Heimatlos (mit Illustrationen)

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Am Silser See

Das Stineli kam vor Freude die ganze Woche durch gar nicht mehr ins Gleichgewicht, ja, es schien ihm so, als habe diese Woche zehn Tage mehr als jede andere, denn es wollte gar nicht Sonntag werden.

Als er aber endlich kam und eine goldene Sonne über die Herbsthöhen leuchtete und es mit dem Rico oben bis zu den Tannen stieg und der glitzernde See vor ihnen lag, da kam eine solche Freude über das Stineli, daß es rings im Moos herumhüpfen und jauchzen mußte. Dann setzte es sich auf den äußersten Rand am Abhang, damit es alles sehen konnte, die sonnigen Höhen und den See und weit hinüber den blauen Himmel.


Nun rief es: »Komm, Rico, hier wollen wir singen, lang, lang!«

Da setzte sich der Rico neben das Stineli und machte seine Geige zurecht, denn die war mitgekommen.

Nun fing er an, und die Kinder sangen:

»Ihr Schäflein hinunter

Von sonniger Höh' –«

alle Verse durch, aber Stineli hatte noch lange nicht genug.

Und nun fingen sie wieder von vorne an und sangen ihr Lied hintereinander durch und hatten eine große Freude daran, und wenn sie es fertiggesungen hatten, so fingen sie noch einmal an und dann noch einmal und sangen das Lied wohl zehnmal durch, und je mehr sie sangen, desto besser gefiel es ihnen.

Vor lauter Gesang hörten sie auch gar nichts von der Betglocke, und erst als es zu dunkeln anfing, merkten sie, daß es Zeit war, heimzugehen. Schon von fern sahen sie die Großmutter, wie sie ängstlich umherschaute.

Diesmal freilich war Stineli zu sehr im Feuer, um von einer Besorgnis gedämpft zu werden. Es rannte auf die Großmutter zu und rief: »Du wirst es nicht glauben, Großmutter, wie gut der Rico geigen kann, und wir haben jetzt ein eigenes Lied, nur für uns. Wir wollen dir's gleich vorsingen.«

Und eh die Großmutter nur ein Wort sagen konnte, sangen sie schon mit heller Stimme zu der Geige ihr ganzes Lied durch, und die Großmutter hörte die frischen Stimmen gerne. Sie hatte sich auf das Holz gesetzt, und als die Kinder nun zu Ende waren, sagte sie: »Komm, Rico, jetzt mußt du mir auch noch ein Lied spielen, und wir wollen es miteinander singen. Kennst du das Lied ›Ich singe dir mit Herz und Mund‹?«

Nun fingen sie an, und vor jedem Vers sagte die Großmutter den Kindern die Worte, und so sangen sie alle fröhlich miteinander.

»So«, sagte die Großmutter zufrieden, »das war ein rechter Abendsegen, jetzt könnt ihr in Frieden zur Ruhe gehen, Kinder.«

Ein rätselhaftes Ereignis

Als Rico später als sonst in das Häuschen eintrat, denn über dem Gesang war wohl noch eine halbe Stunde vergangen, schoß ihm die Base entgegen.

»Fängst du jetzt so an?« rief sie. »Das Essen stand eine Stunde lang auf dem Tisch, jetzt ist's fort. Geh nur gleich in deine Kammer, und wenn du ein ganzer Vagabund und Lump wirst, so bin ich nicht schuld. Ich wollte lieber ich weiß nicht was tun, als einen Buben hüten, wie du einer bist.«

Rico hatte nie ein einziges Wörtlein geantwortet, wenn die Base ihn schmähte, aber an dem Abend schaute er sie an und sagte: »Ich kann Euch schon aus dem Weg gehen, Base.«

Sie schob den Riegel an der Haustür vor, daß es klatschte, dann fuhr sie in die Stube hinein und schlug die Tür hinter sich zu. Rico ging in seine dunkle Kammer hinauf. Am folgenden Tage, als drüben die ganze große Familie, Eltern, Großmutter und alle Kinder beim Abendessen saßen, kam die Base herübergelaufen und rief in die Stube hinein, ob sie etwas vom Rico wüßten, sie wisse nicht, wo er sei.

»Der wird schon kommen, wenn's ans Abendessen geht«, antwortete der Vater geruhlich.

