Die Kunst des richtigen Maßes

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Die Leiter der Sphäre

Diese zeitgeschichtlich so faszinierenden Vorgänge um die Freimaurer könnten fast davon ablenken, was der Kern der Freimaurerei ist und wie er jedem von uns, in dem der »Boden« dafür bereitet ist, dabei helfen kann, zu werden, was er sein kann. Wie lässt sich die ebenso uralte wie mystische Botschaft der spirituellen freimaurerischen Tradition mit unserer modernen Sprache noch in Worte fassen?

Einen bemerkenswerten Versuch dazu wagte der bereits genannte Philologe und Autor Lobkowicz, der vor allem mit seinen Erzählungen, die häufig freimaurerische Themen behandelten, bekannt wurde. In seinem Werk Die Legende der Freimaurer25 schreibt er unter der Überschrift »Das große Geheimnis« Folgendes:

Der Freimaurer, der um das große Geheimnis weiß, besitzt den Hang nach Verbindung mit dem Göttlichen und Unsterblichen, jenes höhere Streben, auch wenn es mit Unterliegen endet, die eigenen Hindernisse und die Knechtschaft der Sinne und Leidenschaften zu überwinden. Die Seele, wenn sie sich befreit hat aus den sie verunstaltenden und entstellenden Auswüchsen, will er wieder ihrer wahren Natur und Gestalt zuführen und schrittweise die mystische Leiter der Sphäre ersteigen lassen, hin zu ihrem Ursprungsort.

Das richtige Maß ist in diesem Sinne der entscheidende Dreh auf dem Weg nach oben zu Gott. Es ist in der Freimaurerei keine Empfehlung. Es zu finden und zu wahren ist eine zwingende Voraussetzung für das Ersteigen jener sphärischen Leiter.

Von Platon bis Thomas von Aquin

Wenn wir uns mit den antiken Philosophen befassen, bemerken wir rasch, wie sehr das Konzept des richtigen Maßes ihr Denken durchdrang. Umso mehr wundern wir uns, wie wir dennoch in einer Welt der Maßlosigkeit landen konnten, umso mehr besorgt uns das und umso besser verstehen wir, wie wir wieder zum richtigen Maß zurückkehren können.

Die Antike hatte ihr eigenes Vokabular für das richtige Maß. Von Platon etwa stammen diese auch von den Freimaurern gerne zitierten Sätze, die sich auf den Zustand der Seele beziehen, ehe sie durch das Anlegen des richtigen Maßes eine Katharsis, also eine Reinigung erfährt:

Wir sehen die Seele, wie man die Statue des Glaukos(Meeresgott in der griechischen Mythologie) sieht, aus dem Meer erstanden, wo sie lange Zeit gelegen hatte, bei deren Anblick es nicht leicht, wenn überhaupt möglich ist, ihre ursprüngliche Natur zu erkennen, da die Glieder teilweise abgebrochen waren und fehlten oder durch die Bewegungen der Wogen, durch Muscheln, Seetang und Sand in ihrem Aussehen verändert waren, sodass sie mehr einem seltsamen Ungeheuer glich, als dem, was sie war, als sie ihrer göttlichen Quelle entsprang. Ebenso sehen wir die Seele. Missgebildet durch unzählige Dinge, die ihr Schaden zugefügt, sie verstümmelt und entstellt haben.

Wie diese Seele nun aber zurückführen zu ihrer ursprünglichen Schönheit? Von einer mystischen Leiter der Sphäre ist in der Antike nicht die Rede. Sehr wohl hatte sie aber ein Wort, das auch der freimaurerischen Idee vom richtigen Maß entspricht. »Sophrosyne« lautet es und es benennt die antike Tugend der Selbstbeherrschung und der Mäßigung, die Beherrschung der Begierden durch Vernunft und Besonnenheit.

