Dolomitenladinisch - Sprachgeschichte und hochschuldidaktische Aspekte

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

1 Sprachgeschichte
1.1 Der Sprachname und die Sprachgeschichte des Ladinischen in der Antike und im Mittelalter
1.1.1 Die Eigenbezeichnung ladino

Bekanntlich bezeichneten die Römer ihre Sprache meistens nicht nach dem Namen ihrer Stadt, sondern nach der Landschaft Latium, die mit Rom eine sprachliche, kulturelle, juristische und schließlich auch sprachliche Einheit verband. Den antiken Beobachtern war diese Tatsache durchaus bewusst (vgl. Festus 105, 25: „Latine loqui a Latio dictum est“). Im ältesten Beleg für lingua Latina in der Grabschrift für den um 200 v. Chr. gestorbenen Dichter Naevius, die von Gellius (1, 24, 2) überliefert ist, heißt es dann klar, dass man nach dem Tode von Naevius in Rom vergessen müsse, dass man dort Latein spreche:

„Immortales mortales si foret fas flere,

florent divae Camenae Naevium poetam;

itaque postquam est Orcho traditus thesauro,

obliti sunt Romae loquier lingua Latina.“

Die ganze Antike hindurch und auch im nachantiken Latein war lingua Latīna oder sermō Latīnus der normale und unmarkierte Ausdruck für ‘lateinische Sprache’, entsprechend auch das Adverb Latīnē (Kramer 1998a; 2007).

Eine Art Konkurrenzbezeichnung war lingua Rōmāna (Erstbeleg 43 v. Chr. bei Ciceros Freigelassenem Laurea, von Plin. 31, 8 überliefert) oder sermō Rōmānus, beide seltener als lingua Latīna oder sermō Latīnus belegt. In erster Linie diente die Konkurrenzbezeichnung dazu, eine Variation zum üblichen Ausdruck zu bilden; daneben kann ein klarerer Bezug zur Stadt Rom oder zum römischen Reich mitschwingen, wenn man diese markierte Bezeichnung wählte, aber „auf keinen Fall lag ein über eine ganz leichte Duftnote hinausgehender Unterschied vor“ (Kramer 1998a, 77). Während jedoch das Adverb Latīnē völlig geläufig ist, taucht das parallele Adverb Rōmānē nur im frühesten Latein und in der nachklassischen Periode auf (Kramer 1998a, 79–81). Das Adjektiv Rōmānicus gibt es im Altlatein bei Cato bezüglich auf landwirtschaftliche Geräte und Produkte (135, 2–3; 146, 1) und dann erst wieder an der Wende vom 7. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr., und das Adverb Rōmānicē ist nicht vor dem 10. Jahrhundert n. Chr. belegt (Kramer 1998a, 82).

Als sich abzeichnete, dass die Alltagssprache sich immer mehr vom Latein der schriftlichen Quellen zu unterscheiden begann, hätte es ja durchaus die Möglichkeit gegeben, die sich herausbildende neue Sprache mit einem Terminus zu bezeichnen, der an Rom anknüpft – so machen wir es ja heute, indem wir zwischen lateinisch und romanisch unterscheiden. Die Menschen der Spätantike und des Frühmittelalters nutzten diese Chance jedoch nicht, und man muss dabei wirklich von „una ocasión perdida“ (Kramer 1967, 66) sprechen. Latīnus und Rōmānus sowie deren Ableitungen bezeichneten weiter sowohl das traditionelle Latein als auch die daraus abgeleitete Alltagssprache, und wenn im klassischen Latein unbelegte Ableitungen wie Rōmānicus und Rōmānicē sowie deren romanische Weiterentwicklungen (frz. romanz, romanç, provenzalisch romantz, romans, katalanisch romanç, spanisch romance, portugiesisch romance) als Sprachbezeichnungen auftraten, so war ihnen kein langes Leben beschieden, weil sich mit der Entstehung der Vorstufen der Nationen neue, auf das Territorium oder den frühen Staat bezügliche Namen (françois, català, português) durchsetzten. Lediglich dort, wo die Nationenbildung mehr oder weniger ausblieb oder der Gegensatz zu anderen vorherrschenden Sprachen wichtiger war als die Eigenbezeichnung, blieben die älteren Termini erhalten, in denen Rōmānus und Latīnus durchscheinen.

