Dolomitenladinisch - Sprachgeschichte und hochschuldidaktische Aspekte

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Theodor Gartner (1843–1925), der Pionier der wissenschaftlichen Erforschung des alpinen Romanität im deutschsprachigen Raum und der Erfinder des Terminus rätoromanisch für das, was Graziadio Isaia Ascoli (1829–1907) ladino nannte, ließ sich 1883 ganz klar über die Verbreitung der volkstümlichen Verwendung des Sprachnamens ladíŋ aus (Gartner 1883, XX).

„Aus dem Munde Ungebildeter habe ich nur in einem kleinen, von ungefähr 1900 Einwohnern besetzten Bereiche, nämlich in q4, q5 und q6, ladíŋ als Sprachnamen gehört.“

Die Siglen q4, q5, q6 bedeuten Wengen = La Valle, Kompill = Longiarü-Campill und St. Martin = S. Martino im Unterland des Abteitals. Noch deutlicher drückt Theodor Gartner (1879/1880, 639) sich an einer etwas versteckten Stelle, in seiner Rezension zu Alton 1879, aus:

„Das Nomen ladíŋ wird nicht überall von den Ungebildeten verstanden: so nicht in Abtei, nicht in der Pfarre, nicht in Wälschellen, auch nicht in Kolfuschk; hingegen nannte ein Hirtenknabe in Wengen sein Idiom ladíŋ, badiót sprächen die Leute in badía (Abtei), und ebenso unterschied ein erst neunjähriges Kind in St. Martin zwischen ladíŋ und badiót.

Johann Baptist Alton (1845–1900) ist der erste Einheimische, der eine solide philologische Ausbildung an der Universität Innsbruck genossen hat. Er erfand den Namen und die Landschaft Ladinien, worüber Theodor Gartner spottete (1879/1880, 639): „«Ladinien» ist im ganzen Gadertal terra incognita“. Eine 1886 in Corvara gegründete Sektion des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins nannte sich Ladinia und trug so den Namen in die Welt der Laien (Mitteilungen des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins 6, Wien 1896, 78).

Für Alton ist Ladinien primär das Gadertal, das er in Oberladinien (Kolfuschg, Corvara, Pescosta), Mittelladinien (St. Kassian, Abtei, Stern, Wengen, St. Martin, Longiarü, Campill, Untermoi, Welschellen) und Unterladinien (St. Vigil und Enneberg) einteilt (Alton 1879, 4). Für dieses Ladinien bildet, wie Alton es geschickt ausdrückt (1879, 1), „Buchenstein, Fassa und Gröden die Südgränze“, und er rechtfertigt die Einbeziehung dieser Täler in sein Ladinien-Konzept folgendermaßen (1879, 4):

„Die Grödner, Buchensteinen, Fassaner und Ampezzaner rechnet der Ladiner nicht zu den Ladins, wiewol auch sie mit Rücksicht auf die grosse Verwandtschaft ihrer Dialekte mit dem Ladinischen auf diesen Namen Anspruch machen könnten.“

Aus dieser Äußerung wird klar, dass die Bezeichnung ladinisch bzw. ladíŋ nur im Gadertal eine volkssprachliche Verwurzelung hat, wobei Alton wahrscheinlich die Sprachangabe, die er in seinem „Mittelladinien“ gehört hat, zum Zwecke „der angestrebten Unificierung «Ladiniens»“ (Gartner 1879/1880, 639) auf das ganze Gadertal ausgedehnt hat.

Dass die Ausführungen Gartners berechtigt sind, zeigt auch die kurz nach dem Anschluss Südtirols an Italien erhobene Angabe von Heinrich Kuen, nach der die „Unterbadioten [... sich selbst ladíŋs nennen“, während die „Oberbadioten oft einfach als (kiž) badiótχ bezeichnet“ werden (Kuen 1970, 29). Diese traditionelle Einteilung liegt auch der Angabe von Anton Pizzinini (1868–1944) zu Grunde, der unter dem Eintrag ladin sagt (1966, 83): „bezeichnet eigentlich den Dialekt im Unterland gegenüber maró (ennebergisch) und badiót (abteiisch)“.

