Die Kunst des richtigen Maßes

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Wie Steve Jobs den Macintosh erfand

Oder nehmen wir Steve Jobs, der ein Adoptivkind war. Er wollte ursprünglich Kalligraph werden und baute dann, ähnlich wie Bill Gates, in der Garage seines Elternhauses die ersten beiden Apple-Computer. Der Durchbruch gelang ihm 1984, da stellte Apple den Macintosh vor.

Von Steve Jobs gibt es eine bekannte Biographie, verfasst von Walter Isaacson. Isaacson beschrieb ganz genau, wie Jobs beim Fasten Euphorie-Gefühle bekam. Diese Momente des Verzückens waren es, die ihn begleiteten, als er den Macintosh entwickelte. Jobs aß nichts, und erst da flogen ihm die entscheidenden Ideen zu. 2003 kam dann die Krebsdiagnose. Jobs lebte asketisch weiter, immerhin bis 2011. Acht Jahre Lebenserwartung, das hätte ihm zunächst kein Arzt mehr zugetraut.16

Dorsey, Libin und Jobs.

Die gleiche Clique aus dem Silicon Valley, die pionierhaft und im Übermaß die Digitalisierung vorantrieb, erkannte die Vorteile der Mäßigung und nutzte sie konsequent und ihren Ambitionen entsprechend einigermaßen extrem für sich.

Die Elite der silikalen Welt und ihr simples Credo: Weniger ist mehr. Das Zitat des Dalai Lama17 ließe sich so extemporieren:

Loslassen vom Überschuss ist das Herz geistigen Wachstums, das sich auch in äußerem Erfolg manifestieren kann.

Erstaunlicherweise verlangen die Eliten diesen Verzicht sich selbst ab, nicht aber ihren Mitarbeitern. Auf der Payroll von Google und Facebook zu stehen, heißt ganz im Gegenteil, zur Völlerei geradezu animiert zu werden. Die Internetkonzerne bitten zu Tisch, als wär jeder Tag das letzte Abendmahl.

Die Mitarbeiter bekommen in den Betriebskantinen täglich gratis All you can eat in der Gourmet-Variante serviert. Google und Facebook sind bekannt für ihre Gourmet-Kantinen. Das Essen gilt als besonders exzellent. Asiatisch, mexikanisch, mediterran, vegan, natürlich auch Steaks und Burger, alles in jeder beliebigen Menge, aber nur vom Feinsten.

Der Freibrief zum Fressen hat die Begriffe »Google 15« und »Facebook 15« hervorgebracht. Sie bezeichnen jene 15 Pfund, die neue Mitarbeiter im Schnitt an Körpergewicht zulegen. Siebeneinhalb Kilo, weil sie die Firma so gut abfüttert.18

Das ist der Unterschied im Silicon Valley. Die Könige verzichten, das Volk völlert. Die einen lenken, die anderen folgen. Die einen wachsen, die anderen dienen.

Josef Pieper19, ein deutscher christlicher Philosoph des 20. Jahrhunderts, formulierte das Prinzip dahinter schon Jahrzehnte vor der Erfindung der Computer und des Internets so:

Auch der einfache Mensch ist in der Lage, zur Elite zu werden, aber er muss sich selbst bemühen.

Pieper unterschied die außergewöhnliche, schon zur Vollkommenheit gereifte Persönlichkeit klar vom durchschnittlichen Menschen. Weil bei Letzterem die innere Ordnung gefährdet ist, braucht er innere Disziplin. Pieper schrieb:

Man muss sich alles etwas kosten lassen, konkret Verzicht üben, um das Wesen des Menschen zu verwirklichen und eine sich selbst besitzende freisittliche Person zu werden.

Jeder kann dieses Ziel erreichen. Wenn er das richtige Maß erkennt und an sich selbst anlegt.

