Onettis Santa María(s): Machträumliche Spannungsfelder zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Produktion

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Z serii: Orbis Romanicus #15
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Eines der Hauptmotive, das Archetti innerhalb dieser heterogenen Narrative untersucht, ist das der unerfüllten, romantischen Liebe. Heterosexuelle, kinderlose Paare ohne Trauschein konstituierten diese Form des ‚romantischen‘ Zusammenlebens, wobei üblicherweise ‚die Männer‘ von ‚den Frauen‘ verlassen würden. Der Trennungsschmerz und der ob des Verlassen-Werdens erlittene Kontrollverlust stürze ‚die Männer‘ in eine Identitätskrise.228 Anders als in den Konzepten von Machismo und Marianismo, in deren Zentrum Reproduktion und Familie stehen, fokussiert der Tango-Diskurs damit die freie, heterosexuelle Liebe als Gegenentwurf zur bürgerlichen, institutionalisierten Form von Ehe und Familie:

[T]he basic elements in the cultural construction of romantic love are intimacy, companionship or friendship, the existence of mutual empathy, and the search for sexual pleasure. […] they are perceived as ‚subversive‘ to family life and ordered biological reproduction.229

Der archetypische „‚man of the tango‘ is middle-aged, single, middle-class“ und auf der Suche nach ‚der Liebe‘ – und nicht nach einer devoten Ehefrau samt zugehörigem, konventionellem Familienleben, wie im Machismo/Marianismo dargestellt. Gegenseitige Liebe, Loyalität und Freundschaft bestimmen die Beziehung, welche dieser so genannte „romantic lover“230 laut Archetti zum Idealbild erhebt. Die zugehörige ‚ideale Frau‘ ordne sich ihm nicht mehr unter und verkörpere auch nicht mehr die für den zeitgenössischen Liebesroman prototypischen Tugenden wie Jungfräulichkeit und Keuschheit, sondern agiere frei und selbstbestimmt. Treue basiere für den romantischen Liebhaber auf wahrer, ‚authentischer‘ Liebe und nicht auf ehelicher Übereinkunft oder als Folge autoritären männlichen Verhaltens. Das heißt, er erwartet, dass seine Geliebte ihm aus freien Stücken treu ist und nicht unter dem Druck gesellschaftlicher Konventionen und männlicher Autorität agiert. Männliche Sexualität richte sich demnach nicht auf Reproduktion, sondern auf sexuelle Erfüllung und die wiederum unerfüllbare Sehnsucht nach der ‚wahren‘, romantischen Liebe. Die spezifische Weiblichkeit, die auf der Suche nach der unerreichbaren ‚wahren‘ Liebe adressiert wird, sieht Archetti daher in der Figur der unabhängigen, selbstbestimmten Liebhaberin verwirklicht: „In the discourse of romantic love women can decide for themselves whom to love. In such cases the chosen man is responsible only for himself and not for her decisions and feelings.“231 Frauen erreichten damit einen Grad an Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit, die jegliche bürgerliche, heteronormative Vorstellung von Weiblichkeiten, die immer in Bezug auf oder in Abhängigkeit von einem Mann konstruiert seien, unterliefen.232 Das Dilemma dieser Beziehung liege in deren Umsetzung, wie der Terminus ‚romantisch‘, sofern er in seinem eurozentrischen Ursprungssinn erfasst wird, bereits impliziere. Denn Beständigkeit habe nach wie vor nur die gesellschaftlich anerkannte Form der Ehe und damit die Erfüllung christlich-bürgerlicher Rollenanforderungen an die Eheleute. Die ‚wahre‘ Liebe bleibe damit nur als Utopie oder unerreichbares kulturelles Konstrukt bestehen. Sobald die Liebenden zueinander gefunden haben, trete, wie Archetti fortfährt, die paradoxe Situation ein, dass die romantische Liebe durch den Weggang der Frau entweder unglücklich ende oder sich in die bürgerlichen Rollenbilder, die sie unterlaufen wollte, fügen müsse.