Darüber zerbrachen sich unter anderen der athenische Staatsmann und Lyriker Solon (640 bis 560 v. Chr.) und Thales von Milet (ca. 624 bis ca. 547 v. Chr.), ein Naturphilosoph, Geometer und Astronom des archaischen Griechenlands, ihre Köpfe. Wir Menschen müssen unsere eigenen Grenzen kennen, lautete einer ihrer Schlüsse. Wer seine Grenzen übertritt, verlässt den Pfad der Rechtmäßigkeit, und dann wird alles irre. Wer das richtige Maß nicht kennt, wird zum Faun.

Maßlosigkeit hatte für die alten Griechen etwas mit Anmaßung zu tun, mit Frechheit und mutwilliger Gewalt, mit Selbstüberschätzung, Lüsternheit und Gier, und sie hatten dafür das Wort »Hybris«. In den Plots der antiken griechischen Tragödien war diese Hybris vielfach der Grund für das Scheitern der Helden, die überheblich genug waren, um sogar göttliche Befehle und Gesetze zu ignorieren. Ihr Schicksal besiegelte dann oft Nemesis, die Göttin des gerechten Zorns und der ausgleichenden Gerechtigkeit, die für das Volk auch einfach »die Rachegöttin« war. Sie brachte den Maßlosen in oft dramatischer Weise Untergang und Tod.

Auch Homer schrieb in seinen Versen über frevelhaften Übermut, der keine Grenzen kennt, über eine nie zufriedene Habsucht, Eifersucht, Ehrsucht und Maßlosigkeit. Doch der Dichter, der als der früheste des Abendlandes gilt und dem die beiden großen Werke Ilias und Odyssee zugeschrieben werden, glaubte, dass die Hybris mehr ist als eine Verlockung für Übermütige, die in Sachen Seelenbildung auf die schiefe Bahn geraten sind. Er beschrieb sie als ständige, ja allgegenwärtige Gefahr für jeden Menschen, weil jeder Mensch immer der Versuchung unterliege, das richtige Maß zu überschreiten und damit »hybrid« zu werden.

Interessant, dass die antiken Denker und Dichter die Hybris, die letztlich in den Versuch, gottgleich zu sein, mündet, ausgerechnet im 6. Jahrhundert vor Christus verdichtet zu thematisieren anfingen. Denn zur gleichen Zeit saßen im Orient die Verfasser des Alten Testamentes an Lagerfeuern und erzählten Geschichten genau darüber. Schon immer scheinen manche Ideen, manche Gedanken, manche geistigen Entwicklungen in der Luft gelegen zu sein. Die Ersten, die sie dort einfangen und sie formulieren, prägen sie für die Ewigkeit und damit für alle, die nach ihnen denken und dichten.

Was bedeutet es, wenn wir diese Ersten vergessen, womöglich absichtlich aus unserem Bewusstsein radieren oder sogar schmähen? Beginnt der Untergang jeder Hochkultur vielleicht doch weniger mit dem Niedergang der Sprache als vielmehr mit dem Meucheln der größten ihrer Vordenker, die einst die tragenden Säulen unserer gesellschaftlichen Architektur schufen?

Wir können nur hoffen, dass dem nicht so ist, oder dass die Vordenker des richtigen Maßes keiner Meuchelei zum Opfer fallen. Doch gelegentlich sieht es aus, als würden die Schergen unserer trivialen Welt der Maßlosigkeit bereits nach ihnen greifen. So etwa berichtete das Wall Street Journal im Dezember 202026 von einer Schule im amerikanischen Bundesstaat Massachusetts, deren Direktion sich entschloss, die Odyssee aus dem Lehrplan zu streichen. Mit der Begründung, Homer verkörpere eine »white supremacy«, eine Herrschaft des weißen Mannes.

Nein, hier geht es nicht um Einzelfälle unter den Pädagogen, die ihr Amt für eine hybride Form des Geschlechterkampfes missbrauchen, hier könnte sich vielmehr eine gesellschaftliche Entwicklung gespiegelt haben, die das Gebälk unserer Kultur und damit auch die Träger echter Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zersägen, um das Feuer einer pervertierten narrenhaften Gleichmacherei zu nähren. Doch dazu noch mehr etwas später in diesem Buch.