Der Weg zum See Genezareth

Den drei genannten Herren aus dem Silicon Valley war vielleicht nie bewusst, dass sie einen Weg wählten, den auch schon Jesus Christus beschritt. Bevor der Sohn Gottes zum See Genezareth, einem der Zentren seines Wirkens, kam, fastete er vierzig Tage lang in der Wüste. Satan besuchte ihn, um ihn von seinem Weg abzubringen. Doch Jesus ließ sich nicht beirren. Durch diese vierzig Tage, so heißt es im Evangelium des Matthäus, entstand in ihm etwas. Etwas, das die Exegese, die Bibelinterpretation, bisher nicht gebührend berücksichtigt hat.

Jesus muss in der Wüste etwas verstanden haben, das sein Leben veränderte, und es muss eine Art des Verständnisses gewesen sein, die weit über die kognitive Ebene hinausging. Ihm muss sich etwas eröffnet haben. Vielleicht ähnlich wie dem Ich-Erzähler in Star Maker, als sich sein Geist vom Körper löst und eine Reise auf höherer Ebene antritt, die ihm alles ermöglicht und das Universum offenbart.

Wir dürfen nicht glauben, dass Jesus bereits in der Krippe wusste, dass er der Sohn Gottes ist. Offensichtlich gelangte er zu der Erkenntnis, dass ihm eine besondere Botschaft innewohnt, erst kurz bevor er den See Genezareth erreichte. Im Johannes-Evangelium gibt es dazu kryptische Dialoge. »Der Vater hat mich gesandt«, sagt Jesus an einer Stelle. An einer anderen öffnet sich der Himmel und aus seiner Höhe herab verkündet Gott: »Das ist mein vielgeliebter Sohn.«

In unsere aufgeklärte Denkart, die Ereignisse wie dieses als Esoterik diskreditiert und die keine Sprache mehr dafür hat, könnten wir das am ehesten unter der Überschrift Tiefenpsychologie einordnen. Als tiefenpsychologisches Drama vielleicht, denn Jesus begriff nach vierzig Tagen des Fastens, wer er wirklich ist.

Er absolvierte jedenfalls anscheinend einen Erkenntnisprozess, dessen sich Jack Dorsey, Phil Libin und Steve Jobs 2000 Jahre später durch ihre Übungen im Verzicht ganz bewusst ebenfalls bedienten.

Fasten klärt den Geist.

Weglassen weist den Weg.

Das richtige Maß öffnet den Himmel.

Wir können daraus die Frage ableiten: Was alles ist für uns Menschen möglich? Wie groß können wir werden? Wie lautet der biblische Satz von der Öffnung des Himmels in der Sprache unserer Seele?

Das richtige Maß beim Verzicht

Leonardo da Vinci sagte:

Die Einfachheit ist die höchste Stufe der Vollendung.20

Wir hören es und finden es gut, und doch widerspricht es unseren inneren Programmierungen. Das lässt sich unter anderem mit einer kürzlich im Wissenschaftsmagazin Nature publizierten Studie des Sozialpsychologen Gabriel Adams21 belegen. Das Experiment beschäftigte sich mit der Kunst des Weglassens. Die Probanden, allesamt Architekturstudenten, bekamen die Aufgabe, ein Dach zu errichten. Sie sollten versuchen, die stabilste Konstruktion zu finden.

Die jungen Tüftler machten sich ans Werk. Fast alle fügten mehr Schindeln hinzu und verwendeten mehr Materialien. Bald zeigte sich: Wenn ein Dach zu schwer ist, hat das viele Nachteile. Nur Wenige fanden die stabilste Konstruktion. Die Voraussetzung dafür war, wegzulassen, statt hinzuzufügen.

Der Mensch fügt grundsätzlich lieber etwas hinzu, als etwas wegzulassen. Das ist ein innerer Drang. Wegzulassen ist kognitiv viel anstrengender als hinzuzufügen. Addieren ist kognitiv einfacher als Subtrahieren. Dazu kommt unsere längst auch in Studien dokumentierte Ehrfurcht vor dem Bestehenden.