Im Gegensatz dazu sei das materialistische Denken der „milonguita“233 innerhalb des Narrativs der romantischen Liebe als oberflächlich und letztlich zerstörerisch markiert – gleichwohl sei sie immer wieder ebenfalls Adressatin des romantischen Liebhabers. Allerdings nur in Form eines unerreichbaren Objekts der Begierde, da dem romantic lover meist die finanziellen Mittel (wealth) fehlten, um ihr das bieten zu können, wonach sie strebe: nämlich einer Verbesserung ihrer sozialen und materiellen Situation. Archetti beschreibt die Tango- bzw. Cabaret-Tänzerin als „sensual and egoistic“; außerdem verfüge sie über „self-confidence that emanates from their beauty and elegance“:234

The milonguita escapes from the barrio, from poverty perhaps, and from a future as a housewife, to the center […], to the excitement, luxury, and pleasure that the best cabarets offer to young, ambitious, and beautiful women.235

Die Tango-Tänzerin versuche durch Weggehen aus dem eigenen, meist ärmlichen Viertel den sozialen Aufstieg und einen Ausbruch aus dem gesellschaftlich vorgezeichneten Weg als Mutter und Hausfrau – oder, wie im Falle Miriams in La vida breve (1950), aus der elenden körperlichen Ausbeutung als prekäre Prostituierte.236 Der Aufbruch der Tänzerin sei mit einem Streben nach ökonomischer Verbesserung und den aufregenden Vergnügungen, die das Nachtleben verheiße, verbunden. Der Nachtclub ist damit zugleich als Ort gesellschaftlicher Freiheit markiert: „[C]abaret can provide a space of ‚freedom‘.“237 Dabei ist das Leben als Tänzerin auch stark an Aspekte der Physis geknüpft, denn, wie Archettis Zitat zeigt, ist dieser Weg jungen und schönen Frauen vorbehalten. Mit zunehmendem Alter verliert deren Körperkapital an Wert und führt in die Einsamkeit der Verlassenen. Denn die oberflächlichen, materialistischen Geschenke, die ihnen reiche Männer, Archetti bezeichnet sie als „bacanes“238, bieten, erhalten sie nur, solange sie dem reichen Mann einen körperlichen Gegenwert in Form von Jugend und Schönheit bieten können.

Der reiche bacán, der seinen Wohlstand zur Verführung junger milonguitas einsetzt, repräsentiert eine Männlichkeit, die innerhalb des Tango-Diskurses als hegemonial wahrgenommen wird. Sie verweist den romantischen Liebhaber auf eine untergeordnete Position. Ökonomische Potenz gilt demnach als Ausdruck hegemonialer Männlichkeit. Der prototypische Macho nach Stevens bietet demnach einen Brückenschlag zwischen den unterschiedlichen Männlichkeiten an – insofern Archetti den bacán allein in Relation zur milonguita schildert. Dessen soziokulturellen Hintergrund, z.B. den entscheidenden Umstand, ob er verheiratet ist oder Kinder hat, erwähnt Archetti nicht – auch nicht in der Negation. Er schildert ihn allein in seinen sozialen Interaktionen im öffentlichen Raum, d.h. dem Tango-Milieu.

Neben den Archetypen des romantic lover und des bacán arbeitet Archetti jedoch noch eine dritte wichtige männliche Figur innerhalb des Tango-Diskurses heraus, die, wie das nächste Zitat verdeutlichen soll, vor allem in seiner Körperlichkeit und seinem Überlegenheitsstreben auf ‚den Macho‘ nach Stevens verweist. Der compadrito repräsentiert den Typus des ‚eleganten Verführers‘ (im Gegensatz zu dem hauptsächlich als reich dargestellten bacán). Archetti beschreibt ihn als jemanden

whom no woman is able to resist, and is admired because of his courage, physical strength, and capacity to cheat where necessary. [He] has a defiant and hostile attitude toward other men. In the code of honor defended by the compadrito, violence and fighting establish and reproduce social hierarchies. […] He is very concerned with women’s loyalty but in a context where men expect obedience and submission from their women. He is a character from the outskirts, not the center, of the city. […] In this context male honor is very dependent on female sexual behavior. In some cases the betrayal by the women is punished by death, but in most, the woman is described as weak, unable to resist temptation. The ‚other man‘ takes advantage of her moral fragility, and, consequently, is punished.239

