Die Kunst des richtigen Maßes

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Was wir essen, wie wir leben

Dieses Buch gibt Hinweise darauf, wie wir das richtige Maß finden, aber auch darauf, wie wir es halten können. Zum Beispiel, indem wir alte Gewohnheiten ablegen und neue annehmen. Was nie einfach ist, wofür es aber hilfreiche Techniken gibt.

Es zeigt auch bestimmte naturgegebene Rhythmen wie die der Chronobiologie, die unser Leben prägen, ohne dass es uns richtig bewusst ist, und denen wir uns anvertrauen können, wenn wir das richtige Maß halten wollen. Es zeigt, wie wir unsere Kinder lehren können, das richtige Maß für sich zu finden, und wie schon die Antike das in ihrem Bildungssystem berücksichtigte.

Es zeigt, wie wir das richtige Maß in allen Dingen finden müssen, bei naheliegenden wie dem Essen und der Sexualität und bei weniger beachteten wie dem Umgang mit unserem Ego, dem Wechselspiel zwischen Spannung und Entspannung oder im Gebrauch der Sprache und dem technischen Fortschritt. Es zeigt außerdem, warum ein Leben nach dem richtigen Maß Transzendenz erfordert und warum Toleranz und ihre praktischen ebenso wie ihre spirituellen Grundlagen die Basis und der Anfang von allem sind. »The two most important decisions, that animals make, are what to eat and with whom to affiliate.«

So viel vorweg: Bei unserer Suche nach dem richtigen Maß können wir uns zunächst an einen in der Evolution zentralen Grundsatz halten: Die beiden wichtigsten Entscheidungen, die Tiere treffen, sind, was sie zu sich nehmen und mit wem sie sich abgeben.

Das ist bei uns Menschen nicht anders. Was kommt auf den Tisch? Und mit wem sitzen wir dort? Mit wem reproduzieren wir uns? Wem schließen wir uns an und wie organisieren wir uns? Wenn wir auf die Zukunft abzielen, brauchen wir besonders in diesen beiden Uraktivitäten das richtige Maß. Sonst beginnt die Hülle des Raumschiffs Erde zu brechen.

Der bereits zitierte Philosoph Sloterdijk hat das in seinen vier »soziodynamischen Grundsätzen« so zusammengefasst7:

Es werden weltweit mehr Abfälle aus Konsum und auch aus gesellschaftlichen Lebensformen generiert, als in absehbarer Zeit durch Recycling-Prozesse je absorbiert werden können. Es werden in den Körpern der Menschen, vor allem der wohlhabenden Hemisphären, aber jetzt auch in anderen Teilen der Welt, ständig mehr Fettreserven aufgebaut, als durch Bewegungs- und Fitnessprogramme wieder abgebaut werden können. Es werden im Gang der sogenannten Liberalisierung zunehmend mehr Hemmungen fallen gelassen, als durch Hinweise auf frühere Zurückhaltungen und Fairnessregeln domestiziert werden können. Es werden durch die Ausstrahlung der Bilder des reichen Lebens weltweit mehr Forderungen an Teilhabe an Gütern und Statussymbolen herbeigerufen, als jemals durch nicht kriminelle Formen der Umverteilung befriedigt werden könnten.

Kurzum, es geht uns »zu gut«.

Wir essen mehr, als wir brauchen. Wir werden dicker und machen weniger Bewegung, als wir sollten. Wir sind hemmungsloser als je zuvor. Gleichzeitig werden Reiche reicher und Arme ärmer und unsere Gesellschaftsform radiert den Mittelstand aus wie einen unpassenden Teil einer Zeichnung.

Das sind nicht gerade die besten Voraussetzungen, um das Raumschiff Erde durch einen Meteoritensturm zu manövrieren. Auf einem der Mutterschiffe des Science-Fiction-Genres, der Enterprise, gäbe es längst roten Alarm. Die Klingonen sind da, die Photonentorpedos sind leer und die Schutzschilde sind unten. Mister Spock, die Kultfigur des Star-Trek-Universums, kratzt sich hinter dem spitzen Ohr. Captain Kirk wird’s schon richten.