Etwas wegzulassen, gilt gemeinhin auch als weniger kreativ, als etwas hinzuzufügen. Dabei liegt die Schönheit zum Beispiel in der Arbeit eines Bildhauers immer im Weglassen und Wegnehmen. Aus einem formlosen Block schlägt der Künstler die Form. Die menschliche Standardeinstellung lautet also schlicht und einfach:

Mehr ist mehr.

Aktuell sind wir allerdings alle umgeben von einem Gefühl des Zuviels. Explodierende Zeitpläne, mehr, schneller, besser. Ausartende Bürokratie, explodierende Kommunikation, immer mehr Arbeit innerhalb der gleichen Zeit. Der ganze Planet, der durch ständiges Hinzufügen von Neuem an die Grenzen seiner Möglichkeiten und Ressourcen stößt. Bis er zu platzen droht. Das fördert unsere Bereitschaft, zu verzichten, wenn wir es denn schaffen, aber ist Verzicht umso besser, je radikaler er ausfällt, wie es die drei genannten Beispiele aus dem Silicon Valley vermuten lassen könnten?

Die Antwort lautet Nein. Denn auch das wäre ein Dogma und Dogmen können uns bei unserer Suche nach dem richtigen Maß nur im Wege stehen. Es gibt wie gesagt keine allgemeingültige Regel für das richtige Maß. Es ist keine starre Größe wie zum Beispiel: Iss nur einmal am Tag und das wenn möglich nur fünf Mal in der Woche, dann bist du so weit. Das wäre zu einfach. Wir müssen uns vielmehr immer wieder fragen, wo und wann wir den Punkt erreichen, an dem etwas nicht mehr passt, an dem wir das Gefühl haben, unsere innere Mitte zu verlieren.

Der Buddhismus etwa sieht Fastenrituale eher skeptisch. Zur Erleuchtung gelangt der Mensch laut Buddha nicht durch Kasteiung, sondern eben durch das richtige Maß. Streng genommen gehört das Fasten gar nicht zur grundlegenden buddhistischen Praxis, es dient dort eher dazu, Gefühle zu erkennen und daraus zu lernen. Das drückt sich auch in einer Legende aus dem Leben des Buddha aus. Siddhartha, der junge Buddha, heißt es, fastete, bis er »sein Rückgrat durch seinen Magen spüren« konnte. Dann fiel er in Ohnmacht und erkannte, dass bloße Kasteiung nicht zur Erleuchtung führt.

Kehren wir an dieser Stelle noch einmal zurück zu Josef Pieper, dem bereits zitierten deutschen christlichen Philosophen des 20. Jahrhunderts und seiner Unterscheidung zwischen außergewöhnlichen, schon zur Vollkommenheit gereiften Persönlichkeiten und durchschnittlichen Menschen. Auch Letztere sind in der Lage, zur Elite zu werden, lautete das Zitat, aber sie bedürfen des Verzichtes, um ihre innere Ordnung herzustellen.

 

Wir könnten die Frage nach dem Nutzen der Askese und ihrer Wechselwirkung mit dem richtigen Maß also so beantworten: Das richtige Maß besteht nicht in Askese, aber Askese ist eine gute Möglichkeit, es zu finden und sich darin zu trainieren, es zu wahren.

Winkelmaß und Zirkel

Wie kam der Mensch darauf, dass es das richtige Maß zu wahren gilt, wenn er werden will, was er sein kann? War ihm dieses Wissen in die Wiege gelegt? Und wenn nicht, wovon auszugehen ist, wie entstand es? Das sind spannende und interessante Fragen, auf die es eine ebenso spannende und interessante Antwort gibt, und die hat viel mit der Freimaurerei zu tun.