Seine soziale Stellung erreiche und verteidige der compadrito mittels Gewalt. Interaktionen mit anderen Männern seien von Feindseligkeit und Konkurrenzkampf geprägt. Durch Mut, körperliche Stärke und, wenn nötig Betrug, verschaffe er sich Respekt innerhalb homosozialer Kontexte. Seine männliche Ehre sei von der Treue seiner Geliebten abhängig. Das heißt im Umkehrschluss, er fordert ihre Treue als Beweis seiner Männlichkeit ein – in der romantischen Liebe beruhte diese, wie bereits erläutert, auf der freien Selbstbestimmung der Frau. Der compadrito hingegen ahnde den Betrug, sofern seine Geliebte es überhaupt wagt, ihn zu betrügen, mit körperlicher Bestrafung, die auch den Tod der Frau bedeuten könne. Außerdem räche er sich an dem Konkurrenten, der die weibliche Schwäche ausgenutzt und die Ehre des compadrito verletzt hat. Dass Frauen dieser Art von Männlichkeit nicht nur machtlos gegenüberstehen, sondern ihr auch nicht widerstehen können, wird im Tango-Diskurs auf ihren schwachen Charakter zurückgeführt. Hauptmerkmale dieser spezifischen Weiblichkeit seien Abhängigkeit von der brutalen Männlichkeit des compadrito sowie Verschlagenheit.

Allerdings befinde sich der compadrito in vielen Tango-Texten in der Krise. Als Ausdruck dieser Krisenhaftigkeit führt Archetti die Tatsache an, dass der compadrito seine verletzte Ehre in einigen Fällen nicht mehr durch Tötung der untreuen Geliebten wiederherzustellen, sondern den Ehrverlust tränenreich betrauere und die Frau zu vergessen versuche:

Many tangos between 1917 and 1930 present the figure of the compadrito in a deep identity crisis. In ‚La he visto con otro‘ (I have seen her with another man) the betrayed man will not kill her: while crying, he will try to forget her.240

In anderen Narrativen erfahre der betrogene compadrito vermittels der ‚transformativen Kraft der Liebe‘ Läuterung. Anstatt sein Leben durch die kontinuierliche Konkurrenz und körperliche Auseinandersetzung mit anderen Männern aufs Spiel zu setzen, nehme er den potentiellen Ehrverlust hin.241 Das heißt, der Betrug kann für den compadrito nicht nur bedeuten, durch die Rache an seinem Konkurrenten das eigene Leben riskieren zu müssen, sondern er kann die Ehrverletzung gleichsam als Katharsis nutzen.

 

Die letzte archetypische heterosoziale Konstellation, die Archetti anführt, ist die von Mutter und Sohn. Dabei werde, so Archetti, der männliche Protagonist der Tango-Narrative niemals als Vater, sondern immer als Sohn dargestellt. Das Bild der idealisierten Mutter werde mit Begriffen wie „purity, suffering, sincerity, generosity, and fidelity“ assoziiert: „The idealized mother is the source of boundless love and absolute self-sacrifice.“242 Reinheit, Leiden und Selbstaufopferung spielen wieder deutlich auf das weibliche Idealbild im Marianismo an, während Aufrichtigkeit, Großzügigkeit, Fröhlichkeit und grenzenlose Liebe eher auf charakterliche Aspekte und Verhaltensweisen deuten, die mit der spezifischen Weiblichkeit der unabhängigen Geliebten korrespondieren.