Der Terminus Rōmānus hat sich in volkssprachlicher Form nur in der Ostromania erhalten (Kramer 1998a, 130–139): rumänisch rumân (in schriftsprachlich beeinflusster Form român), aromunisch armânu, armănu, rumănu. Das Wort war und ist primär Substantiv und bezeichnet des ‘Angehörigen des eigenen Volkes’, also den ‘Rumänen’, es konnte aber auch, obwohl selten, als ein auf Personen bezügliches Adjektiv verwendet werden: un cioban român ‘ein rumänischer Hirte’. Erst im 19. Jahrhundert wurde ein Bezug auf Sachen möglich, und erst von da an wurde limba română ‘die rumänische Sprache’ möglich; bis dahin hatte man limba românească gesagt, das heute unüblich geworden ist. Das regelmäßige Adjektiv zu rumân/român ist nämlich rumânesc/românesc, was von *Rōmāniscus kommt, einer zufällig nicht belegten Nebenform von Rōmānicus mit dem einheimischen Zugehörigkeitssuffix, das in antiken Namensadjektiven wie Dāciscus ‘dakisch’ oder Thrāciscus ‘thrakisch’ belegt ist (Kramer 1998a, 143–146).

Nur im Bündnerromanischen lebt das Adverb Rōmānicē weiter, und zwar in der Form surselvisch romontsch, sutselvisch rumantsch, surmeirisch rumantsch, unterengadinisch rumantsch, oberengadinisch rumauntsch. In Graubünden erfolgte keine Nationenbildung wie beispielsweise in Frankreich, und es konnte sich auch keine überregionale Hochsprache herausbilden. Die romontsch/ruma(u)ntsch-Formen hielten sich wohl vor allem deswegen, weil sie einen griffigen Gegenpol zu tudestg/tudais-ch ‘deutsch’ darstellen. Zu den Einzelheiten vgl. die Ausführungen zu engadinisch ladin.

Hier soll es nun um das Weiterleben der eigentlichen Normalbezeichnung der eigenen Sprache, also von Latīnus, in der Romania gehen. Man konnte die Sprachbezeichnung auch als Eigenbezeichnung verwenden: Bei Horaz (carm. 2, 1, 29) und bei Silius Italicus (6, 603–604) ist Latīnus sanguis ‘das Blut der Römer’. Nachantik übertrug man diese Bezeichnung auf die Romanen, solange man sich des Bedeutungsunterschieds noch nicht bewusst war, und so muss man bei Gregor von Tours (8, 1) die auf dem Martinsfest von Orléans zu hörende lingua Latinorum mit ‘Sprache der Romanen’ übersetzen. Und selbst Dante, für den es natürlich klar war, dass Latein und Italienisch zwar verschiedene Sprachen waren und dass die Gleichung Römer=Lateiner=Italiener für seine Zeit nicht mehr wirklich aufging, benutzte latini in seinen lateinischen wie italienischen Schriften für die Italiener (Enciclopedia dantesca 3, 591-599). Auch das Adjektiv latino bedeutet ‘italienisch’: quella dolce terra latina heißt ‘die schöne Gegend Italiens’ (Inf. 27, 26, Übersetzung von Hartmut Köhler).

Freilich, auf die romanischen Sprachen bezog man Latīnus oder italienisch latino (seit 1198), französisch latin (seit 1119), provenzalisch latin (seit dem späten 11. Jahrhundert), katalanisch llatí (seit dem 13. Jahrhundert) normalerweise nicht, einfach, weil die damit beschworene Unklarheit zu groß gewesen wäre. Wenn man das Wort auf die romanische Volkssprache beziehen wollte, traten erklärende Adjektive hinzu: lingua Latīna rūstica, lingua Latīnus vulgāris, corruptus sermō Latīnus; und dann konnte Latīnus auch weggelassen werden: nostra vulgāris lingua. Der normale Ausdruck für die Alltagssprache in Italien war volgare, ursprünglich eine Qualitätsbezeichnung ‘die Sprache des Volkes’, im Gegensatz zum nach den Regeln der grammatica festgelegten latino. Für Dante ist das Latein eine ewig gültige und nicht veränderliche Sprache, das Volgare hingegen ist instabil und veränderlich: „Lo latino è perpetuo e non corruttibile, e lo volgare è non stabile e corrutibile“ (Convivio 1, 5, 7). Seiner Meinung nach hat der erste, der sich als Dichter in der Volkssprache auszudrücken begann, dies getan, weil er seine Worte einer Dame, für die es schwer gewesen wäre, lateinische Verse zu verstehen, näherbringen wollte (Vita Nuova 25, 6):

„Lo primo che cominciò a dire sì come poeta volgare, si mosse però che volle fare intendere le sue parole a donna, alla quale era malagevole d’intendere li versi latini.“