Die Geschichtsschreibung kennt einen relativ klar abgrenzbaren Punkt, ab dem das richtige Maß als Mittel und Instrument des Menschen für ein inneres Wachstum zu Höherem Thema wurde. Um diesen Punkt zu erkennen, müssen wir uns zunächst mit dem Bauwesen befassen. Fangen wir mit seiner basalsten Grundlage, der Waagrechten an. Von der Waagrechten aus erhebt sich alles und auf ihr lässt sich alles aufbauen. Die Baumeister der Pyramiden, der Megabauten schlechthin, legten jeweils rund um die Baustelle einen Kanal an, weil sie vom Wasserspiegel ausgehend das richtige Maß eruieren konnten. Die Waagrechte ist das erste Prinzip, das Maurerlehrlinge verstehen müssen.

Der erste Mega-Bau, der in der europäischen Geistesgeschichte immer wieder Gestalt annimmt, ist der Tempel des König Salomo, des Herrschers des vereinigten Königreiches Israel im 10. Jahrhundert vor Christi Geburt. Dieser Tempel war gleichsam ein Vorläufer der Kathedralen, die mit ihren 100 oder sogar 150 Meter hohen Türmen die Frage aufwerfen, wie sie mit damaligen technischen Mitteln überhaupt zu errichten waren.

Irgendwann fingen die Freimaurer an, diese Geheimnisse nicht nur für die Architektur von Gotteshäusern, sondern auch für die innere Architektur des Menschen anzuwenden. So, wie sie zunächst auf wundersame Weise dafür sorgten, dass ihre steinernen Werke in den Himmel wuchsen, sorgten sie von da an dafür, dass Menschen wahre Größe erreichen und werden, was Menschen sein können.

Welche Geheimnisse kannten ihre Baumeister, um ohne jegliches Computerprogramm die Statik genau genug für ihre Kathedralen berechnen zu können? Und wie konnten sie diese Geheimnisse auch für die Befreiung der Seele des Menschen anwenden?

Der Beitrag der Maurer

Im Inneren einiger Kathedralen weisen geheimnisvolle Spuren auf die spannende Beziehung zwischen der Architektur sakraler Bauten und der inneren Architektur des Menschen hin. Unvergesslich ist mir in diesem Zusammenhang die frühere Diözesanarchivarin des Wiener Stephansdoms, Dr. Annemarie Fenzl. Ausgewählte Besucher führte sie zur sogenannten Pilgramkanzel im Dom, wo sie ihnen mit einer speziellen UV-Lampe in den Stein gravierte Zeichen zeigte.

Es war dann zunächst immer eine Art ultraviolette Offenbarung eines Wirkens und Denkens abseits dessen, was wir rational in unsere Betrachtung der Geschichte einordnen können. Sie fasziniert, diese Offenbarung, weil die Botschaft der Symbole ungemein einfach ist und gerade deshalb nach einer tieferen Deutung zu verlangen scheint.

Drei Gruppen von Menschen haben an der Errichtung des Doms gearbeitet, lautet sie. Lehrlinge, Gesellen und Meister. Sie mussten Gesetze einhalten, damit der Bau auch wirklich hält. Das ist die Grundlage jeder Maurerkunst. Welche tiefere Deutung legt das nahe?

Unter der Kanzel, geschützt vor den Blicken vorbeiströmender Gläubiger und Touristen, gibt es ein Fenster. Durch dieses Fenster schaut der Meister heraus, der den Dom erbaut hat, Baumeister Anton Pilgram. In seinen Händen hält er Winkelmaß und Zirkel, die Hauptinsignien der Freimaurerei. Warum?

Hier sind wir genau an jenem Punkt, ab dem das richtige Maß als Mittel und Instrument des Menschen für ein inneres Wachstum zu Höherem Thema wird. Rund um Winkelmaß und Zirkel entstand das große Mysterium der Freimaurerei, das detailliert wie keine andere philosophisch-spirituelle Tradition mit dem richtigen Maß als Herzstück den Weg des Menschen zu dem, was er sein kann, zeigt.