Nun kam aber die Base ganz in die Stube hinein, denn sie hatte gedacht, sie brauche den Buben nur herauszurufen, er werde wohl da sein. Nun erzählte sie, er sei schon zum Morgenessen nicht gekommen und zum Mittagessen nicht, und im Bett sei er auch nicht gewesen, das sei noch wie gestern abend. Sie glaube fast, der sei schon am frühesten Morgen vor Tag auf seine Lumpereien ausgegangen, denn der Riegel sei inwendig von der Haustür weggeschoben gewesen, als sie auftun wollte. Sie habe aber zuerst gedacht, sie habe vor Ärger vergessen, ihn zuzustoßen, denn es wisse kein Mensch, was sie für Ärger habe.

»Dem hat's etwas gegeben«, sagte der Vater unentwegt. »Er wird vielleicht in eine Spalte am Berg oben hineingefallen sein. Das gibt es manchmal bei so schmalen Buben, die überall herumklettern. Ihr hättet es ein wenig früher sagen sollen«, fuhr er langsam fort, »man wird ihn suchen müssen, und des Nachts sieht man nichts.«

»Es glaubt es kein Mensch« – rief sie aus und sagte damit eine große Wahrheit – »was für ein heimtückischer, hinterlistiger, verstockter Bub der ist und wie er mir das Leben seit vier Jahren schwergemacht hat. Ein Vagabund wird er, ein Landstreicher und schädlicher Lump!«

Die Großmutter hatte schon lange zu essen aufgehört. Sie war vom Tisch aufgestanden und vor die Base hingetreten, die immer noch lärmte.

»Hört auf, Nachbarin, hört auf!« hatte die Großmutter zweimal gesagt, bevor die andere nachgab. »Ich kenne den Rico auch. Seit man das Büblein seiner Großmutter brachte, habe ich es immer gekannt. Wenn ich aber an Eurer Stelle wäre, so würde ich kein Wörtlein mehr sagen, aber ein wenig nachdenken, ob das Büblein, dem ein Unglück begegnet sein kann und das vielleicht schon da droben vor dem lieben Gott steht, ob es da niemanden anzuklagen hat, der in seiner Verlassenheit noch schweres Unrecht mit bösen Worten an ihm getan hat.«

Der Base war es schon ein paarmal eingefallen, wie sie Rico am Abend angeschaut und gesagt hatte: »Ich kann Euch schon aus dem Weg gehen.« Sie hatte auch nur so furchtbar getobt, um diese Gedanken zu übertönen. Sie durfte die Großmutter nicht ansehen und sagte, sie müsse gehen, vielleicht sei der Rico nun doch heimgekommen, was sie jetzt gern genug gesehen hätte.

Von dem Tage an sagte die Base nie mehr vor der Großmutter ein Wort gegen den Rico, freilich auch sonst nicht mehr viele. Sie glaubte, wie alle anderen Leute auch, er sei tot, und war froh, daß niemand wußte, was er am letzten Abend zu ihr gesagt hatte.

Ein wenig Licht

Aber Stineli wurde stiller und von Tag zu Tag magerer. Die kleinen Kinder schrien: »Das Stineli will nichts erzählen und lacht nicht mehr.« Die Mutter sagte zum Vater: »Siehst du's denn nicht? Es ist ja nicht mehr das gleiche.« Und der Vater sagte: »Das kommt vom Wachsen, man muß ihm am Morgen im Stall ein wenig Geißmilch geben.«

Doch als drei Wochen so vergangen waren, da nahm die Großmutter eines Abends das Stineli in ihre Kammer hinauf und sagte: »Sieh, Stineli, ich kann es wohl begreifen, daß du den Rico nicht vergessen kannst, aber du mußt doch denken, daß der liebe Gott ihn weggenommen hat, und wenn es so sein mußte, so war es gut für den Rico, das werden wir noch einmal sehen.«

Da fing das Stineli so zu weinen an, wie es die Großmutter nie an ihm erlebt hatte, und es schluchzte überlaut: »Der liebe Gott hat es ja nicht getan, ich habe es getan, Großmutter. Deshalb muß ich vor Angst ja fast sterben, denn ich habe den Rico angestiftet, an den See hinabzugehen. Nun ist er in die Rüfenen hineingefallen und ist tot, und es hat ihm noch so weh getan, und ich bin an allem schuld.« Und Stineli schluchzte zum Erbarmen.