Nicht nur die Verwechslungsmöglichkeit mit ‘Latein im engeren Sinne’, sondern auch ein anderer starker Bedeutungsstrang hinderte latino daran, sich für die Volkssprache zu verfestigen: Latein ist eine schwierig zu erlernende fremde Sprache, und also nahmen die Nachfolgeformen von Latīnus die Bedeutung ‘unverständliche fremde Sprache’ an. Im Provenzalischen kann sich en leur latin auf das Arabische, das Griechische oder das Persische beziehen, und katalanisch bedeutet „els Serrayns [...] cridaren [...] en llur llatí‘die Sarazenen schrieen in ihrer Sprache’. Ausgehend von dieser Bedeutung kann latín auch vom Gesang der Vögel gesagt werden: Wilhelm von Aquitanien (1071–1127) sagt am Anfang seines 10. Gedichtes, dass die Vögel jeder in seinem Latein singen („li aucel / chanton, chascus en lor latí“). Chrétien de Troyes (±1140–1190) sagt, dass die Vögel ihrer Freude in ihrem Latein Ausdruck geben (Cligès 6264–6265: „cil oisel [...] font lor joie an lor latin“). Der Italiener Guido Cavalcanti (1255–1300) sagt, jeder der Vögel möge in seinem Latein von der fresca rosa novella (20–21) singen: „e càntine gli augelli / ciascuno in suo latino“.

Bis hierher war aber nur die Rede von sogenannten gelehrten oder buchsprachlichen Formen, in denen Latīnus in der Romania auftritt. Dabei ist der Rückbezug auf die Grundbedeutung ‘Latein’ so naheliegend, dass sich wirklich sekundäre Bedeutungen kaum herausbilden konnten. Unser eigentliches Augenmerk muss aber den erbwörtlichen Formen gelten, also den Formen, die in der Westromania, also in allen Sprachen außer im Rumänischen und außer im Mittel- und Süditalienischen (einschließlich der italienischen Schriftsprache) eine Sonorisierung der intervokalischen Verschlusslaute durchlaufen haben. Hans Rheinfelder hat für lateinisches –p–, –t–, –k– folgende drei Stufen herausgearbeitet (1968, 258 = § 686):

 

Erste Stufe: Der stimmlose lateinische Verschlusslaut wird zum stimmhaften romanischen Verschlusslaut. Es tritt also Sonorisierung ein: –p– > –b–, –t– > –d–, –k– > –g–.

Zweite Stufe: Der stimmhafte Verschlusslaut wird zum stimmhaften Reibelaut: –b– > –β–, –d– > –δ–, –g– > –γ–.

Dritte Stufe: Der stimmhafte Reibelaut, der aus dem stimmhaften Verschlusslaut entstanden ist, verstummt ganz: ø.

Die drei Möglichkeiten, die Latīnus in den westromanischen Sprachen annehmen konnte, also laín (Nullstufe), laδino (stimmhafter Reibelaut) und ladin (stimmhafter Verschlusslaut), liegen in der Tat vor. Die ostromanischen Sprachen können außerhalb der Betrachtung bleiben, weil rumänisch latin eine gelehrte Neubildung des 18. Jahrhunderts ist und weil italienisch latino schon deswegen ein Buchwort ist, weil die Position der gelehrten Sprachbenutzer und der Kirche immer so stark war, dass eine Ablösung von der Grundbedeutung ausgeschlossen werden kann.

Im Altlombardischen des 14. Jahrhunderts taucht ein lain auf (Kramer 1997). Eine anonyme lombardische Paraphrase der lateinischen Fassung des Johannes-Chrysostomos-Traktats Quod nemo laeditur nisi a se ipso (PG 52, 459–480; lateinischer Text Malingrey 1965) wurde von Wendelin Foerster ediert (1880). Es wird dort eine Daniel-Stelle (1, 3–4) herangezogen, wo es darum geht, dass den gefangenen Söhnen Israels die Sprache der „Chaldäer“ beigebracht werden soll, obwohl die Sprachen der Juden und der „Chaldäer“ gegenseitig unverständlich sind. Der altlombardische Kommentator sagt dazu folgendes (Foerster 1880, 38):

„Sì che de questi pueri comandò quel segnor ch’el se n’avesse singular cura e dè ghe maestro chi ghe mostrasse le lor letre e lor lenguagio chi era molto strannio da quel d’i Çuem sì che l’un no po intende l’altro ne per letra e per vuolgar peço, e chusìmal intende lo Çue lo Calde e quel de Caldea quel de Iudea, chomo un Lain lo Greo e quel de Grecia quel de Lonbardia.“

Die Stelle aus dem Alten Testament wird also mit einem zeitgenössischen Beispiel verdeutlicht: Ein Jude versteht nach dem Text jemanden aus Chaldäa genauo schlecht wie jemand aus Chaldäa einen Juden, genauso wie ein Laïn einen Griechen und jemand aus Griechenland einen aus der Lombardei nicht versteht. Hier wird also Laïn als Substantiv verwendet, genauso wie Çue ‘Jude’ und Calde ‘Chaldäer’, und Laïn wird mit quel de Lonbardia umschrieben.