Womit wir uns auch auf eine tiefere Deutung der geheimnisvollen, im Stein der Pilgram-Kanzel verewigten Symbole festlegen können: Wir müssen die Gesetze des richtigen Maßes einhalten, damit wir werden, was wir sein können. Auf dem Weg dorthin sind wir zunächst Lehrlinge, dann Gesellen und schließlich Meister. Das ist eine der Botschaften der Freimaurerei.

Die Waagrechte spielt dabei eine entscheidende Rolle. Beschrieben ist sie etwa im Buch Die Legende der Freimaurer von Peter Francis Lobkowicz.22 Der amerikanisch-deutsche Philologe und Freimaurer-Experte schreibt in diesem Zusammenhang von einem Boden im Inneren des Menschen, der bereitet sein muss, damit angehende Freimaurer die durch Bilder und Symbole vermittelten Geheimnisse der Lehre entschlüsseln können. Dieser Boden, auf dem den Freimaurer-Lehrlingen und -Gesellen die Erkenntnis erwächst, ist laut Lobkowicz »das Fundament jeden Verstehens auf dem Weg zum Licht«.

Menschen, die das Prinzip der Waagrechten nicht erkennen, und Menschen, die diesen Boden in sich nicht erkennen – die einen können keine Dombauer und Maurer werden, die anderen keine echten Freimaurer, sofern wir der Legende Glauben schenken. Ihre diesbezüglichen Vorhaben würden in sich zusammenbrechen wie Kartenhäuser im Wind.

Das Winkelmaß, ein Werkzeug der Maurer und Baumeister, ist in der Freimaurerei ein Symbol für die Gewissenhaftigkeit im eigentlichen Wortsinn. Am rechten Winkel des Winkelmaßes, also seinem Gewissen folgend, soll der Mensch seine Handlungen ausrichten, nach Recht und Menschlichkeit.

Der Zirkel steht in der Freimaurerei für den Kreislauf des Lebens. Für die Endlichkeit, und gleichzeitig für die Unendlichkeit. Er steht auch für die Gemeinschaft und damit für die Begrenzung und Überwindung des Egos. Dessen Inszenierung, wie wir sie heute etwa in den Sozialen Medien betreiben, ist aus Sicht der Freimaurerei nichts weiter als eine einzige entsetzliche Peinlichkeit.

Die Winkelwaage steht in der Freimaurerei dafür, dass alle Dinge und alle Menschen eine gemeinsame Ebene haben, dass es so etwas wie eine dem System Mensch immanente gleiche Augenhöhe als Voraussetzung für Gerechtigkeit, Wachstum und Gottesnähe gibt. Alle Menschen sind frei, alle Menschen sind gleich und alle Menschen sind Brüder, so lautet die Botschaft.

Ein aufrechter Mensch zu sein, tolerant, mit Werten und einem moralischen Kompass, einer, der sich nicht nach dem Wind dreht, der sich nie biegt und nie knickt und dabei nach Höherem strebt. Darum geht es. Der antike Philosoph Platon, Schüler des Sokrates und einer der einflussreichsten Denker und Schriftsteller der Geistesgeschichte, sprach in diesem Zusammenhang von der »königlichen Kunst, aufrecht zu leben«.

Mit Standesdünkel hielten sich schon jene, die einst die Kathedralen erbauten, nicht auf. Vielleicht war angesichts der Größe der Aufgabe einfach kein Platz dafür.