Die Schule von Athen

Wann immer ich Kardinal König in den Vatikan begleiten durfte, nutzte ich die Gelegenheit, um die Stanza della Segnatura zu besuchen. Sie ist einer von insgesamt vier Räumen im Apostolischen Palast, die der italienische Maler und Architekt Raffael und seine Schule ausmalten. Die Stanza della Segnatura, der erste dieser Räume, birgt vier der bekanntesten Fresken Raffaels, und alle vier gelten als Meilensteine in der Malerei der Hochrenaissance.

Zunächst nutzte Papst Julius II. den Raum als Unterschriftenzimmer, Bibliothek und Studierzimmer, ehe Papst Paul III. dort unter seinem eigenen Vorsitz die höchste päpstliche Gerichtsbarkeit versammelte, die Segnatura Gratiae et Iustitiae, und ihm damit seinen Namen gab. Die bestimmenden Themen der Fresken sind die »drei höchsten Prinzipien des menschlichen Geistes«: das Wahre, das Gute und das Schöne. Sie sind in vier Wand- und den Gewölbe-Fresken dargestellt, die unter anderem das Gesetz zum Thema haben. Raffael zeigt es als Allegorien auf die drei Kardinaltugenden. Eine davon ist die Mäßigung, die anderen beiden sind die Tapferkeit und die Klugheit.

Die dominanten Figuren, die Raffael in der Stanza della Segnatura verewigte, sind Platon und Aristoteles. Beide halten ihr Hauptwerk in Händen, und beide Werke beschäftigen sich mit dem richtigen Maß. Aristoteles hält sein Werk Ethik hoch. Das Ziel des menschlichen Lebens, so Aristoteles darin, ist das gute Leben, das Glück. Für ein glückliches Leben müsse der Mensch Verstandestugenden und, durch Erziehung und Gewöhnung, Charaktertugenden ausbilden, zu denen vor allem der richtige Umgang mit Begierden und Emotionen gehöre.27

Aristoteles zeigt auf dem Fresko mit der Hand nach unten, vielleicht weil es bei ihm um das Irdische geht. Platon hingegen zeigt nach oben und hält den Timaios, sein in Dialogform verfasstes Spätwerk in der Hand. Darin geht es darum, wie der Demiurg, also der Schöpfer, die Welt erbaut hat, und warum er damit nie fertig sein wird.

Das Erschaffen der Welt sei ein beständiger Prozess, vermittelte Platon im Timaios.28 Einer, an dem sich alle Menschen beteiligen müssten, indem sie, stark verkürzt gesagt, das richtige Maß in sich entdecken und ihm entsprechen, insbesondere in zwischenmenschlichen Fragen. »Die Welt ist da, ihr müsst sie auf diese Weise nun weiterformen«, lautet die Botschaft, die Platon im Timaios vermittelt, und die das Werk zu einer Sternstunde des richtigen Maßes macht. Wollen wir also hoffen, dass wir Platon nicht demnächst vom Bildungswesen verordnet aus unserem Bewusstsein streichen müssen, weil er kein Binnen-I verwendete.

 

Die Schöpfung zu gestalten, bedeutet für Platon jedenfalls vor allem, das richtige Maß beim Umgang der Menschen miteinander anzulegen. Doch was heißt das eigentlich? Mit unserem heutigen Vokabular auf heutige Ansprüche umgelegt könnten wir sagen: Es geht um Achtsamkeit und Empathie, um Respekt, Fairness und Mäßigung im Ton, und einmal mehr um das große freimaurerische Thema Toleranz, um Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Platon war bei seinen politischen Visionen zweifellos geprägt von seiner eigenen Geschichte. Von den peloponnesischen Kriegen, bei denen Menschen aufs Grausamste übereinander herfielen. Und vom Todesurteil gegen seinen Lehrer Sokrates, dessen Schriften nur deshalb überliefert sind, weil Platon sie gemeinsam mit einem zweiten Schüler des Sokrates, dem Politiker, Feldherrn und Schriftsteller Xenophon, aufzeichnete.