Die etymologische Herleitung von Laïn aus Latīnus ist über jeden Zweifel erhaben, aber die Interpretation, dass es lediglich ‘lombardisch’ heiße und somit eine direkte Parallele zum alpinen ladin als Selbstbezeichnung der eigenen Sprache darstelle (Belardi 1991, 15-21), ist ebenso wenig richtig wie die simple Interpretation als ‘italiano’ (Salvioni 1890-1892). Man muss vielmehr davon ausgehen, dass der Gegensatz zum Griechischen im Vordergrund steht. Es liegt eine generalisierende Wortverwendung vor, die die Sprache der von den Römern abstammenden Katholiken des westlichen Mittelmeers, eben das Laïn, der Sprache der Griechen des östlichen Mittelmeers, dem Greo, entgegenstellt. Natürlich meint Laïn hier konkret das ‘Lombardische’, aber es umfasst theoretisch auch andere Varietäten der Volkssprache, so wie es für die Griechen normal war, die Bezeichnung Λατῖνοι synonym zu Φράγκοι oder zu Ῥωμαικαθολικοί zu verwenden. Die korrekte Übersetzung von Laïn wäre als ‘Sprecher der Sprache des Westens’ oder ein wenig anachronistisch ‘Romane’: mal intende un Laïn lo Greo hieße also ‘ein Romane versteht einen Griechen schlecht’.

Kommen wir zur zweiten lautlichen Ausprägung des Sprachnamens Latīnus in den romanischen Sprachen, zur spanischen Form laδino mit dem stimmhaften interdentalen Reibelaut. Man muss annehmen, dass eine begriffliche Auseinanderentwicklung zwischen ‘lateinisch’ und ‘spanisch’ erst nach dem Konzil von Burgos 1080 einsetzte (Wright 1989, 121). Zunächst konnte man offenbar ohne den geringsten Bedeutungsunterschied die gelehrte Form latino und die volkssprachliche Form ladino (gesprochen laδino) einsetzen, und man verwendete diese Formen besonders dann, wenn es um ein Aufeinandertreffen von Christen und Mohammedanern ging. Als erstes Datum für das Auftreten beider Formen ist das 13. Jahrhundert anzusetzen, aber die Wendung un moro latinado ‘un moro que conocía la lengua romance, que hablaba castellano’ ist schon im ältesten literarischen Text des Spanischen, im auf des Jahr 1200 zu datierenden Cid (Vers 2667), belegt.

Um eindeutig ‘Latein’ in Absetzung von ‘romanisch’ oder ‘spanisch’ sagen zu könne, wurde um 1100 aus dem Französischen das Substantiv latín entlehnt. Alonso Tostado (1400–1455) schreibt in seinem Werk Sobre Eusebio (1, 24), dass el latín sea lenguaje artificial e el vulgar sea más natural e menos limado. Dieses semantisch eindeutige Wort wird freilich nur als Substantiv verwendet (beliebt ist en latín); das dazugehörige Adjektiv blieb latino, was aus der folgenden Tostado-Stelle (1, 24) deutlich wird: No porque sea más apuesto el lenguaje griego que el latino, ca por esta razón como más apuesto sea el latín que el hebraico.

Die Bedeutungsunschärfe bei latino und ladino führte sogar dazu, dass latín, das ja eigens zur Erzielung einer größeren Eindeutigkeit aus dem Französischen entlehnt worden war, gelegentlich, wenn auch selten, mit der Bedeutung ‘spanisch’ vorkommt: Alfons der Weise benennt honestad als latín (Partida 1, 5, cap. 25), und Spanisch ist für ihn el nuestro latín (General Estoria 5, cap. 14).

Verwendet wurden latino und ladino in der Bedeutung ‘spanisch’ vor allem, wenn es galt, sich vom anderssprachigen Umfeld, in erster Linie vom arabischen oder vom griechischen, abzusetzen. In der General Estoria 30, cap. 9, liest man:

„Fue esto enel primero mes del segundo anno que el pueblo de Israel salio de Egipto, enel primero dia desse mes, a que llaman los griegos xantico e los ebreos nisan; e es este el mes aque nos los latinos dezimos mayo.