Die Intellektuellen Tirols suchten im frühen 19. Jahrhundert nach einer vornehmeren und einheimisch aussehenden Bezeichnung für das Krautwelsch, wie die Mundarten der Bewohner der Dolomitentälern in der deutsch-tirolerischen Umgangssprache bezeichnet wurden (Steub 1854, 38); der Ausdruck verdorbenes Italienisch (Hormayr 1806, 138) passte überhaupt nicht zu den hochtrabenden Ambitionen. Da kam ladinisch, das man aus den Schweizer Schriften über das Engadinische kannte, gerade recht, und man verband es zunächst mit dem ladíŋ des Gadertals. Johann Jakob Staffler (1783–1868) schreibt, dass „die eigenthümliche Sprache des Thales [...] von den Ennebergern selbst Ladin genannt“ werde (Staffler 1844, 273). Die Bezeichnung ladinisch wurde dann aber bald auf andere Mundarten um die Dolomiten angewendet. Ludwig Steub (1812–1888) sagt vom „Ennebergerthal“ und von „Buchenstein“: „Es spricht ladinisch“ (1854, 138), und er spricht von der „ladinischen Mundart der Grödner“ (1854, 129). Der erste, „der die Bezeichnung ladinisch einführt und sie auf die bünderromanischen und zentralladinischen Mundarten bezieht“ (Decurtins 1995, 57), scheint Joseph Theodor Haller gewesen zu sein, wodurch er einen varietätenübergreifenden Sprachnamen geschaffen hat: Die „ladinischen Mundarten in Enneberg und Gröden in Tirol, dann im Engadin“ bieten nach seiner Ansicht „eine solche Gleichheit und Ähnlichkeit auf der einen, und eine solche gleichartige Verschiedenheit von der zunächst verwandten italienischen Sprache auf der anderen Seite“, dass sie als eine eigene Sprachform zu klassifizieren seien (Haller 1832, 161–162). Seit 1832 war also sozusagen der Name ladinische Mundart für die sprachlichen Varietäten Grödens und des Gadertals, was damals unter Enneberg verstanden wurde, als Parallelform zum Ladinischen des Engadins aktenkundig, und man konnte den Sprachnamen ladinisch für das Buchensteinische und das Fassanische anwenden.

Damit war aber eine Steilvorlage für den aus St. Kassian im obersten Gadertal gebürtigen Priester, Lehrer am Mailänder Militärknabenerziehungsinstitut und späteren Innsbrucker Italienischlektor Nikolaus Bacher (1789–1847) geschaffen, der 1833 eine – jedoch erst 1995 edierte – Beschreibung des Abteyer Dialekts mit besonderer Rücksicht auf den Enneberger lieferte (Bacher 1995, 29), aber dabei auch für Gröden, Buchenstein, Fassa und zum Theil auch Ampezzo (Bacher 1995, 23) eine Richtschnur bieten wollte. Das nur handschriftlich erhaltene und mehr als 160 Jahre nach seiner Entstehung publizierte Werk trägt den Titel Versuch einer Deütsch-Ladinischen Sprachlehre, und unter ladinischer Sprache versteht Bacher die vier Sella-Dialekte sowie mit Abstrichen das Ampezzanischer. Nicht etwa die in loco anzutreffende Bezeichnung ladíŋ – die es ja in Bachers Geburtsort St. Kassian nicht gibt – ist für seine Sprachbenennung, die ja alle Sella-Dialekte einschließt, der Ausgangspunkt, sondern es handelt sich um die Übernahme der Bezeichnung ladinische Mundarten aus dem 1833 brandaktuellen Werk von Haller, das von Bacher auch zitiert wird (Bacher 1995, 25; 29).