Doch wir sind nicht auf der Enterprise. Das Raumschiff Erde hat keinen souveränen Kapitän. Es gibt kein fertiges Drehbuch und kein Produzent reklamiert ein Happy End in jede Folge. Wir trudeln hinein ins Unbekannte. Und sind dort auf uns selbst zurückgeworfen. Auf unsere innere Wahrnehmung, die als einzige den richtigen Weg kennt und die uns als einzige gleichzeitig zu Schöpfern und zu Teilen einer besseren Welt machen kann.

Die Folgen der Maßlosigkeit

Diese Fragen drängen sich auf: Noch nie ist es uns so gut gegangen, aber worauf haben wir uns dafür eingelassen? Das Weltexperiment der Neuzeit, ist es tatsächlich ein globales Gewinnspiel? Haben wir nicht einfach in globaler Einhelligkeit die Maßlosigkeit zum System erhoben? Was bewirkt sie? Der Homo sapiens und sein Bungee-Jump ins Verderben: Hält das Seil oder reißt es? Sind nicht die Explosion des Raumschiffes, der Weltenbrand, das Armageddon die zwangsläufige Folge unseres Handelns und wie konnten wir das bisher einfach ignorieren?

Für die 15- bis 35-Jährigen ist der Klimaschutz das wichtigste ihrer Anliegen.8 Doch da ist noch viel mehr. Invasive Pflanzen- und Tierarten, die unsere Flora und Fauna zerstören. Die maximale Ausbeutung unserer Böden, dank der Milliarden von Menschen nur noch gesundheitsschädliche Lebensmittel bekommen und Zivilisationskrankheiten pandemische Ausmaße annehmen. Das Plastik, das in der Miniversion des Mikroplastiks, dem Nanoplastik, nicht nur in unsere Körper, sondern auch schon in unsere Gehirne vorgedrungen ist. Und das ist noch immer nicht alles.

Der Wissenschaftler Niall Ferguson9 fertigte für die Hoover Institution, einen Think-Tank der Eliteuniversität Stanford, eine Zukunftsperspektive an. Sein Resümee lautet folgendermaßen:

Nach COVID-19 ist wahrscheinlich keine Katastrophe dran, die dem Klimawandel zuzuschreiben wäre, da wir selten die Katastrophe bekommen, die wir erwarten. Vielmehr wird immer irgendeine andere Gefahr schlagend, die den meisten von uns bis dahin entgeht.

Angenommen, das Raumschiff Erde befindet sich auf einem Kollisionskurs, und wir wissen es nicht. Wir haben keine Ahnung. Das Radar zeigt nichts, die Langstreckensensoren geben keine Warnungen ab. Trotzdem ist dort vorne irgendwo ein tonnenschwerer Meteorit.

Um den Kurs zu korrigieren, brauchen wir prognostische Intelligenz. Wir müssen uns einlassen auf das, was geschehen kann, und gleichzeitig vorbeugen, um es zu verhindern. Der Astronaut fährt mit dem Handschuh über das Steuerelement, gibt ein paar Korrekturen ein, und das Raumschiff fliegt auf neuer Bahn. Vorbei an diesem Meteoriten, der durch die seitlichen Fenster des Cockpits zu sehen ist. Das war knapp, denkt er sich und schließt die Augen.

Doch wer ist dieser Astronaut, woher nimmt er seine prognostische Intelligenz und woher weiß er, welche Korrekturen er eingeben muss? Sie ahnen es nach dem bisher Gesagten bereits. Der Astronaut sind Sie. Die Astronauten sind wir alle. Wir alle stehen nach dem scheiternden Weltexperiment der Neuzeit vor dem Weltexperiment des richtigen Maßes.