Seine grausamen Erfahrungen mit der damaligen Welt brachten Platon schließlich zu der Erkenntnis: Die alten Götter haben ausgedient. Er meinte damit, dass in Wirklichkeit nicht personifizierte, anthropomorphe Götter die Menschen beherrschen, wie es damals der Glaube war, sondern dass die Menschen Teil eines großen Ganzen sind, eines Reiches der Ideen, auf das sie noch keinen Zugriff haben.

Damit war das Transzendente benannt, das hinter unserer irdischen Wahrnehmung steht. Es durchlief wie in einer geistigen Stafette mehr als zwei Jahrtausende lang die europäische Geistesgeschichte. Bis es die Vertreter des anthropomorphen Denkens zu beenden versuchten, indem sie Gott in die Figur des alten Mannes mit dem weißen Bart gossen.

Für Platon gab es den anthropomorphen und den megalopsychischen Menschen. Der anthropomorphe Mensch erkennt die Welt nur so an, wie er sie sieht, während der megalopsychische Mensch die Welt schon in einem größeren Umfeld begreift. Großgeistig und umfassend: Wir sind Teil eines größeren Ganzen.

Auch wenn das anthropomorphe Gottesbild unserer Zeit ein anderes ist als das damalige und nur einen Gott beherbergt, sind die Fragen, mit der sich die antike Philosophie befasste, immer aktuell geblieben. Gibt es nur das, was wir sehen und berechnen können und für das es eine Evidenz gibt, oder gilt auch hier das Wort der Wissenschaft:

The lack of evidence is not the evidence of lack.

Das Fehlen von Beweisen ist nicht der Beweis dafür, dass etwas nicht existiert, bedeutet das frei übersetzt.

Mit dem richtigen Maß dienen die Menschen in Platons neuer spiritueller Vision folgerichtig nicht mehr den alten Göttern, um sich vor der Rache der Nemesis zu schützen, sondern sie dienen damit dem Reich der Ideen, mit dem er das Transzendente umschreibt, und sie dienen einander, dem großen Ganzen und damit wieder sich selbst.

Auf diese Art entstand letztlich die Philosophie Europas. Das Mythenhafte verschwand. Platon zog den Verstand und das eigene Wissen um die Wirksamkeit ebendieses Verstandes immer wieder als Kriterium heran, wohl wissend, dass auch dies einer höheren Ordnung folgt. Was er in seinem berühmten Höhlengleichnis beschrieb, in dem er den philosophischen Bildungsweg als Befreiungsprozess darstellte. Das Ziel ist der Aufstieg aus der sinnlich wahrnehmbaren Welt der vergänglichen Dinge, die er mit einer unterirdischen Höhle verglich, in die rein geistige Welt des unwandelbaren Seins. Die Ethik des richtigen Maßes entsteht durch das Reich der Ideen, glaubte er. Wir haben ein Inneres, das mit dem Ideenreich verbunden ist, und das Innere ist dafür verantwortlich, dass wir ein gutes Äußeres erzeugen können.

Damit griff Platon in gewisser Weise auf die Philosophie seines Lehrers Sokrates zurück, der von der inneren Stimme sprach. Das Äußere des Menschen könne nur dann gut sein, wenn er bei dessen Gestaltung seiner inneren Stimme folge, meinte Sokrates. Das richtige Maß, heißt das, erkennen wir, wenn wir in uns hineinlauschen und wenn wir uns darin üben, unsere innere Stimme zu hören und ihr dann auch zu folgen. So wachsen wir von selbst und werden von selbst, was wir sein können.

Platon folgte diesen Ansichten seines Lehrers und ging noch weiter, indem er eine politisch aufrührerische These formulierte.29 Sie lautete:

Das moralische Gesetz in uns ist von größerer Bedeutung als jede auferlegte Doktrin.