Vom 16. Jahrhundert an hat sich der heutige Sprachgebrauch etabliert: Es gibt nur substantivisches el latín ‘das Lateinische’ und adjektivisches latino ‘lateinisch’, während für ‘spanisch’ zunächst einmal castellano den Sieg davongetragen hat. Jedenfalls ist ladino aus dem Repertoire der eigentlichen Sprachbezeichnungen verschwunden, auch weil die Mohammedaner als Gegner nicht mehr Teil des Alltags waren, und somit war ladino frei geworden für sekundäre Bedeutungen wie ‘klug, gewitzt’, die übrigens auch im Italienischen (z. B. piemontesisch lain, bellunesisch ladin, altit. latino und ladino, vgl. REW 4927) vorliegen. Am nächsten an der alten sprachlichen Bedeutung steht der Ausdruck esclavo ladino ‘altgedienter Sklave’, also ein Sklave, der schon einigermaßen spanisch konnte.

Am Übergang vom Alt- zum Neuspanischen am Ende des 15. und am Anfang des 16. Jahrhunderts war folglich der letzte Augenblick erreicht, wo ladino noch als Sprachbezeichnung fungieren konnte. Das war aber genau der Augenblick, wo das Spanische durch zwei verschiedene Auswanderungsprozesse in andere Teile der Welt getragen wurde, einmal in die europäischen Exilländer, in die die 1492 aus Spanien vertriebenen Juden ihre Sprache mitnahmen, und zum anderen ins Kolonialreich, das durch die Entdeckung der Neuen Welt durch Kolumbus nach 1492 in Amerika entstand.

Die Juden wurden in einem Edikt vom 31. März 1492, das im soeben den Mauren entrissenen Granada erlassen wurde, vor die Wahl gestellt, innerhalb von drei Monaten Spanien zu verlassen oder sich taufen zu lassen (Kowallik & Kramer 1993, 17). Genaue Zahlen gibt es nicht, aber mindestens 120.000 Juden gingen ins Exil, möglicherweise 60.000 ließen sich taufen. Georg Bossong fasst die Situation zusammen (2008, 57–58).

„Die Vertriebenen wurden in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Die Mehrzahl ging über Land nach Westen, in das benachbarte Portugal. Von dort aus gelangten sie später nach Frankreich sowie nach Amsterdam, London und Hamburg. Viele fanden Zuflucht im Süden, in den Sultanaten des nordafrikanischen Maghreb, in Städten wie Fes, Tetuan, Oran und Tunis. Einige reisten nach Italien, wo sie im Kirchenstaat und in den oberitalienischen Fürstentümern aufgenommen wurden; von Bedeutung wurde die sephardische Zuwanderung in den Hafenstädten Livorno, Ancona und Venedig wowie in Ferrara und Mantua. Zahlreich waren die Sepharden, die sich im osmanischen Osten niederließen, in Istanbul und Saloniki, im kleinasiatischen Izmir sowie in Damaskus, Kairo, Jerusalem und in dem kleinen Städtchen Safed (hebr. Tsephat, an der Nordgrenze des heutigen Israel).“

Im Judenspanischen hat laδino seit dem 16. Jahrhundert die Bedeutung ‘feierliche Sprache der heiligen Texte’, und das ist einer Weiterentwicklung des Spanischen des 15. Jahrhunderts zu verdanken, bei der ladino die eigene Sprache mit positivem Nebensinn bezeichnete, also ‘richtiges und gutes Spanisch’. Man muss hier vor allem darauf hinweisen, was laδino nicht bedeutet: Es ist keine Bezeichnung für die spanische Umgangssprache der Juden, das Judéo-Espagnol vernaculaire, das Djudezmo oder das Sephardische. Mit ladino benennt man einzig und allein die Sprache der Bibel und der Gebete, die das Hebräische ganz wörtlich übersetzt, jedes hebräische Wort immer mit demselben spanischen Wort wiedergibt und Eigenheiten der hebräischen Syntax exakt nachahmt. Diese Sprachform, die man ohne Hebräischkenntnisse kaum verstehen kann, ist gebunden an schriftlich festgelegte, meist, aber nicht immer mit hebräischen Buchstaben geschriebene Texte, die natürlich rezitiert werden, aber nicht die Wiedergabe einer gesprochenen Sprache sind. Die Verwendung des Wortes ladino zur Bezeichnung des Judenspanischen ganz allgemein, die man besonders in der englischsprachigen Literatur findet, stimmt nicht mit den sprachlichen Befunden überein (Kramer & Kowallik 1993, 40) und wird heute von den meisten Sprechern des Judenspanischen abgelehnt. Der Oberbegriff Judenspanisch beinhaltet sämtliche Verwendungsformen des Spanischen durch die nach 1492 aus Spanien vertriebenen Juden, natürlich auch die zwei Extremformen Djudezmo als Alltagssprache und Ladino als Sprache der heiligen Texte. Das Ladino ist heute eine mehr oder weniger tote Sprache, denn seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erscheinen keine neuen Texte mehr, obwohl die alten Texte immer wieder abgedruckt und zum Teil auch in lateinische Transkription gebracht werden.