Der Großmutter war eine schwere Last vom Herzen gefallen. Sie hatte den Rico verloren gegeben, und heimlich hatte sie der quälende Gedanke verfolgt, das arme Büblein sei der bösen Behandlung entlaufen und liege vielleicht drüben im Wasser oder sei im Walde zugrunde gegangen. Jetzt stieg auf einmal eine neue Hoffnung in ihr auf.

Sie beruhigte Stineli so weit, daß es ihr die ganze Geschichte von dem See erzählen konnte, von der sie gar nichts wußte. Daß der Rico immer von dem See gesprochen und es ihn dahin gezogen hatte und wie Stineli den Weg fand. Es war ganz sicher, daß Rico sich dahin auf den Weg gemacht hatte, aber des Vaters Worte von den Rüfenen hatten das Stineli um alle Hoffnung gebracht.

Die Großmutter nahm das Kind bei der Hand und zog es zu sich heran. »Komm, Stineli«, sagte sie liebreich, »ich muß dir nun etwas erklären. Weißt du, wie's in dem alten Liede heißt, das wir noch am letzten Abend mit dem Rico gesungen haben?

›Denn was Er tut und läßt geschehn,

Das nimmt ein gutes End.‹

Siehst du, wenn nun auch der liebe Gott es nicht selbst getan hat, so war doch die Sache in seiner Hand, als du etwas Verkehrtes tatest, denn einem solchen kleinen Stineli wäre er schon noch Meister geworden. Und daß du etwas recht Verkehrtes getan hast, wirst du jetzt für dein Lebtag wissen, und was da herauskommen kann, wenn Kinder in die Welt hinauslaufen und Sachen unternehmen wollen, die sie gar nicht kennen, und niemanden ein Wort davon sagen, nicht den Eltern und nicht der Großmutter, die es gut mit ihnen meinen. Aber nun hat das der liebe Gott so gemacht, und nun dürfen wir bestimmt hoffen, daß alles noch ein gutes Ende nehmen kann.

Jetzt denk daran, Stineli, und vergiß nie mehr, was du da erfahren hast. Weil es dir aber recht von Herzen leid tut, so darfst du jetzt auch gehen und den lieben Gott bitten, daß er doch noch etwas Gutes aus dem verkehrten Zeug mache, das ihr da angestellt habt, du und der Rico. Dann darfst du auch wieder fröhlich sein, Stineli, und ich bin es mit dir, denn ich glaube zuversichtlich, daß der Rico noch am Leben ist und daß ihn der liebe Gott nicht verläßt.«

 

Von dem Tage an wurde Stineli wieder munter, und wenn ihm auch der Rico auf jedem Schritt fehlte, so hatte es doch keine Angst und keine Vorwürfe mehr im Herzen. Tag für Tag schaute es nach der Straße hinüber, ob nicht vielleicht der Rico dort vom Maloja herunterkäme. So ging die Zeit dahin, aber vom Rico hörte man nichts mehr.

Eine lange Reise

Rico hatte sich an jenem Sonntagabend in seiner dunklen Kammer auf seinen Stuhl gesetzt. Da wollte er bleiben, bis die Base zu Bett gegangen war.

Nachdem Stineli die Entdeckung gemacht hatte, wie die Reise nach dem See auszuführen wäre, kam Rico die Sache so leicht vor, daß er sich nur noch überlegen wollte, wann er am besten gehen könne. Er hatte ein Gefühl, daß die Base ihn vielleicht zurückhalten würde, wenn er auch wußte, daß er ihr nicht stark fehlen werde.

Als sie dann beim Heimkommen so auf ihn losschalt, dachte er: »So will ich gleich gehen, wenn sie im Bett ist.«

Als er nun so im Dunkeln auf seinem Stuhl saß, dachte er nach, wie schön es sein würde, wenn er nun viele Tage lang die Base nie mehr werde schelten hören, und welch große Büschel von den roten Blumen er dem Stineli mitbringen wolle, wenn er zurückkomme. Und dann sah er die sonnigen Ufer und die violetten Berge vor sich und war eingeschlafen.