Ist das so? Die Antwort darauf ist auch heute hochaktuell. Denn hier sind wir bei einer der großen Fragen unserer Zeit, die dieses Buch wie gesagt noch ausführlich beantworten wird: Lässt sich das Gutsein anordnen? Kann eine Doktrin des Gutseins funktionieren? Lässt sich Haltung mit Gesetzen oder Meinungsdiktatur erzwingen? Schon Platon erteilte dem eine klare Absage.

Ebenso provokant und zumindest als Denkansatz aktuell ist auch eine andere politische These Platons, die er aus seinem Wissen um die Bedeutung des richtigen Maßes ableitete. Unmittelbar nach den peloponnesischen Kriegen, noch ehe er den Timaios schrieb, überlegte er, wie sich die Gesellschaft nach all den Gräueln und all der Zerstörung wieder in Ordnung bringen ließe.

In seinem Werk Politeia (Der Staat), in dem auch das Höhlengleichnis steht, zeigte er, welche hohe Bedeutung für ihn das »richtige Maß der Begierden« hatte. Denn darin riet er der Elite: Um bei der Staatsführung dieses richtige Maß einhalten zu können, solle sie, wenn möglich, ohne Besitz sein und auch ohne Familie. So ist sie fokussiert auf ihre Aufgabe und nicht kompromittierbar.

Die Kunst der goldenen Mitte

Aber gehen wir weiter zur anderen dominanten Figur in den Fresken der Stanza della Segnatura, zu dem Philosophen und Naturforscher Aristoteles. Eine wunderbare Darstellung dieses Schülers Platons befindet sich übrigens auch in der antiken Sammlung des Wiener Kunsthistorischen Museums. Da steht er seinem eigenen Schüler Alexander dem Großen gegenüber. Die beiden stehen links und rechts vor einem Portal.

Das Porträt geht auf den griechischen Bildhauer Lysippos zurück. Es ist kunstgeschichtlich insofern bemerkenswert, als es hohe Individualität ausstrahlt, unüblich für damalige Zeiten. Man stellte damals schöne Figuren her, doch Individualität, wie in diesem Fall schüttere Haare und spöttische Lippen, fehlten meist. Der so gekonnt Porträtierte prägte einen Satz, der ergänzt, was Platon erdachte:

Das rechte Maß liegt in der Mitte.30

Aristoteles sagte:

Gemeinwesen bleiben stabil und können blühen, deren Bürger in Bezug auf Lust und Unlust das richtige Maß finden. Besonnene Bürger sind fähig und bereit, bei der sinnlichen Seite ihres Lebens, dem Essen, dem Trinken und der Sexualität, aber auch bei der emotionalen Seite, dem Zorn, sich weder dem Zuviel der Zügellosigkeit noch dem Zuwenig der Gefühllosigkeit hinzugeben.31

Wenn wir diese beiden Sätze auf unsere Zeit umlegen, sie in einen aktuellen Bezug stellen, haben wir zwei Möglichkeiten. Entweder wir streiten sie ab und erklären, Aristoteles sei ein Dummkopf gewesen oder habe sich zumindest in diesem Punkt geirrt. Oder wir müssen bekennen, dass unser Gemeinwesen wohl gerade instabil wird und am Verblühen ist. Denn wo ist in Zeiten, in denen jedes unbedachte Posting einen Shitstorm hervorrufen und einen Menschen vernichten kann, die Besonnenheit geblieben? Wo ist sie in Zeiten, in denen sich Menschen einfach so zum Frühstück ein paar Zentimeter chilenischen Zuchtlachs auf ihre Toastscheiben klatschen und sich für Ökopioniere halten, wenn sie einen Tag die Woche auf philippinische oder pakistanische Mangos verzichten? Und wie sehr hat eine Welt der Plattformen wie Tinder, die zu einer rasanten Verbreitung auch zuvor fast schon ausgestorbener Geschlechtskrankheiten beitragen, und einer hunderte Milliarden Euro schweren Porno- und Sexindustrie die Zügellosigkeit als Status quo etabliert?

