteidigung der Bodenorganisation“, der Marinestützpunkte und anderer militärischer Anlagen gegen Angriffe der Royal Air Force zuständig. An 21 Tagen, so geht aus Murers „Militärischem Werdegang“ vom 14. April 1944 (Militärarchiv Freiburg im Breisgau, Akt Franz Murer) hervor, hat die Flak-Abteilung „Feindberührung“.


Rückwirkend mit 1. Mai 1938 wird Franz Murer Mitglied der NSDAP, die Mitgliedsnummer: 6171713. Bundesarchiv Berlin, NSDAP-Gaukartei.

Zuhause am Hof in Gaishorn erwartet Elisabeth Murer inzwischen ihr erstes Kind, Tochter Arngund wird am 28. September 1940 geboren – für den Flak-Artilleristen erfreulicher Anlass, um Heimaturlaub zu nehmen. Bald ist auch Gattin Elisabeth wieder schwanger: Am 19. August 1941 wird der erste Sohn des Paars geboren und auf den Namen „Gerulf“ getauft, ein Name, den die Eltern so wie bei Tochter Arngund wohl mit Bedacht wählen – die althochdeutschen Wurzeln ger (Speer) und wolf (Wolf) sind Programm.

Inzwischen braut sich im heimatlichen St. Lorenzen Unheil zusammen – die erste Jahreshälfte 1941 wird von einem Familiendrama überschattet, das die ganze Region in Atem hält und in der Grazer und Wiener Presse für Schlagzeilen sorgt: Am 26. März 1941 beginnt vor dem Landgericht Leoben der Prozess gegen Franz Murers um ein Jahr jüngeren Bruder, den 28-jährigen Georg Murer, Bauer am väterlichen Pötscherhof in St. Lorenzen ob Murau. Zusammen mit dem 31-jährigen Aufsichtsjäger Rupert Perner aus Seetal, der einst auf seinem Hof als Knecht beschäftigt war, muss sich Georg Murer wegen Mordes verantworten. Was war geschehen? Murer und sein Freund waren dem Glücksspiel verfallen, bei dem Perner schließlich nicht nur die Mitgift seiner Frau, sondern oft auch sein gesamtes Monatseinkommen an Murer verloren und weiter Schulden angehäuft hatte. Diesen Umstand machte sich Georg Murer zunutze und erbat sich von Perner als Gegenleistung die „Erlaubnis“, in dem von ihm beaufsichtigten Revier wildern zu dürfen. Angesichts seiner misslichen Lage musste Perner einwilligen, beide Spieler veranstalteten im Revier von Perner nun regelrechte Treibjagden, zu denen auch der als Wilddieb bekannte Holzarbeiter Raimund Urschnigg eingeladen wurde. Der vorbestrafte Jagdfreund Urschnigg hatte jedoch eine Schwäche: Er plauderte gerne und erzählte prompt im Wirtshaus von den fröhlichen Pirschgängen mit Murer und Perner. Georg Murer, um seine Reputation besorgt, sah daraufhin nur mehr einen Ausweg: Urschnigg musste aus dem Weg geräumt werden.

Er redete seinem Kumpanen Perner so lange zu, bis dieser am 6. Juli 1940 in den Wald marschierte, um mit Urschnigg, dem Schwätzer, „abzurechnen“. Bei einer Holzknechthütte traf der Jäger auf den Wilderer, der eben dabei war, ein Stück Wild aufzubrechen. Perner zog seine Dienstpistole und forderte Urschnigg auf, ihm auf die Gendarmerie zu folgen. Der verblüffte Wilderer nahm die Aufforderung seines Bekannten nicht ernst und ignorierte auch eine zweite – da feuerte Perner einen Schuss ab, Urschnigg war sofort tot.

Perner wurde einen Tag später wegen Überschreitung der Notwehr verhaftet, seine Version des Tathergangs – Urschnigg sei mit einer Axt auf ihn losgegangen – erwies sich in den Vernehmungen bald als Lüge, schließlich legte der Jäger ein Geständnis ab und belastete damit auch seinen Freund Georg Murer schwer. Da der Verdacht der Mitwisserschaft aufgrund der Aussage Perners auch auf Georgs Schwester Seraphine Murer (1910–1948) fiel, wurde sie ebenfalls in Untersuchungshaft genommen, nach drei Monaten allerdings freigelassen. Perner hatte behauptet, dass sie gehört hätte, wie ihr Bruder Georg sagte: „Der Urschnigg gehört weg!“

Vom Strafsenat des Landgerichts Leoben wurden Rupert Perner und Georg Murer, der beharrlich leugnete, am 1. April 1941 wegen Mordes bzw. Anstiftung zum Mord zu lebenslangem schwerem Kerker mit einem harten Lager an jedem Jahrestag der Tat verurteilt. Die beiden Verurteilten und auch der Staatsanwalt, der ursprünglich sogar für die Todesstrafe plädiert hatte, gingen in die Berufung an das Reichsgericht – dessen Entscheidung wollte Georg Murer aber nicht mehr abwarten: Er verübte am 10. Februar 1942 in seiner Zelle im Grazer Gefängnis Selbstmord. Das Strafausmaß für Rupert Perner wurde im November 1942 – nunmehr wegen „Totschlags“ – auf zehn Jahre Zuchthaus herabgesetzt. Der „Leobner Wildererprozess“ wurde auch in den Wiener Blättern aufmerksam verfolgt, erblickte man darin doch ein bezeichnendes Sittenbild aus der steirischen Provinz.