Zwei Weiblichkeiten schlössen sich in Archettis Analyse jedoch aus. So besitze die klassische Mutterfigur zwar durchaus Charakteristika der unabhängigen Geliebten, mit der spezifischen Weiblichkeit der Tänzerin sowie dem freiheitlichen Ideal einer romantischen Liebe sei sie jedoch komplett inkompatibel. Archetti argumentiert, dass aus einer freiheitsliebenden Tänzerin (und einer unabhängigen Geliebten) keine aufopferungsvolle Mutter werden könne und vice versa:

The milonguita cannot be transformed into a ‚mother‘, and, conversely, the ‚mother’s‘ world excludes the nightlife of the public sphere. In other words, a milonguita will never be a wife, or a mother of many children. Hence, for the chaste mother, romantic love is impossible, just as motherhood is impossible for the milonguita.243

Die Inkompatibilität dieser Weiblichkeiten ist nicht zuletzt an die spezifischen Räumlichkeiten gebunden, welche die jeweiligen Figuren besetzen: die Mutter das Haus als private Enklave, die Tänzerin die Cabarets im öffentlichen Raum.244 Während Muttersein an den häuslichen Raum gebunden ist und heteronormativen Zwängen unterliegt, verkörpert die Tänzerin Werte wie absolute Freiheit und Selbstbestimmtheit, die sie nur in der Öffentlichkeit ausleben kann.245

Nach diesem Überblick über den theoretischen Grundstock dieser Arbeit, beginnt mit dem folgenden Kapitel die Textarbeit an ausgewählten Romanen und einer Kurzgeschichte Onettis. Doch zunächst einmal soll über die Analyse der diskursiven Darstellung Santa Marías das Untersuchungskorpus eingehend vorgestellt werden.

3 Die Vermessung der (Onetti’schen) Welt: Die diskursive Ausgestaltung Santa Marías innerhalb des Analysekorpus

El profesor preguntó si el nombre de Santamaría

me era conocido. Le dije que toda América del Sur

del Centro estaba salpicada de ciudades

o pueblos que llevaban ese nombre.

-Ya lo sé. Pero nuestra Santamaría es cosa distinta.246

Juan Carlos Onetti (1993)

Mit La vida breve (1950) entsteht auch Santa María als einer der prägendsten imaginären Orte der lateinamerikanischen Literatur. Denn, wenngleich dieses scheinbar so vertraute und gleichzeitig so schwer greifbare fiktive Territorium stets mit den weitaus berühmter gewordenen Topographien Comala von Juan Rulfo oder Gabriel García Márquez’ weltbekanntem Macondo verglichen wird, so gerät dabei oftmals eines in Vergessenheit: Am Beginn dieser modernen literarischen Entwicklung Lateinamerikas, einen spezifischen Ort ins Zentrum einer oder mehrerer Erzählungen zu stellen, steht Santa María. Der Roman, in dem Juan María Brausen Santa María erstmals imaginierte, erschien 1950, von Comala erfuhren die Leser*innen 1955, von Macondo 1967.

Santa María geht auf eine Drehbuchidee der Romanfigur Juan María Brausen in La vida breve (1950) zurück. Die Handlung dieses Drehbuchs situiert Brausen ebendort. Da dieses Drehbuch in der Fiktion jedoch nie über den Status des ‚Gedachtwerdens‘ hinausgeht, d.h. von der fiktiven Autorfigur Brausen niemals aufgeschrieben, geschweige denn verfilmt wird, gilt Santa María – zumindest als Drehort im Roman – als gescheitert:

Yo ya había aceptado la muerte del argumento de cine, me burlaba de la posibilidad de conseguir dinero escribiéndolo; estaba seguro de que las vicisitudes que había proyectado con precisión y frialdad para Elena Sala, Díaz Grey y el marido no se cumplirían nunca. (VB 533)