Er war aber nicht in einer sehr bequemen Lage, denn die Geige hatte er nicht aus der Hand gelegt, daher erwachte er nach einiger Zeit wieder, es war aber noch ganz dunkel. Nun fiel ihm aber gleich alles ein. Er war noch in seinem Sonntagsanzug, das war gut. Seine Kappe hatte er noch von gestern her auf dem Kopf, die Geige nahm er unter den Arm, und so ging er leise die Treppe hinunter, schob den Riegel weg und zog in die kühle Morgenluft hinaus. Über den Bergen fing es schon leise an zu tagen und in Sils krähten die Hähne. Er ging tüchtig drauflos, damit er von den Häusern weg und auf die große Straße komme. Nun war er da und wanderte vergnügt weiter, denn da war ihm alles so wohlbekannt, er war oft mit dem Vater da hinaufgegangen. Wie lang es aber dauerte, bis man auf den Maloja gelangte, wußte er nicht mehr so genau, und es kam ihm lange vor, als er schon mehr als zwei gute Stunden gewandert war.

Nun kam nach und nach der helle Tag, und als er nach noch einer guten Stunde auf dem Platze vor dem Wirtshaus oben am Maloja angekommen war, da, wo er oft mit dem Vater die Straße hinuntergeschaut hatte, da lag ein sonniger Morgen über den Bergen, und die Tannenwipfel waren alle wie von Gold. Rico setzte sich an den Rand der Straße nieder, er war schon recht müde, und nun merkte er auch, daß er seit dem vorhergehenden Mittag nichts mehr gegessen hatte. Aber er war nicht verzagt, denn nun ging es bergab, und danach konnte plötzlich der See kommen. Wie er so dasaß, kam der große Postwagen herangerasselt. Den hatte er schon oft gesehen, wenn er bei Sils vorbeifuhr, und immer dabei gedacht, das höchste Glück auf Erden hätte ein Kutscher, der immerfort mit einer Peitsche auf einem Bock sitzen und fünf Rosse regieren könnte. Nun sah er einmal den Glücklichen in der Nähe, denn der Postwagen hielt an. Rico wandte nun kein Auge von dem merkwürdigen Mann, der von seinem hohen Sitz herunterkam, ins Wirtshaus eintrat und mit riesigen Stücken Schwarzbrot, über welchen ein großer Käse lag, wieder aus dem Hause trat.

Nun zog der Kutscher ein festes Messer hervor und zerteilte sein Brot, und einem Pferd nach dem anderen steckte er einen guten Bissen ins Maul. Zwischendurch kam er selbst an die Reihe, auf sein Stück Brot kam immer ein großes Stück Käse. Wie sie nun alle zusammen so vergnügt aßen, schaute der Kutscher sich ein wenig um, und mit einem Male rief er: »He, kleiner Musikant, willst du auch mithalten? Komm her!«

Erst seit Rico das Essen vor sich gesehen, hatte er gemerkt, wie sehr er Hunger hatte. Er folgte gern der Einladung und trat zu dem Kutscher heran. Der schnitt ihm ein herrlich großes Stück Käse ab und legte dieses auf ein viel dickeres Stück Brot, so daß Rico kaum wußte, wie er die Dinge bewältigen solle.

Er mußte seine Geige ein wenig auf den Boden legen. Der Kutscher schaute freundlich zu, wie Rico in sein Frühstück biß, und während er selbst sein Geschäft fortsetzte, sagte er:

»Du bist noch ein kleiner Geiger, kannst du denn auch etwas?«

»Ja, zwei Lieder, und dann noch das vom Vater«, antwortete Rico.

»So, und wo willst du denn auf deinen zwei kleinen Beinen hin?« fuhr der Kutscher fort.

»Nach Peschiera am Gardasee«, war Ricos ernsthafte Antwort.

Jetzt entfuhr dem Kutscher ein so kräftiges Gelächter, daß Rico erstaunt zu ihm aufsah.

»Du bist ein guter Fuhrwerker, du«, lachte der Kutscher noch einmal. »Weißt du denn nicht, wie weit das ist und daß ein schmales Musikäntlein, wie du eins bist, sich beide Füße mitsamt den Sohlen durchliefe, bevor es einen Tropfen Wasser vom Gardasee gesehen hätte? Wer schickt dich denn dort hinunter?«

»Ich gehe von selber«, sagte Rico.

»So etwas ist mir noch nicht vorgekommen«, lachte der Kutscher gutmütig. »Wo bist du daheim, Musikant?«

»Ich weiß es nicht recht, vielleicht am Gardasee«, erwiderte Rico völlig ernst.