Man kann sicherlich nicht mit Lois Craffonara (1977, 74) aus Bachers Konstrukt eines die Dialekte Grödens, Buchensteins und Fassas überdachenden Gesamtladinischen gadertalischer Prägung schließen, dass Anfang des 19. Jahrhunderts ladíŋ in Gröden und im Gadertal eine volkssprachlich verwurzelte Bezeichnung der eigenen Sprache war (Haller), dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Einengung auf das Gadertal erfolgt sei (Alton) und dass schließlich nur noch die Bewohner des mittleren Gadertals die Sprachbezeichnung ladíŋ behalten hätten (Gartner). Diese sprachliche Schichtung funktioniert schon deshalb nicht, weil Haller mit seiner Beschränkung auf Gröden und das Gadertal ein Jahr vor der Abfassung von Bachers Manuskript erschienen ist und weil Altons Werk gleichzeitig mit Gartners Arbeiten erschien.

„Der von Craffonara angenommene Vorgang einer Beschränkung eines umfassenden Sprachnamens mit talschaftsübergreifendem Geltungsbereich auf den Gebrauch in einem eng umgrenzten 2000-Seelen-Gebiet im mittleren Abteital innerhalb von 50 Jahren ist bei allem, was wir von der Langsamkeit semantischer Entwicklungen ohne größere Anstöße von außen wissen, ganz und gar ausgeschlossen; hingegen ist die Übertragung einer auf eine kleine Zone beschränkten Sprachbezeichnung auf alle ähnlichen Idiome durch Wissenschaftler, die diese Idiome zu einer Gruppe zusammenfassen wollen, ganz normal.“ (EWD 4, 158)

Unter den Intellektuellen hatte jedenfalls die Idee von der Zusammenfassung der Mundarten Graubündens und des Dolomitenraumes mit zögernder Einbeziehung des Friaulischen um die Mitte des 19. Jahrhunderts Konjunktur, und die Bezeichnung ladinisch für die Mundarten rund um das Sella-Massiv lag sozusagen in der Luft. Der Tiroler Landesschulinspektor Christian Schneller (1831–1908) erntete eine reife Frucht, als er in seiner Abhandlung über die Romanischen Volksmundarten in Südtirol die Dialekte von Fassa, Gröden, Buchenstein, Enneberg, Abtei (Badia) und Ampezzo zu einer „ladinischen Gruppe“ (1870, 8) zusammenfasste und dann postulierte (1870, 9):

„Wir haben somit einen eigenen friaulisch-ladinisch-churwälschen Kreis als selbständiges, wenn auch nie zu einer eigenen Schriftsprache gelangtes, ja nicht einmal vom Bewusstsein eines inneren Zusammenhanges charakterisiertes Hauptgebiet der romanischen Sprachen vor uns. Dieser Kreis stand einst als mächtiger, in seiner Auswölbung weit über den Brenner herüber reichender Bogen mit seinem mit seinem einen Ende an den nördlichen Küsten des adriatischen Meeres, mit dem andern am mächtigsten Mittelpunkt der Alpen, am St. Gotthard. Das Deutsche sprengte denselben von Norden her seit dem sechsten Jahrhunderte in der Mitte auseinander, während viel später das Neuitalienische, die Sprache Italiens, wie Dante sie geschaffen, im Süden die Trümmer, welche das deutsche Element dort nicht mehr vollständig und nicht mehr früh genug zu bewältigen vermochte, überwucherte und in seinen Bereich zog.“

Man findet bei Schneller 1870, „drei Jahre vor der Veröffentlichung von G. I. Ascolis Saggi ladini und dreizehn Jahre vor Th. Gartners Raetoromanischer Grammatik“ (Kramer 1974, 640), die Idee einer eigenen alpinen romanischen Sprache ausformuliert – es fehlte lediglich ein griffiger Name, denn ein friaulisch-ladinisch-churwälscher Kreis ist natürlich als Bezeichnung einer romanischen Sprache ziemlich ungeeignet.