Als – von dem realen Autor Onetti zu Papier gebrachter – literarischer Diskursraum verbindet Santa María jedoch fast alle Texte, die Onetti nach La vida breve (1950) verfasst hat. La vida breve (1950) wird damit zum Gründungstext innerhalb des Gesamtwerks. Wie in der Einleitung bereits dargestellt, widmet sich vorliegende Arbeit insbesondere den Santa-Maria-Texten Onettis, die das Verhältnis von künstlerischer Produktion und biologischer Reproduktion abbilden. In editionschronologischer Reihenfolge sind dies: La vida breve (1950), Juntacadáveres (1964), „La novia robada“ (1968), La muerte y la niña (1973) sowie Dejemos hablar al viento (1979). Die fünf ausgewählten Erzählungen sind damit nicht nur durch Santa María als Diskursraum verbunden, sondern auch durch einen thematischen Schwerpunkt: Sie verhandeln allesamt Elternschaft und Reproduktion als dysfunktionale Systeme.247 Dieser Dysfunktionalität steht die Darstellung künstlerische Produktion als herausgehobener Selbstzweck entgegen, wie im vierten Kapitel anhand männlicher Erzähler und männlich konnotierter Erzählkunst herausgearbeitet werden soll. Inwieweit die Problematisierung von Elternschaft als Strategie weiblicher Selbstermächtigung gelesen werden kann, soll im fünften Kapitel untersucht werden. In diesem Kapitel soll jedoch zunächst einmal Santa María vermessen werden, einerseits als alle Erzählungen umspannender Diskursraum, andererseits aber auch als Stadtraum, dessen räumliche Ausgestaltung wiederum in Wechselwirkung zur Darstellung genderabhängiger Machtverhältnisse innerhalb der Texte tritt. Gleichzeitig stellt dieses Kapitel einen inhaltlichen Überblick über die einzelnen untersuchten Texte sowie deren Verknüpfung innerhalb des Analysekorpus dar.

Im Sinne einer narrativen Rahmung können die beiden Romane La vida breve (1950) und Dejemos hablar al viento (1979) als Anfang und Endes eines möglichen Lebenszyklus‘ namens Santa Marías gelesen werden.248 So schildert La vida breve (1950) die Erfindung Santa Marías sowie dessen metafiktionale Verortung im Gesamtwerk. Dejemos hablar al viento (1979) deutet im letzten Kapitel die physische Zerstörung Santa Marías an und wird gemeinhin als Replik auf alle vorangegangenen Romane, insbesondere La vida breve (1950), interpretiert.249 Die Handlungen von Juntacadáveres (1964), „La novia robada“ (1968) und La muerte y la niña (1973) schreiben sich jeweils intratextuell in diesen Zyklus ein.

Monographisch gelesen entwickelt sich das anfänglich als Drehort ersonnene Santa María in nachfolgenden Romanen zu einem eigenen metafiktiven Diskursuniversum, das, wie in Kapitel 4.1 zu zeigen sein wird, in unterschiedlich starker Ausprägung von seinem fiktiven Schöpfer Brausen dominiert wird. Topographisch entzieht sich Santa María dabei jedoch jedweder Eindeutigkeit. Eva Erdmann veranschaulicht dies an folgenden Beispielen:

Santa María ist kaum ein topographisch fassbarer Ort, da er aus der Beziehung, Nähe oder Ferne zu anderen Orten beschrieben wird. Er ist von Buenos Aires mit dem Zug erreichbar, dagegen liegt er unerreichbar zu ‚Esbjerg, en la costa’, dann ist die Strecke ein anderes Mal wieder auf einem Fußweg von der ‚Colonia Suiza’ aus zu bewältigen […].250

Buchstäblich zum Scheitern verurteilt ist so der Versuch, eine Karte zu zeichnen, welche die wiederkehrenden Orte innerhalb Santa Marías (Kirche, diverse Hotels und Bordelle) und auch dessen Außentopographie (in Bezug auf Buenos Aires, Montevideo oder in späteren Werken Monte, Enduro oder Rosario sowie die Werft oder die Schweizer Kolonie) konzise abzubilden vermag.251 Gleichwohl lässt sich mithilfe strukturalistischer Kriterien die diskursive Darstellung Santa Marías in den verschiedenen Texten nachzeichnen, die, so die These, im Laufe des Gesamtwerks veränderlich ist. Dieses Kapitel soll daher zunächst anhand der diskursiven Darstellung Santa Marías die (stadt-)räumlichen Strukturen, Konfliktfelder und gesellschaftlichen Diskurse beleuchten, innerhalb derer sich die Problematiken dysfunktionaler Elternschaft und Reproduktion bei Onetti verorten lassen. Die folgende Analyse soll somit zeigen, dass Santa María in Onettis Texten nicht als starre räumliche Kulisse konstituiert ist, sondern vielmehr eine veränderliche, mitunter kontingente Raumfigur darstellt, über welche die einzelnen Texte miteinander verbunden sind und vermittels derer gesellschaftliche Diskurse abgebildet werden. Für die entsprechende Analyse der Darstellung Santa Marías in diesem Kapitel werden Andreas Mahlers Kriterien zur Untersuchung von „Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“252 herangezogen.

„Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“ nach Andreas Mahler

In seinem Aufsatz „Stadttexte – Textstädte“ (1999) verwendet Mahler den Begriff Stadttext als Kategorie des Ausdrucks, als „Kette der Signifikanten“, den Begriff „‘Textstadt‘ als dazugehörige Seite des Inhalts, […] als […] die Seite des Signifikats.“ Um einen Stadttext und die dazugehörige Textstadt handelt es sich dann, wenn eine „thematische Gebundenheit“ an den Untersuchungsgegenstand Stadt klar erkennbar ist. Die sanmarianischen Texte Onettis fallen klar in diese Kategorie, insofern Santa María darin nicht allein als Hintergrund oder Schauplatz dient, sondern „unkürzbarer Bestandteil des Textes“ ist.253 Mahlers Systematisierung zielt darauf, erstens „die Formen diskursiver Stadtkonstitution“, zweitens „die Gründe für die Produktion von Textstädten“ und drittens deren Funktion zu analysieren.254

Die diskursive Darstellung einer Textstadt erfolgte laut Mahler über unterschiedliche Konstitutionstechniken. Möglich sei dabei entweder eine direkte Referentialisierung, d.h. ein denominativer Verweis auf außerliterarisch verortbare Städte oder Stadtteile, oder eine indirekte Referentialisierung bzw. semantische Stadtkonstitution. 255 Letzteres sei der Fall, wenn eine Textstadt über bestimmte semantische Verweise, d.h. über die Bildung von Isotopien als städtisches Diskursuniversum erkennbar werde. Dabei sei zwischen Konstitutions- und Spezifikationsisotopien zu unterscheiden. Während sich Konstitutionsisotopien aus einzelnen Semantiken zusammensetzten, die den Begriff Stadt konstituieren, fächere die Verwendung spezifischer Semantiken den Begriff Stadt weiter auf bzw. verleihe ihm eine spezifische Qualität.256 So etwa die namenlose Stadt in Para esta noche (1943): Die dichte Beschreibung der Geschehnisse einer einzigen Nacht sind dort in einer Stadt verortet, deren isotope Beschreibung einen urbanen Kriegsschauplatz evoziert, wie er im 20. Jahrhundert in vielen westlichen Städten zu finden war.257

Bezüglich der Perspektive, aus der heraus die Stadt im Text artikuliert wird, unterscheidet Mahler zwischen interner (mit Bindung an eine Figur) und externer Fokalisierung (ohne Bindung an eine Figur) der Wahrnehmungsinstanz. Darüber hinaus zeige die Distanz zwischen dem beschriebenen Objekt und der Wahrnehmungsinstanz (etwa Vogel- oder Froschperspektive) die „Lokalisierung des wahrnehmenden Subjekts“258 an. Die „Mobilität der Wahrnehmungsinstanz“259 zeige sich hingegen in der Statik respektive Dynamik einer Perspektive. Ein dritter Aspekt der Modalisierung sei der „Grad [der] mentalen Synthesefähigkeit“260, d.h. handelt es sich um eine unkommentierte oder eine kommentierte Darstellung. Je nach Ausschlag der einzelnen Modalisierungstechniken unterscheidet Mahler zwischen einem „verfügungsmächtige[n] panoramatische[n] Blick auf die Stadt oder eine[r] zunehmend eingeschränkte[n], subjektgebundene[n] Stadtsicht“.261