Kommen wir nun zur Verbreitung von ladino (Aussprache laδino) in Mittel- und Südamerika! Das Diccionario de americanismos, das 2010 von der Asociación de Academias de la lengua española herausgegeben wurde und sozusagen „offiziösen“ Charakter hat, bietet für ladino, -a (S. 1259) drei Einträge, die sich auf Menschen beziehen, und zwei weitere übertragene Anwendungen.

„I 1. m. México, Guatemala, Honduras, El Salvador, Nicaragua, Paraguay. Mestizo que habla español.

2. adj./sust. Guatemala, Honduras, El Salvador, Nicaragua, Paraguay. Referido a persona, mestiza.

3. adj. Guatemala, Honduras, El Salvador, Nicaragua. Relativo al mestizo.

II. 1. adj. México. Referido a animal vacuno, bravo o salvaje.

III. 1. adj. México. Referido a un sonido, que es muy agudo. pop.“

Diese Angaben geben relativ genaue geographische Zuweisungen, die freilich auf den Einschätzungen der jeweiligen nationalen Akademien beruhen: Das Wort ist demnach in Mexiko und in den südlich anschließenden Staaten Guatemala, Honduras, El Salvador und Nicaragua zu Hause, es ist also, anders gesagt, ein kontinentales mittelamerikanisches Wort; Paraguay als mehr oder weniger bilinguales Land mit einem hohen Anteil von Sprechern indigener Sprachen tritt hinzu.

Etwas großzügiger in der geographischen Zuweisung ist Maria Schwauß (1977, 403), die sich nicht auf Akademieangaben, sondern größtenteils auf eigene Sprachaufnahmen verlässt:

 

„1. m. América Central, América del Sur Bewohner des spanisch-amerikanischen Sprachbereiches

América Central, Argentina, Colombia, Ecuador, Perú spanischsprechender Indio

América Central, México regional europäisch-indianischer Mischling

Cuba zivilisierter, gut Spanisch sprechender Neger

Argentina regional, Colombia Schwätzer

2. adj. in allen vorgenannten Bedeutungen (schwer übersetzbar)

Argentina regional, Colombia schwatzhaft

Die Bedeutungsangaben von Maria Schwauß und ihre geographischen Zuordnungen ermöglichen eine etwas genauere Nachzeichnung der Geschichte von ladino in Mittel- und Südamerika. Die allgemeine und überall verbreitete Bedeutung meint ganz unspezifisch den Sprecher des Spanischen, ob Erstsprache oder ob Zweitsprache, der in Amerika oder Europa geboren ist, aber in Amerika zu Hause ist. Daraus erklärt sich zwanglos die speziellere Bedeutung ‘Indio, der gut spanisch spricht’; auf Kuba, wo die einheimische Bevölkerung schnell ausstarb und durch afrikanische Sklaven ersetzt wurde, wird ladino auf die an europäische Lebensformen angepassten schwarzen Haussklaven übertragen, die natürlich gut spanisch sprechen mussten. In Quellen des 16. Jahrhunderts ist dann auch indio ladino oder negro ladino häufig, manchmal mit dem Zusatz muy ladino en lengua castellana oder muy ladino en el romance castellano (Boyd-Bowman 1971, 515). Die an europäische Verhaltensweisen angepassten Haussklaven wurden oft freigelassen, und besonders die Frauen gingen oft eine Ehe mit Spaniern ein; wenn man an die nächste Generation denkt, erklärt sich die Bedeutung ‘Mestize’ so sehr leicht. Sekundärbedeutungen wie ‘schwatzhaft’ liegen auf der Hand. Eine Erklärung für die übertragene Bedeutung ‘schrill’ liefert Manuel Alvar (1986, 31: „Los mestizos tendrían voz menos gruesa y ladino ‘tono agudo’ se opuso a ‘tono grave’“).