 

Graziadio Isaia Ascoli (1829–1907), der eigentliche Begründer der historisch-vergleichenden Romanistik in Italien, bediente sich dann der Bezeichnung ladino, um einen wissenschaftlichen Terminus zu schaffen. Man darf nicht vergessen, dass Ascoli überhaupt gerne neue Namen erfand: Für seine eigene Wissenschaft ersann er die Bezeichnung glottologia, lange Zeit das in Italien übliche Wort statt linguistica, für die Ostadriaküste, die offiziell Litorale Austriaco hieß, erfand er den Namen Venezia Giulia, und die Bezeichnung franco-provenzale ist bis heute in der internationalen Romanistik üblich. Ascoli beginnt seine 1873 veröffentlichten Saggi ladini mit folgendem programmatischen Satz:

„Comprendo sotto la denominazione generica di favella ladina, o dialetti ladini, quella serie d’idiomi romanzi, stretti fra di loro per vincoli di affinità peculiare, la quale, seguendo la curva delle Alpi, va dalle sorgenti del Reno anteriore in sino al mare Adriatico; e chiamo zona ladino il territorio da questi idiomi occupato.“

Weiter sagt Ascoli nichts zu seiner Wahl von ladino als Generalbezeichnung für die alpine Romanität. Für das Gadertal, dessen Bewohner „si sogliono riputare i ladini per eccellenza“, glaubt er, dass diese „specie di usurpazione“ von den „dotti“ ausgehe (Ascoli 1873, 33).

Mit Ascolis Wortprägung ladino als übergeordneten Begriff für Bünderromanisch, Dolomitenladinisch und Friaulisch verlassen wir aber den Bereich der Volkssprachlichkeit und treten in die Sphäre der wissenschaftlichen Terminologie ein. Im Italienischen hat sich der Terminus bis heute gehalten, in den anderen Sprachen hat sich hingegen Theodor Gartners Neuprägung Rätoromanisch durchgesetzt. Er begründet diese Wahl folgendermaßen (1883, XXI):

„Die römische Provinz, deren Grenzen (abgesehen von den jetzt verdeutschten Theilen) mit denen unseres Sprachgebietes ziemlich gut übereinstimmen), die Provinz, welche ein schwaches, längst zerfallenes, aber eben das einzige weltgeschichtliche Band um die einzelnen Theile unseres Sprachgebietes geschlungen hat, diese Provinz hiess Raetia; daher ist offenbar Raetoromanisch das passendste und zugleich am leichtesten verständliche Wort für unseren Begriff, und es lässt sich, wenn es in einer Schrift öfters gebraucht wird, ohne Gefahr zu Raetisch abkürzen.“

Dann folgen Ausführungen über historische Belege von raetoladinisch, rätisch, rätoromanisch aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, wo aber meistens das Bündnerromanische in Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Gartners Darlegung endet mit folgender Bemerkung:

„Auch die Verlagsbuchhandlung, die zu der vorliegenden Grammatik das Schöpferwort gesprochen hat, hat sich für den Namen Raetoromanisch entschieden; möge sie damit in ganz Deutschland durchdringen.“

Für Gartner ergeben sich also drei Argumente für seine Neuprägung des wissenschaftlichen Terminus raetoromanisch: 1. der Rückgriff auf die antike römische Provinz Raetia, „deren Grenzen [...] mit denen unseres Sprachgebietes ziemlich gut übereinstimmen“ (was so nicht stimmt, denn Friaul und der größte Teil der Dolomitenzone hat nicht zu Rätien gehört); 2. das Vorhandensein der Bezeichnung rätisch in der sprachlichen Tradition vor allem Graubündens; 3. der Wunsch der Verlagsbuchhandlung Henniger in Heilbronn nach einem zugkräftigen Namen für das Sprachgebiet.

Theodor Gartner erlebte den Siegeszug seiner Wortprägung rätoromanisch, und am Ende seiner Universitätskarriere in Innsbruck schrieb er, zögernd eingehend auf einzelne Kritikpunkte (1910, 8):