Auch das ist übrigens etwas, das die Elite des Silicon Valley, die heute die Welt von morgen gestaltet, für sich entdeckt hat: »Hierarchien brauchen wir nicht mehr. Chef zu sein ist eine Aufgabe von vielen, gleichwertig mit Programmieren oder Verwalten. Es geht nicht darum, was jemand tut, sondern darum, wie er es tut«, sagt etwa Samuel Koch, Autor des Buches Die Welt, die ihr nicht mehr versteht – Inside digitale Revolution.23

In der Freimaurerei spielen Standesdünkel erst recht keine Rolle. Wobei es bei der geistesgeschichtlichen Betrachtung der Themen Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einen feinen, aber wesentlichen Unterschied zu jener modernen Doktrin gibt, die alles Menschliche nivellieren will und dabei sogar biologische Unterschiede zwischen Mann und Frau abzuschaffen trachtet. Diese Nivellierung ist letztendlich eine Pervertierung des eigentlichen Gedankens von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, weil sie das Individuum ignoriert und den Respekt vor seinem Weg verweigert.

In der Freimaurerei respektiert der Lehrling den Meister. Er strebt danach, zu verstehen, was der Meister schon verstanden hat. Der Meister wiederum respektiert den Lehrling. Er sieht in ihm den Menschen, zu dem er wachsen kann. Beide sind frei. Beide sind gleich. Beide sind Brüder. Aber es gibt einen Unterschied.

Ein Kardinal als Vermittler zwischen den Welten

Indem geistige Führer die Gesetze der Baumeister sakraler Gebäude für die Seele und die Gesinnung des Menschen adaptierten, wurde das richtige Maß zu einem Thema für ganz Europa. Die freimaurerische Botschaft davon scheint besonders tiefe menschliche Wahrheiten zu berühren, denn sie hinterließ inzwischen über Jahrhunderte hinweg in vielen Ländern ihre Spuren.

Als der einstige amerikanische Präsident George Washington den Grundstein für das Weiße Haus legte, trug er das Winkelmaß um den Hals. Washington war Freimaurer, ebenso wie Benjamin Franklin, der als Drucker, Verleger, Schriftsteller, Naturwissenschaftler, Erfinder und Staatsmann einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten war und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung mitverfasste und unterschrieb.

Der Mann, der in Deutschland die Freiheit des Menschen zum großen philosophischen Thema machte, Immanuel Kant, war selbst kein Freimaurer, aber seine engsten Freunde und Wegbegleiter waren es, sein Verleger Johann Jakob Kanter etwa, sein Testamentsvollstrecker Pfarrer Wasianski oder die Gelehrten Theodor Gottlieb von Hippel und Johann Gottfried Frey.

Gehen wir in der Geschichte rund hundert Jahre weiter nach vorne, finden wir weitere interessante Spuren freimaurerischen Wirkens. Im frühen 20. Jahrhundert trafen sich im Schweizer Hotel Waldhaus in Sils-Maria die großen Denker ihrer Zeit und viele waren Freimaurer. Sie machten dort Urlaub, um zu überlegen, wie sich im Europa nach der Französischen Revolution die großen Themen Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit politisch verwirklichen lassen könnten. Es war übrigens das gleiche Dorf, in dem Nietzsche Jahrzehnte früher wohnte. Anscheinend ist es ein guter Platz für große Ideen.

Machen wir nun noch einen großen Schritt in der Geschichte, herauf in die jüngere Vergangenheit, in der bereits einige Missverständnisse über die Freimaurerei herrschten. Die einen sahen sie als Männerbund, dessen Mitglieder sich mit gegenseitigem Schulterklopfen die Welt untereinander aufteilen. Wenn jemand den Blick hinter die Kulisse des Vereinshaften warf, war es meist ein flüchtiger, sodass sich ihm ein Bild von Esoterik oder sogar von einer Art Gegenkirche zeigte. So sah das auch die Kirche, weshalb sich ein tiefer Graben zwischen ihr und der Freimaurerei aufgetan hatte.