Die Grundzüge der Entwicklung von ladino in Amerika stellen sich also folgendermaßen dar: Das Wort ist zunächst mit der Bedeutung ‘gutes Spanisch’ in die Neue Welt gedrungen, wobei der Gegensatz zu einer andersartigen Sprache, in Spanien das Arabische, in Amerika die indigenen Idiome, mitgedacht wurde. Das semantische Feld ‘spanischsprechend’ wurde dann eingeengt auf ‘Fremder, der gut spanisch spricht’, also konkret ‘indigener Sprecher, der spanisch spricht’ oder ‘afrikanischer Sklave, der spanisch spricht’. Im heutigen amerikanischen Kontext steht die Bedeutung ‘mestizo que solo habla español’ bei weitem im Vordergrund.

Mit dem stimmhaften dentalen Verschlussslaut d tritt die auf Latīnus zurückgehende Bezeichnung für die eigene Sprache im zentralen Alpenraum auf, konkret im Engadin mit endbetontem ladin und in den Dolomiten mit ladin (ausgesprochen ladíŋ). Die engadinischen Entwicklungen sind geradlinig verlaufen und vergleichsweise leicht darzustellen, aber die Geschichte des dolomitenladinischen Wortes ladin, das heute in allen einheimischen Mundarten und darüber hinaus zur Bezeichnung der eigenen Sprachform verwendet wird, ist für das 19. Jahrhundert einigermaßen verwickelt; am Ende des 19. Jahrhunderts wurde ladino und ladinisch zu einem sprachwissenschaftlichen Begriff, der keine Rückschlüsse auf die ursprünglichen Verhältnisse mehr erlaubt.

Beginnen wir mit dem Engadinischen. Dort gibt es ein hierarchisches System der Bezeichnung der eigenen Sprache und der verwandten bündnerromanischen Idiome, das schematisch folgendermaßen aussieht:

ruma(u)ntsch

tschilover surmiran ladin

sursilvan sutsilvan vallader putér

Die deutschen Entsprechungen sind: untereng. rumantsch, obereng. rumauntsch ‘bündnerromanisch’, tschilover ‘oberländisch’, surmiran ‘surmeirisch, oberhalbsteinisch’, ladin ‘engadinisch’, sursilvan ‘surselvisch’, sutsilvan ‘sutselvisch’, vallader ‘unterengadinisch’, putér ‘oberengadinisch’. Mit dem Schema werden die unterschiedlichen Benennungen klar: Für jemanden aus dem oberengadinischen Sankt Moritz/San Murezzan ist seine Heimatsprache kleinräumig gedacht putér, großräumiger ladin und typologisch rumauntsch. Für ihn ist die Sprache des benachbarten unterengadinischen Schuls/Scuol immer noch rumauntsch und ladin, aber nicht mehr putér, sondern vallader. Für Disentis/Mustér in der Surselva würde rumantsch, in der surselvischen Lautung romontsch, weiter gelten, aber es ist eine tschilover-Mundart, die genauer mit sursilvan zu bezeichnen ist. Die Mundart von Domleschg/Tumleastga ist als rumantsch und als tschilover zu bezeichnen, aber sie ist sutsilvan und nicht sursilvan. Bei so genauer Sprachendifferenzierung kam es nie zu einer Konfrontation zwischen ladin und latin: ladin ist vom Beginn der Überlieferung an das Engadinische, latin ist das Lateinische, und beide Ausdrücke werden nie verwechselt.

Wenn die Engadiner ihre Sprache nicht mit den präzisen Ausdrücken vallader und putér (oder noch genauer mit dem Namen des Heimatortes) benennen, sagen sie normalerweise eher ruma(u)ntsch als ladin, denn „ladin wird als eine neuzeitliche, schriftsprachlich-gelehrte Bezeichnung empfunden“ (DRG 10, 275). Schon am Anfang der schriftlichen Tradition schwankte die Benennung: Jachiam Bifrun, der Übersetzer des Neuen Testaments ins Oberengadinische, sprach nur von Aromaunsth, nos plêd, nos launguaick, nossa leaungia, aber Gallizius, der Verfasser des Vorwortes hat problemlos das Wort ladin verwandt, das auch beim Unterengadiner Durich Chiampel ganz geläufig ist (DRG 10, 275). Es ist wohl so, dass ladin einen vornehmeren Anstrich hatte als ruma(u)ntsch, aber es war durchaus in den frühen engadinischen Schriften noch ein lebendiges Wort, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass es auch danach nur noch ein lexikalisches Fossil gewesen sei. Man hat auch beide Wörter nebeneinander gesetzt: Der Anfang eines Liedes von Gudench Barblan (1860–1916), das jeder Bündner kennt, lautet Chara lingua della mamma, | tü sonor rumantsch ladin.