Bei jenem der Neuzeit haben wir es uns allzu leicht gemacht. Wir haben die Maßlosigkeit einfach als sakrosankt erklärt, sodass wir uns zum Nutzen eines auf Konsum ausgerichteten Wirtschaftssystems gegenseitig darin bestätigen und überbieten konnten. Jetzt müssen wir weg von dieser schrillen Oberfläche zurück in unser Inneres, das gerade wegen des Tohuwabohus der Maßlosigkeit ohnedies zum Sehnsuchtsort vieler Menschen geworden ist. Mit dem, was wir dort als richtiges Maß erkennen, werden wir ganz von selbst und ohne Dogmen und Korsette das Richtige tun und eine neue Gemeinschaft bilden.

Uraltes Wissen

Die Kunst des richtigen Maßes und wie wir mit ihr werden, was wir sein können, zieht sich als zentrales philosophisches, spirituelles und teilweise auch als pragmatisches lebensberatendes Thema durch die gesamte Menschheitsgeschichte. Zu allen Zeiten haben sich Eliten und jene, die ihnen angehören wollten, ihrer bedient, um zu wachsen. Auch jetzt gerade tun sie es, wie das nächste Kapitel zeigen wird.

Die Asketen des Silicon Valley

Das Silicon Valley ist eine unerschöpfliche Quelle des Übermaßes. Doch seine Macher lassen immer nur die anderen sich daran ergötzen. Sie selbst üben sich gerne im Verzicht, und sie wissen genau, warum.

In Raumschiff Erde gibt es auch eine Silizium-Abteilung. Dort sind die Zukunftsforscher am Werk. Silizium steht als Element der vierten Hauptgruppe im Periodensystem genau unterhalb des Kohlenstoffs. Diese Position ist interessant, zumal wir Menschen aus Kohlenstoff bestehen. Doch es existiert nicht nur die Kohlenstoff-Intelligenz, die wir Menschen haben, sondern gleich darunter, vielleicht auch parallel dazu oder sogar noch darüber, die silikale, die digitale Intelligenz, hervorgegangen aus Einsen und Nullen.

Am besten bleiben wir bei »noch darüber«, in Anbetracht dessen, was diese Intelligenz alles kann. Bots, also Computerprogramme, die weitgehend automatisch sich wiederholende Aufgaben abarbeiten, ohne dabei auf menschliche Benutzer angewiesen zu sein, sind uns in vielen Belangen bereits weit überlegen. Uns Ärzte fasziniert besonders, dass sie etwa Melanome besser diagnostizieren als jeder Dermatologe und für viele Erkrankungen selbständig qualifizierte Therapiepläne vorlegen. Bots helfen etwa auch mit, wenn sich Arbeitssuchende für einen Job bewerben. Sie wählen die richtigen Bewerber aus. Ihre Kriterien dabei bestehen aus tausenden festgelegten Parametern. Bauchgefühl ist ein Relikt aus alten Zeiten.

Künstliche Intelligenz kann präzise Auskunft darüber geben, wen wir heiraten sollen und wen nicht, und sie überlässt auch sonst nichts dem Zufall. In der immer größer werdenden Welt, die sie bestimmt, ist alles berechnet und kontrolliert. Die nächsten Generationen der Autos etwa werden von sich aus Verkehrssünden bemerken und verhindern, ehe wir sie begehen können.

 

Gleichzeitig hat die silikale Welt einen neuen Circus Maximus hervorgebracht, vergleichbar mit jenem im alten Rom. Auf dieser Schaubühne der Eitelkeiten können wir uns heute als Schauspieler darstellen und unser Wirken auf Knopfdruck der ganzen Welt zur Verfügung stellen. Das Amüsement ist gewaltig, der Mitteilungsdrang groß. Alle stülpen ihr Innerstes nach außen.