Doch lassen Sie mich auch darauf später noch zurückkommen und jetzt bei dem ebenso weisen wie inspirierenden Denker Aristoteles bleiben. Die Kunst des richtigen Maßes besteht für ihn also nicht in der konsequenten Unterdrückung von Bedürfnissen, sondern in unserer souveränen Herrschaft über sie. So sei auch Leidenschaft ein wesentlicher Bestandteil eines gelungenen Lebens, meinte er sinngemäß, doch auf die unüberlegte, kurzfristige Lust sei zu verzichten, weil sie auf lange Sicht nur Schaden brächte.

Diese Art des richtigen Maßes lässt sich auch auf den Umgang mit Emotionen anwenden. Dem Zuviel der Zügellosigkeit steht bei Aristoteles deshalb das Zuwenig der Gefühllosigkeit gegenüber. Gefühle grundsätzlich zu unterbinden, das ist der falsche Weg, meint er sinngemäß, sie zuzulassen, aber zu kontrollieren der richtige. Nicht die Emotionen steuern uns, sondern wir steuern sie, das ist die Vorgabe des richtigen Maßes.

Selbst Zorn darf dann seinen Platz haben, könnten wir sagen. Denn wohldosiert kann er Veränderung und Verbesserung vorantreiben. Solange wir ihn steuern und genau bestimmen können, ab wann wir unser Gegenüber damit verletzen, kann er diesem Gegenüber wichtige Hinweise geben, selbst wenn es um Kinder und deren Erziehung geht.

Askese mag der Übung dienen, aber sie definiert nicht per se das richtige Maß, meinte auch Aristoteles. Auch Besitz geht in Ordnung, solange wir uns nicht von ihm in Besitz nehmen lassen. Tun wir das, dann müssen wir noch lernen.

Zusammenfassen lässt sich Aristoteles‘ Überzeugung etwa so:

Die Meisterschaft des richtigen Maßes setzt voraus, über den Dingen zu stehen, sie zu steuern statt sie uns steuern zu lassen.

Zu erreichen ist diese Meisterschaft allerdings schwer. Askese kann dafür wie gesagt ein Weg sein, einer der Lehrlinge und Gesellen, wenn wir so wollen. Für die Meister kann Askese eine regelmäßige Übung darin sein, ihre Meisterschaft zu bewahren.

Besessen vom Besitz

Wie sehr nimmt uns Besitz in Besitz? Beleuchten wir diese Frage anhand einer eigentümlichen Beobachtung, die ich machte, als ich zu einer wunderbaren Opernaufführung geladen war.

Es handelte sich um eine mit Spannung erwartete Erstaufführung mit, wie meist bei solchen Gelegenheiten, prominenten Besuchern. Angela Merkel war eben eingetroffen, eine schwarze Limousine nach der anderen rollte zum roten Teppich. Das Stück begann, alle begaben sich aufgeputzt zu ihren Plätzen, die Damen in ihren Roben, die Herren im Smoking.

In der ersten Pause strömten die Menschen hinaus auf den Rasen, zu den Tischen mit den Kanapees, die ihrerseits künstlerisch wertvoll waren. Die noblen Herrschaften standen oder saßen an kleinen Tischen und zogen ihre Smartphones aus den Taschen. Ich erhaschte im Vorbeigehen einige Blicke auf die matt schimmernden Bildschirme. Sah ich richtig?

Da vergaßen sich die Privilegierten, die in den Genuss eines so außergewöhnlichen künstlerischen Ereignisses gekommen waren, und ließen nicht etwa die wundervolle Musik nachklingen oder sprachen darüber, sondern checkten Aktienkurse. Wie viel sie in den vergangenen Stunden gewonnen oder verloren hatten, das interessierte sie mehr als die großen Momente, die sie eben erlebt hatten und an diesem Abend noch erleben würden. Genau hier, dachte ich mir, während der Teppichboden meine Schritte verschluckte, bräuchte es Aristoteles.

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