Der Wiener Kardinal König fungierte hier als Vermittler zwischen den Welten. Befragt zur heiklen Haltung der Kirche gegenüber der Freimaurerei, sagte er: »Die Ähnlichkeit zwischen beiden ist viel größer, als man glaubt. Lasst sie uns doch wieder zusammenbringen.«

Der Kardinal wollte eine Brücke bauen zwischen den Gesinnungen, deren Schnittmenge tatsächlich groß ist. Das Streben nach innerem Wachstum, danach, zu werden, was wir sein können, die Existenz eines Weltenbaumeisters, die Beschreibung eines von ihm vorgegebenen Regelwerkes, dessen Einhaltung den Menschen empor zu neuer Größe heben kann: Bei vielem davon lagen die Unterschiede zwischen der Kirche und der Freimaurerei nur im Wording und im Kleingedruckten.

Papst Paul VI. sah das genauso und wollte, dass Kardinal König einen Friedensvertrag zwischen der Kirche und den Freimaurern verhandelte. Das Ganze, so sein Wunsch, sollte möglichst diskret vonstatten gehen, leise und hinter verschlossenen Türen. Ich genoss damals das Privileg, Zeitzeuge dieses Prozesses zu sein, und ich erinnere mich noch gut daran, denn letztendlich beobachtete ich einen einmaligen kirchlichen und politischen Vorgang, bei dem viele Mächte eine Rolle spielten und der zu einem überaus erstaunlichen Ende führte.

Als Erstes initiierte der Kardinal ein Gespräch mit dem damaligen Großmeister der Freimaurer, Kurt Baresch. Es fand recht spät am Abend statt, damit niemand sehen konnte, dass der große Mann mit einer kleinen Entourage das erzbischöfliche Palais in Wien betrat.

 

Kurt Baresch agierte offensiv. »Wenn Sie das Riesentor des Wiener Stephansdomes durchschreiten, dann sehen Sie, dass darüber Jesus Christus beim Jüngsten Gericht als Meister vom Stuhl dargestellt ist«, sagte er zu Kardinal König.

Das romanische Riesentor des Stephansdomes liegt an seiner Westseite zwischen den sogenannten Heidentürmen und ist der Haupteingang des Doms, den alle Gläubigen und Touristen nutzen. Dort sollte Jesus Christus als Freimaurer dargestellt sein? Was Baresch sagte, klang für den Kardinal wie eine Mischung aus Witz und Wahrheit. Immerhin ist »Meister vom Stuhl« eine Bezeichnung für den Vorsitzenden einer Freimaurerloge, den Logenmeister.

Kardinal König, der das Riesentor selbst schon ungezählte Male durchschritten hatte, glaubte seinem Gegenüber zunächst nicht und ließ umgehend den Kunsthistoriker des Diözesanarchivs kommen. Der Mann kratzte sich am Kinn und bestätigte. Jesus erscheint an besagter Stelle des Stephansdomes tatsächlich wie ein Meister vom Stuhl. Dies mit einem ganz besonderen Detail. Ein Knie von Jesus ist nackt, eine Form der Entblößung, die es nur in wenigen Jesus-Darstellungen gibt. Das ist eine schon sehr konkrete Anspielung auf die Freimaurerei. Denn empfängt ein Meister vom Stuhl, also der oberste Vertreter einer Loge, einen Neuling, ist eins seiner Knie immer nackt.

Kardinal König war beeindruckt. Er bestätigte Baresch seinen päpstlichen Auftrag, als Vermittler zwischen den aus seiner Sicht sinnlos verfeindeten Welten zu fungieren. Das Ketzerische, das die offizielle Kirche in der Freimaurerei sah, hielten der Papst ebenso wie der Kardinal für unbegründet, und das Bestreben des Kardinals trug Früchte. Es mündete in einer Art Friedensvertrag, der Lichtenauer Erklärung, 1970 zu Papier gebracht. Die Übereinkunft bestand in klaren Regeln: Beide Gruppen sollten einander mit Respekt begegnen, so der Tenor. Die Erklärung wurde damit ganz im Sinne Königs dem Geist der Moderne, der Verständnis für andere Vorstellungen zeigt, gerecht.