Allerdings kann, ganz wie in der Antike, die Stimmung kippen. Wenn viele Menschen virtuell beisammen sind, wird ein Gedanke rasch zum Virus. Alles geht dann unglaublich schnell. Heute noch ein Star, abends ein falsches Posting, und der Unflat des Hasses überschwappt den unbedachten Verfasser. Shitstorm ist, wenn das Stimmungsbarometer der Schwarmintelligenz ins Extreme kippt. Binnen Stunden ist der Held ein Monster. Alle fühlen sich bemüßigt, ihre Meinung in die Welt hinauszuschreien. Wut ist das neue Gut. Wahn verbreitet sich in Echtzeit.

Der digitale Circus Maximus, dem faszinierende und im Grunde außerordentlich wertvolle technische Fortschritte zugrunde liegen, ist zum Dauer-Amüsement einer Gesellschaft geworden, die die Unterhaltung in den Rang des Lebenssinns erhoben hat. Goethe scheint das vorausgeahnt zu haben, als er im Faust II10 schrieb:

Du hast, Geselle, nicht bedacht, wohin uns deine Künste führen. Erst haben wir ihn reich gemacht, nun sollen wir ihn amüsieren.

Goethe wollte nicht, dass sein Faust II zu seiner Lebenszeit veröffentlicht wird. Er enthielt viel Prophetisches über die Folgen der damaligen Politik und des damit verbundenen Lebensstils, und er befürchtete wohl, dass er sich so vom gefeierten Star zum Querulanten machen und ins Out manövrieren könnte. Unter anderem stellte er sich mit Sätzen wie dem zitierten gegen eine Gesellschaftsordnung, die Brot und Spiele als ewig funktionierendes Konzept neu etablierte. Eine Gesellschaftsordnung, die heute, rund 300 Jahre nach ihm, zu voller Blüte gelangt.

Auch jetzt bleiben die Kritiker recht stumm. Sie bieten nur ein sanftes Plätschern und sind selbst Teil dieser Ordnung. Sie sind Konsumenten und User der neuen Erfindungen für den Circus Maximus, von denen viele von zweifelhaftem Nutzen und manche von offensichtlichem Schaden sind, und die nur einem zentralen Prinzip folgen: Immer schneller müssen immer mehr dieser Erfindungen her. Welchem Prinzip diese Dynamik folgt, wusste schon der griechische Philosoph Epiktet, der von 50 bis 138 nach Christus lebte. Er schrieb11:

Bei jedem Menschen ist der Körper ein Maß für den Umfang seines materiellen Besitzes wie der Fuß für den Schuh. Wenn du dich von diesem Prinzip leiten lässt, dann wirst du das richtige Maß einhalten. Wenn du es aber überschreitest, dann wirst du eines Tages unweigerlich in den Abgrund stürzen. Es ist wie beim Schuh: Wenn du einmal den Fuß als natürliches Maß überschritten hast, dann bekommst du zuerst einen vergoldeten, dann einen purpurnen und schließlich einen gestickten Schuh. Denn wenn du erst einmal das Maß überschritten hast, dann gibt es keine Grenze mehr.

Eine Dynamik, bei der wir allmählich verblöden. Der Dalai Lama formulierte diesen Umstand, wesentlich feiner, so:

Loslassen vom Überschuss ist das Herz geistigen Wachstums.12

Doch wo in der silikalen Welt spielt dieses Loslassen, dieser Wunsch nach geistigem Wachstum noch eine Rolle? Spielt er dort überhaupt noch eine Rolle?

Ja, das tut er, nur weniger bei den Usern und Konsumenten der silikalen Welt. Er tut es eher bei ihren Schöpfern. Mark Zuckerberg zum Beispiel stülpt auf Facebook sein Innerstes keineswegs nach außen und behält lieber für sich, was er vielleicht gerne manchmal einfach so in die Welt hinausschreien würde.