„Besser eignet sich für unseren zweck der gelehrte ausdruck rätoromanisch. Die Schweizer meinten damit ursprünglich nur die mundarten Graubündens, dann aber bezog man ihn auch auf die verwandten mundarten Tirols und schiesslich auch auf das Friaulische, obwohl Friaul nicht zu Rätien gehört hat. Bei der ersten, engsten begriffsbestimmung dachte man an die Rätier, wie sich die Romanen des Grauen Bundes und des Gotteshausbundes nannten, als sie sich am ende des 15. jahrhunderts mit den Helvetiern der sieben kantone verbündeten; bei der ersten erweiterung des begriffes Rätoromanisch konnte man sich auf die römische provinz Rätien berufen, die ja im SO auch bis zur Sellagruppe reichte, und noch genauer trifft der Name zu, wenn man ihnauf die Räter bezieht, nach denen Rätien benannt wurde. Die Räter bewohnten nämlich auch das landsüdlich von dieser nachmaligen provinz, sie sollen Trient, Verona, Feltre und Belluno gegründet haben; wir finden sie vom St. Gotthart bis zum Piavegebiet überall da, wo jetzt unsere mundarten und die sich anschliessenden übergangs- und mischmundarten zu hause sind. Die einbeziehung des Friaulischen endlich ist nicht nur durch die sprachlichen merkmale gerechtfertigt, sondern auch von geschichtlicher seite gestützt; denn Friaul soll nach der entvölkerung durch die Hunnen und die Goten sich zur Longobardenzeit vorwiegend dadurch bevölkert haben, dass die von den Deutschen verdrängten Rätoromanen Tirols allmählich über die Piave hin ins land rückten. [...] Rätoromanisch ist nun selbstverständlich ebensowenig die sprache der alten Räter, als Französisch die der alten Franken oder der Gallier, sondern wie die Galiier und die Franken das nach Nordgallien verpflanzte Latein ihren anlagen und sprechgewohnheiten gemäss zu einer romanischen sprache ausgebildet haben, so haben auch die Räter und die sich ihnen anschliessenden nachbarn, Kelten, Germanen, vielleiht auch Veneter und Karner, das Latein der italischen nordgrenze und Rätiens in ihrer weise bearbeitet.“

Gegenüber den Ausführungen von 1883 ist hier der Bezug auf die Antike etwas abgeschwächt: Es ist klar gesagt, dass Friaul nicht zur römischen Provinz Rätien gehörte, sondern dass der Bezugspunkt das rätische Volk ist, dass auch außerhalb der Provinz lebte. Im Mittelalter nannten sich die Romanen des Grauen Bundes und des Gotteshausbundes Rätier, und bei den Neubesiedlungen in der Völkerwanderungszeit seien von Deutschen, also Germanen, verdrängte Romanen aus dem antiken Rätien nach Friaul gelangt. Mit anderen Worten: Gartner gibt zu, dass es keine Verbindung mit dem antiken Rätien gibt, sondern dass Friaul auf Grund schwacher mittelalterlicher Assoziationen dem rätischen Raum zugeordnet werden kann.

Die Rolle, die der gelehrte Ausdruck Raeticus als Synonym für die deutsche Bezeichnung churwälsch in der Schweizer Tradition für die Herausbildung des Terminus rätoromanisch spielte, hat Wilhelm Theodor Elwert (1906–1997) herausgestrichen (1979, 107):

„Già nella terminologia medievale si parlava della «Lega die Grigioni» come quella di «Alt Fry Rätien», della vecchia Rezia libera. L’idioma romanzo che vi si parlava diventava la parlata romanza di Alt Fry Rätien. E per giunta gli abitanti stessi la ciamavano romantsch, come nel Medio Evo si diceva romanz per i dialetti provenzali. Romantsch o rätisch non era dunque altro che un termine colto, più nobile del termine popolare usato dai tedescofoni che dicevano Churwallisch oppure Krautwelsch. Churwälsch, la parlata romanza di Coira, è pure il termine impiegato da Fr. Diez. Il termine Alt Fry Rätien è indubbiament di origine umanistica o preumanistica e risale al fatto che gli storici romani parlano di questa parte della Svizzera come abitata dai Reti. Il primo a porre l’equazione Rezia – lingua retica è stato l’umanista Conrad Gessner il quale nel suo Mithridates, una specie di grammatica/lessico comparativo, pubblicata a Zurigo nel 1555, parla della traduzione della Bibbia del Bifrun e dice che è stato un raetus, cioè il Bifrun, il primo a servirsi di questa lingua. In tutti gli autori passati in rivista da Alexi Decurtins, cominciando dal Padre Placi a Spescha di Disentis e passando per Conrad Dieffenbach e Humboldt, rätisch ossia rätisch-romanisch (non reto-romanisch) il termine continua a significare soltanto il ladino die Grigioni. I primi ad estenderlo anche alle valli dolomitiche, ma con l’escusione del friulano, furono lo Haller e lo Steub. I primi a includere nelle loro denominazioni anche il friulano furono l’Ascoli (ladino) e il Gartner (Rätoromanisch), perché essi furono i primi a vedere l’unità del ladino e a dimostrarla.“