Auf Papst Paul VI. folgte als übernächster Papst Johannes Paul II. Seine Wahl war ein diplomatischer Akt mit einem Hintergrund, der sich wie eine Verschwörungstheorie liest und dennoch real ist, wie ich aus eigener Beobachtung bestätigen kann.

Der amerikanische Präsident Ronald Reagan gab dem Erzbischof von Chicago vor dessen Reise zur Papstwahl in den Vatikan eine mündliche Botschaft an das Konklave mit. Sie lautete, die Kardinäle mögen doch einen Papst aus einem europäischen, kommunistischen Land wählen.

Reagan, der ehemalige B-Movie-Darsteller, verfolgte dabei keineswegs religiöse Ambitionen. Vielmehr ging es ihm darum, einen Vorteil im damals noch unentschiedenen Kampf der Systeme, des Kapitalismus und des Kommunismus, zu erzielen. Reagan hoffte, ein Papst aus einem kommunistischen Land wäre so eine Art trojanisches Pferd mit Scheitelkäppchen, wie die päpstliche Kopfbedeckung heißt. Er würde den Kommunismus aufweichen, so sein Kalkül.

Der Erzbischof von Chicago und Kardinal König taten sich in diesem Sinne zusammen. Sie kamen zu dem Schluss, dass der fitteste und jüngste Kandidat ein Pole war. Karol Wojtyła, so sein Name. Für diesen Polen betrieben nun der Wiener und der Chicagoer Kardinal nächtens im Konklave Lobbying, gleichsam als Strippenzieher im Auftrag des Herrn mit einer Agenda Reagans.

Tatsächlich war es am Ende Wojtyła, der sich den weißen Pileolus, das Scheitelkäppchen, als Nächster aufsetzen durfte. Das Erste, was er als frisch gebackener Papst unternahm, war eine große Reise nach Polen, wo er die berühmten Worte sprach: »Macht auf die Tür für Jesus Christus.«

Reagan durfte stolz auf sich sein. Denn in Wahrheit war das natürlich eine Chiffre für den Westen. Der amerikanische Präsident hatte nun einen mächtigen Verbündeten im Herzen des Feindeslandes und zur Sicherheit schob er noch sehr viele Dollars nach Polen. Bekannt ist diese Geschichte kaum, dafür umso mehr, wie sie ausging. Der Kommunismus ging in die Knie, die USA griffen nach den Sternen. Eine phänomenale weltpolitische Idee war aufgegangen.

Kardinal König hatte weniger Grund zur Freude. Denn der neue Papst erwies sich als nicht gerade dankbar gegenüber dem Wiener für dessen Rolle bei seiner Bestellung. Vielmehr enthob er ihn eines seiner wichtigsten Ämter und stellte sich ihm schließlich auch beim Friedensprozess mit den Freimaurern in den Weg. Und zwar auf eine recht unschöne Art.

Ohne es König zu sagen, erteilte er 1983 Kardinal Ratzinger den Auftrag, im L’Osservatore Romano, der Tageszeitung des Vatikan-Staates, einen Brief zu veröffentlichen.24 Mit dem Inhalt, dass es »nicht die Aufgabe von Ortsbischöfen ist, mit den Freimaurern Gespräche zu führen«. Eine Schmach für Kardinal König, dem nicht als Einzigen klar war, dass mit dem für ihn despektierlichen Wort »Ortsbischof« nur er gemeint sein konnte. Die zu diesem Zeitpunkt bereits weit gediehenen Gespräche mit den Freimaurern fanden damit ein abruptes Ende.

Doch die Geschichte schlägt immer wieder neue Kapitel auf, und Dinge, die Sinn machen, lassen sich selten für immer verhindern. Heute, bald zwanzig Jahre nach dem Tod von Papst Johannes Paul II., kommt der von Kardinal König angedachte Schulterschluss wieder in Schwung. Unter den Monsignori im Vatikan gibt es einen Freimaurer in der Administration.