Er ist nicht der einzige silikale Vordenker, der sich im richtigen Maß übt. Er ist nicht der einzige Gestalter des silikalen Circus Maximus, der das Treiben dort von außen beobachtet und dafür sorgt, dass immer nur die anderen darin aufgehen. Er ist nicht der einzige Macher der Zukunft, der selbst unaufhörlich versucht, zu werden, was er sein kann, und der weiß, dass der Weg dorthin über den Verzicht führt.

Jack Dorsey und sein kühles Morgenritual

Sehen wir uns Jack Dorsey an, den Gründer des Nachrichtendienstes Twitter. Dorsey wuchs in Saint Louis auf, am Westufer des Mississippi. Als Jugendlicher hörte er den Polizeifunk ab und war fasziniert von den Kurznachrichten, in denen so viel Wahrheit und Information steckte. Er wünschte sich einen Computer und fing zu programmieren an, weil er bildlich darstellen wollte, was bei diesen Polizeieinsätzen passierte. 2006 war Dorsey CEO von Twitter. Drei Jahre später erfand er den mobilen Bezahldienst Square. Heute wird sein Vermögen auf 11,5 Milliarden Dollar (Stand: April 2021) geschätzt.

Jack Dorsey ist ein schönes Beispiel für das Diametrale der silikalen Welt. Auf der einen Seite hat er einen Teil des Grundbestecks für die Maßlosigkeit der Kommunikation geschaffen, im eigenen Leben jedoch würde er sich weder am digitalen noch am analogen Konsumrausch je beteiligen. Vielmehr praktiziert der Mann den gelebten Verzicht. Er ist überzeugter Asket. Dorsey verzichtet täglich auf zwei Mahlzeiten, sprich, er isst nur einmal am Tag. In der Früh trinkt er einen Liter Wasser.

Schon sein Morgenritual sagt viel aus: Um fünf Uhr öffnet er die Augen, Wecker braucht er keinen. Seine innere Uhr ist präziser als jedes iPhone. Dorsey gähnt nicht, er ist im Nu wach. Er steht auf und steigt vom warmen Bett direkt in kaltes Wasser. Ein Pool mit vierzehn Grad kaltem Wasser. Dorsey setzt sich hinein und taucht unter, ganz ruhig und bewusst.13

Der biochemische Effekt ist sofort spürbar: Adrenalin wird ausgeschüttet, der Mensch steht unter Strom. In zunehmendem Alter verlieren wir immer mehr diesen Effekt. Das ist der Grund, warum wir dicker werden, obwohl wir gleich viel essen. Das Adrenalin verbrennt das Fett. Dieses kalte Bad von Jack Dorsey verlangt enorme Überwindung. Er selbst sagt:

Ein kaltes Bad am Morgen mag wie eine Kleinigkeit erscheinen, und es ist sehr schmerzhaft, aber wenn ich mich dazu überwinde, traue ich mir tagsüber alles zu, was ich mir vornehme.

Dorsey hat dafür den Ausdruck will power gewählt. Er bringt den Willen auf, sich zu überwinden, sich ins kalte Wasser zu setzen, und aus diesem Willen in Kombination mit dem Verzicht auf das warme Bett schöpft er die Kraft, den ganzen Tag Höchstleistungen abzuliefern.

Dorsey fand seine Erfahrung so ermutigend, dass er anfing, mit einer noch extremeren Form des Fastens zu experimentieren. Er ließ seine Mahlzeiten am Freitag und Samstag gänzlich aus. Zwei Tage in der Woche aß er nichts. Den Effekt beschrieb er so:

Beim ersten Mal habe ich mich am dritten Tag so gefühlt, als ob ich halluziniere. Aber ich habe auch festgestellt, dass es mir bei längerem Fasten so vorkommt, als ob die Zeit viel langsamer vergeht. Vor allem hatte ich Gedanken, auf die ich sonst nie gekommen wäre.

Ideen durch Verzicht. Weisheit durch Weglassen.