In einem nächsten Schritt erläutert Mahler textinterne und textexterne Funktionen diskursiver Stadtgestaltung. Erstere diene dazu, eine Erzählung und die zugehörigen Figuren an einem bestimmten Ort zu situieren. Für die Besonderheit der Verortung in einem urbanen Szenario schlägt Mahler eine Skalierung der beschriebenen konstitutiven und modalisierenden Kriterien vor. Konkret differenziert er „den Grad der Universalität der Konstitutionsisotopie“, d.h. ruft ein Text semantisch eine ganze Stadt auf, handelt es sich um einen „globale[n] Typ“. Adressiert er eher Teilelemente davon, spricht Mahler von einem „partiale[n] Typ“. Der partiale Typ könne weiter hinsichtlich seiner Lage und seiner Reichweite systematisiert werden. So sei zu untersuchen, inwiefern der Text eine Stadt nur über ein bestimmtes Viertel, das Zentrum oder das Industriegebiet abbildet und wie groß der dargestellte Ausschnitt ist, d.h. handelt es sich bei dem Ausschnitt um den gesamten Stadtraum oder etwa nur um eine einzelne Wohnung innerhalb eines Stadtraums? Weiter ausdifferenziert werde die Einteilung in global oder partial darüber, ob eher direkte Referenzen, wie etwa der Stadtname oder die Namen einzelner Stadtteile, als bekannt voraussetzbarer Monumente oder Sehenswürdigkeiten abgerufen, oder ob auf diese Prototypik eher verzichtet werde.262 Hinsichtlich der Modalisierungsstrategien lasse ein panoramatischer, verfügungsmächtiger Blick auf einen globalen Typus schließen, eine eingeschränkte Wahrnehmungsperspektive eher auf einen partialen. Mahler leitet daraus ab, dass, „[j]e stärker konturiert die Konstitutionsisotopie, je präziser die Referenzen, desto geringer enthebbar [ist] die Stadt.“263 Analog dazu konstatiert er: „Je weniger prototypisch die Nennungen, je enger der Fokus, desto subjektiver, idiosynkratischer wird [die Stadt] sein.“264 Bezüglich ihrer semantischen Darstellung sei zwischen „homolog[…]“ und „widerständig[…]“ zu unterscheiden, d.h. stehen die verwendeten Spezifikationsisotopien im Einklang oder im Widerspruch zueinander? Je nachdem vermittelten sie ein geschlossenes oder ein ambivalentes Abbild.265

 

Die textexternen Funktionen diskursiver Stadtdarstellung gäben indes Aufschluss darüber, inwieweit bestimmte Themen, Motive und Diskurse die Darstellung einer Stadt im Text prägen oder gar überlagern. Die künstlerische Vermittlungsebene wird dabei als gegeben vorausgesetzt, d.h. eine Textstadt ist per se ein medial vermitteltes Konstrukt. Je nachdem in welchem Umfang eine Textstadt in der außerliterarischen Welt referentialisierbar ist, spricht Mahler von „Städte[n] des Realen“, Imaginären oder Allegorischen.266 Die Klassifizierung richte sich dabei nach der Ausprägung der jeweils verwendeten Konstitutionstechniken. „Städte des Realen“ wiesen sich durch einen hohen Referentialisierungsgrad aus, „Städte des Imaginären“ bestünden vornehmlich aus Konstitutionsisotopien und in „Städte[n] des Allegorischen“ überwögen die Spezifikationsisotopie. Letztgenannte begönnen „alles Städtische zu funktionalisieren […] zugunsten eines anderen Themas.“267

In der folgenden Analyse soll dementsprechend herausgearbeitet werden, welche textexterne Funktion Santa Marías in den einzelnen Text im Vordergrund steht bzw. wie sich die verschiedenen Darstellungen überlagern: Verhandelt Onetti Reproduktion und Elternschaft als dysfunktionale Systeme vor dem Hintergrund einer typisch lateinamerikanischen Provinzstadt oder werden bereits durch die unterschiedlichen diskursiven Darstellungen Santa Marías bestimmte Konflikte oder Themenfelder bezüglich Reproduktion und Elternschaft sichtbar? Auf diese Fragestellung hin sollen in diesem Kapitel die ausgewählten Texte in editionschronologischer Reihenfolge – die nicht zwingend eine erzählte Chronologie bedingt! – inhaltlich skizziert und in Bezug auf das Stadtmotiv untersucht werden.

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