Das zweite Gebiet im zentralen Alpenraum, in dem eine Nachfolgeform von Latīnus als Bezeichnung der eigenen Sprache lebendig geblieben ist, sind die Dolomiten. Heute ist ladin, das überall ladíŋ ausgesprochen wird, die Bezeichnung für das einheimische Idiom in den vier vom Sella-Massiv ausgehenden Tälern.

Gadertal = Valle della Gàdera (Provinz Bozen) mit den Gemeinden:

Badìa (3.396 Einwohner),

St. Martin in Thurn = San Martino in Badia (1.716 Einwohner),

Wengen = La Valle (1.303 Einwohner),

Corvara (1.344 Einwohner).

Das in nordöstlicher Richtung verlaufende Seitental heißt

Enneberg = Marebbe (2.939 Einwohner).

Gröden = Val Gardena (Provinz Bozen) mit den Gemeinden:

St. Ulrich = Ortisei (4.672 Einwohner),

St. Christina = Santa Cristina (1.885 Einwohner),

Wolkenstein = Selva (2.657 Einwohner).

Fassa = Fassa (Provinz Trient) mit den Gemeinden:

Canazei (1.921 Einwohner),

Pozza (2.174 Einwohner),

Vigo (1.232 Einwohner),

Campitello (734 Einwohner),

Soraga (739 Einwohner),

Mazzin (517 Einwohner).

Moena = Moena (Provinz Trient) (2.689 Einwohner).

Buchen- Livinallongo (Provinz Belluno) mit den Gemeinden:

stein = Buchenstein/Fodom (1.364 Einwohner),

Colle Santa Lucia (388 Einwohner).

Auch für den Dialekt von Cortina d’Ampezzo, das sprachtypologisch nicht zum Dolomitenladinischen = ladino atesino, sondern zum Cadorinischen = ladino cadorino gehört (Pfister & Schweickard 2012, 16), wird der Terminus angewendet, zunehmend auch für das ganze Cadorinische sowie für die Mundarten des Agordino und des Comèlico. Die Propagierung des Sprachnamens ladin, deutsch ladinisch, italienisch ladino auf einen so ausgedehnten Raum ist freilich ein Resultat vor allem politischer und kultureller Bestrebungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts und des 20. Jahrhunderts, als das untergehende Habsburgerreich die Eigensprachlichkeit der alpinen Romanen gegen die Italiener auszuspielen begann; nach 1918 wurde von italienischer Seite die italianità dieser Gruppe forciert, während gleichzeitig österreichische und deutsche Beobachter die unitalienische Eigensprachlichkeit betonten. Nachdem sich 1945 bis 1948 alle Bemühungen um eine Abtrennung von Italien zerschlagen hatten, kam es im Zuge der nach 1968 einsetzenden Besinnung auf den Wert regionaler Sprach- und Kulturformen und auf die Vorzüge des Regionalismus zu einer positiven Wertung eigenständiger Sprach- und Kulturformen. Das italienische Staatsgesetz 482 vom 15. Dezember 1999 über den Schutz der sprachlichen Minderheiten hob in Artikel 2 den Schutz und die – auch materielle – Förderung des Ladinischen in den Verfassungsrang, und da das schutzwürdige Territorium nicht geographisch umschrieben wird, ist es klar, dass immer mehr Gemeinden vor allem der Provinz Belluno auf die Benennung ladino Anspruch erheben. Lokale politische und kulturelle Instanzen erhoffen sich – meist mit Recht – von der Berufung auf die Minderheitensituation ein größeres Gehör gegenüber zentralen Ansprüchen. Vor diesem Hintergrund ist ladino bzw. ladinisch zu einem Terminus der Politik geworden, in den natürlich die Medien (Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk, Fernsehen, elektronische Kommunikationsmittel) einbezogen sind, und so ist es unmöglich geworden, durch Sprachaufnahmen oder freie Befragungen festzustellen, wo ladin ein einheimisches Erbwort, wo es hingegen eine von außen importierte Bezeichnung ist. Um die Frage zu lösen, wo ladin ein traditionelles Erbwort ist, muss man vielmehr auf explizite Äußerungen aus der Zeit vor der Propagierung des Wortes zurückgehen, also auf Zeugnisse, die den Zustand vor dem Jahre 1900 wiedergeben.