Die Enthaltsamkeit am Wochenende gab Jack Dorsey irgendwann wieder auf. Heute isst er wieder sieben Mahlzeiten in der Woche, also jeden Tag genau eine. Auf diese Art des Fastens führt er seine Erkenntnisse bei Twitter und in der elektronischen Technologie zurück. Zusätzlich versucht er, täglich drei Mal eine Stunde zu meditieren. Für ihn bedeutet auch Meditation den Verzicht auf etwas, und zwar auf den ständigen Gedankenfluss. Sie ist Entgiftung vom Alltag.

In regelmäßigen Abständen macht er außerdem die sogenannte Vipassana-Meditation, bei der er sich zehn Tage zurückzieht, ähnlich wie der israelische Historiker und Bestsellerautor Yuval Noah Harari. Dorsey verzichtet dabei auf alles. Auf Sprechen, Augenkontakt, Computer, Handy, vor allem auf elektronische Nachrichten, obwohl er sie selbst weltbekannt gemacht hat.

Jeden Tag geht er acht Kilometer zur Arbeit und wieder zurück. Spät am Abend schreibt er seine Erfahrungen und Gedanken auf. Dabei verzichtet er auf sein Handy, sein iPad oder seinen Laptop. Er bedient sich lieber eines analogen Tagebuchs. Der Asket weiß auch dabei, warum. Handschriftliche Aufzeichnungen haben für die eigene Ausrichtung auf Ziele, für die eigene Verarbeitung, für das eigene Gehirn mehr Gewicht als elektronische Memos.

Die Methode Dorsey macht Schule

Es scheint so, als würde sich zumindest Dorseys Ernährungsweise aus den elitären Zirkeln des Silicon Valley heraus in etwas größeren gesellschaftlichen Gruppen ausbreiten. Sie trägt den Namen OMAD, was sich vom englischen »One Meal A Day« ableitet.14 Es ist eine extremere Form des aus guten Gründen in Mode gekommenen Intervallfastens, bloß haben ihre Anhänger nicht sieben Stunden, sondern nur eine Stunde pro Tag Zeit zu Essen.

Es gibt vier Grundregeln bei dieser OMAD-Diät:

Erstens. In den restlichen 23 Stunden sind auch keine kalorienhaltigen Getränke erlaubt.

Zweitens. Jeden Tag zum gleichen Zeitpunkt essen. Das soll dem Körper helfen, sich auf den Fastenrhythmus einzustellen.

Drittens. Der Durchmesser des Tellers darf nicht mehr als 28 Zentimeter betragen. Das hilft gegen große Mengen.

Viertens. Stapeln verboten! Das Essen am Teller darf nicht mehr als sieben Zentimeter hoch sein.

Generell gilt: Zwei bis drei Liter Wasser am Tag trinken. Der Sprit für einen klaren Geist.

Phil Libins Hunger nach geistiger Klarheit

Werfen wir einen Blick auf Phil Libin.

Mit 17 Jahren gründete er sein erstes Unternehmen, 2007 erfand er mit Evernote ein elektronisches Notizbuch, auf das User von jedem Computer oder Smartphone aus zugreifen können. Phil Libin stammt aus dem russischen Sankt Petersburg und kam mit seinen Eltern nach New York. Sein erstes Geld verdiente er mit Reparaturarbeiten, heute ist er Vorstandschef von Evernote und gilt als einer der innovativsten EDV-Unternehmensgründer der Welt.

Auch Libin hat sich der Askese verschrieben. Zwischen zwei und acht Tagen am Stück verzichtet er gänzlich auf Essen. Den größten Vorteil sieht auch er darin, dass er sich durch das Fasten geistige Klarheit erarbeitet. Mit dieser Klarsicht kann er Dinge entwickeln, die er seiner Meinung nach nicht geschafft hätte, wenn er einfach jeden Tag normal gegessen hätte. Er fing damit an, als sich seine Frau von ihm getrennt hatte und er in eine tiefe Depression schlitterte. Er begann zu fasten und wurde erst dann erfolgreich. Hunger und Liebeskummer sind erstaunliche Motoren für den Erfolg.15