Während also Gartner den von ihm selbst erdachten Terminus rätoromanisch in erster Linie mit den antiken Rätern verbunden hatte und so zumindest tacite eine Verbindung mit anderen Ausdrücken wie galloromanisch oder iberoromanisch herstellte, die eine zeitgenössische romanische Sprache mit ihren möglichen antiken Vorläufern verband, verfolgte W. Th. Elwert eine – schon in Gartners Handbuch verschämt angedeutete – Verbindung mit dem im Humanismus gängig gewordenen Ausdruck rätisch als respektabel-gelehrter Übersetzung des Sprachnamens churwälsch. Dass diese Bezeichnung, die ja ursprünglich nur auf das Bündnerromanische gemünzt war, auch auf das Dolomitenladinische und später auf das Friaulische angewandt wurde, ist dem Gang der Forschungsgeschichte im 19. Jahrhundert zu verdanken.

Die beiden Termini ladino und rätoromanisch als überwölbende Bezeichnung zur Benennung des Bündnerromanischen, des Dolomitenladinischen und des Friaulischen haben eine unterschiedliche Geschichte erlebt. Gartners rätoromanisch ist in diversen Adaptationen heute der internationale Terminus, obwohl man sich über die Implikationen nur wenig Gedanken macht, andererseits ist Ascolis ladino im Grunde nicht über die italienische Gelehrtenwelt hinausgekommen. In letzter Zeit scheint man auch in Italien den Sonderweg leid zu sein: Trotz aller Kritik am Terminus retoromanzo betitelt Giovan Battista Pellegrini sein 1991 erschienenes Buch über die Entstehung von romanischen Idiomen im Zentralalpenraum La genesi del retoromanzo (o ladino), und er benutzt beide Termini als Quasi-Synonyma.

Bekanntlich ist das Konzept der lingua ladina in senso largo oder des Rätoromanischen am Anfang des 20. Jahrhunderts in der nationalistischen Atmosphäre im Kontext des Ersten Weltkrieges und seiner Vorgeschichte ins Zentrum einer Diskussion geraten, die von Carlo Battisti (1910) und von Carlo Salvioni (1917) ausgelöst wurde. Diese sogenannte questione ladina teilte sich in anfänglich meist deutschsprachige Verfechter der unità ladina, die aus Ähnlichkeiten zwischen dem Bündnerromanischen, Dolomitenladinischen und Friaulischen eine anti-italienische Eigensprachlichkeit ableiten wollten, und in anfänglich meist italienischsprachige Verfechter der Theorie, dass es sich um nördliche Ausläufer von verschiedenen nord-italienischen Eigenheiten handele, die untereinander keine speziellen Gemeinsamkeiten aufweisen würden. Im 20. Jahrhundert kam die ursprüngliche italienisch-deutschsprachige Frontstellung ins Wanken, und abgesehen von der zunehmenden Zahl von Forscherinnen und Forschern, die die questione ladina für eine überholte Fragestellung halten, gibt es heute deutschsprachige Wissenschaftler, die an die alte „italienische“ These glauben, und italienischsprachige Wissenschaftler, die von der alten „deutschsprachigen“ These überzeugt sind. Den Gang der Forschung kann man in der überzeugenden, wenn auch persönlich gefärbten Darstellung von G. B. Pellegrini (1991) nachvollziehen. Heute hält man sich weitgehend an die pragmatische Lösung des Lessico Etimologico Italiano, der zufolge das Bünderromanische und das Friaulische als eigenständige romanische Entitäten behandelt werden, während das Dolomitenladinische als italoromanische Varietät (ladino atesino) behandelt wird.