»Ist das eine Antwort!« Jetzt schaute der Kutscher den Knaben vor sich genau an. Wie ein verlaufenes Bettelbüblein sah der Rico nicht aus. Der schwarze Lockenkopf über dem Sonntagsanzug sah recht stattlich aus, und das feine Gesichtchen mit den ernsthaften Augen trug einen edlen Stempel. Man schaute es gern noch einmal an, wenn man es gesehen hatte.

Dem Kutscher schien es auch so zu gehen, er schaute den Rico fest an und dann noch einmal richtig, dann sagte er freundlich: »Du trägst deinen Paß auf dem Gesicht mit, Büblein, und es ist kein schlechter, wenn du auch nicht weißt, wo du daheim bist. Was gibst du mir nun, wenn ich dich neben mich auf den Bock nehme und dich weit hinunterbringe?«

Rico staunte, als wäre es fast nicht möglich, daß dieser Mann diese Worte wirklich ausgesprochen habe. Auf dem hohen Postwagen ins Tal hinuntergefahren, ein solches Glück hätte er nie für sich für möglich gehalten. Aber was konnte er dem Kutscher geben?

»Ich habe nichts als eine Geige, und die kann ich Euch nicht geben«, sagte der Rico traurig nach einigem Überlegen.

»Ja, mit dem Kasten wüßte ich auch nichts anzufangen«, lachte der Kutscher. »Komm, nun sitzen wir auf, und du kannst mir ein wenig Musik machen.«

Rico traute seinen Ohren nicht, aber wahrhaftig! der Kutscher schob ihn über die Räder auf den hohen Sitz hinauf und kletterte nach. Die Reisenden waren wieder eingestiegen, der Wagen wurde zugeschlagen, und nun ging's die Straße hinunter, die bekannte Straße, die Rico sich so oft von oben her angeschaut und gewünscht hatte, da hinunterzukommen. Nun war die Erfüllung da und wie schön! Hoch oben zwischen Himmel und Erde flog der Rico dahin und konnte es noch immer fast nicht glauben, daß er es selber sei.

Der Kutscher wunderte sich nun doch ein wenig, wem denn das Büblein neben ihm gehören könnte.

»Sag mir einmal, du kleine fahrende Habe, wo ist denn dein Vater?« fragte er.

»Der ist tot«, antwortete Rico.

»So, und wo ist deine Mutter?«

»Die ist tot.«

»So, und dann hat man noch etwa einen Großvater und eine Großmutter, wo sind diese?«

»Die sind tot.«

»So, so, aber einen Bruder oder eine Schwester hast du ja sicher. Wo sind die hingekommen?«

»Sie sind tot«, war immer Ricos traurige Antwort.

Als nun der Kutscher sah, daß alles tot war, ließ er die Verwandtschaft in Ruhe und fragte nur: »Wie hieß dein Vater?«

»Enrico Trevillo von Peschiera am Gardasee«, erwiderte Rico.

Nun überlegte der Mann sich die Dinge ein wenig und dachte sich: Das ist ein verschlepptes Büblein von da unten herauf, und es ist gut, daß es wieder an seinen Ort kommt. Dann ließ er die Sache liegen.

Als nun nach der ersten steil abwärts gehenden Strecke der Bergstraße der Weg etwas ebener wurde, sagte der Kutscher: »So, Musikant, nun spiel einmal ein lustiges Liedlein auf.«

Da nahm Rico die Geige vor und war so fröhlich da oben auf seinem Thron, unter dem blauen Himmel hinfahrend, daß er mit der hellsten Stimme anfing und kräftig drauflossang:

»Ihr Schäflein hinunter

Von sonniger Höh' –«

Drinnen im Wagen machten die Reisenden alle Fenster auf und steckten die Köpfe heraus, um den frohen Gesang zu hören. Dann fing Rico von neuem an, und die Studenten sangen von neuem mit und teilten das Lied in Soli und Chöre. Da sang die Solostimme ganz feierlich:

»Und ein See ist wie ein andrer

Von Wasser gemacht.«

und dann wieder:

»Und tät' er nichts denken,

So tät' ihm nichts weh.«

und dazwischen fiel der Chor ein, und sie sangen mit aller Kraft:

»Und die Schäflein und die Schäflein –«

und danach wollten sie sich wieder totlachen und konnten eine ganze Weile vor Gelächter nicht weitersingen.

Aber nun hielt der Kutscher auf einmal still, denn es mußte haltgemacht und ein Mittagessen eingenommen werden. Als er Rico hinunterhob, hielt er ihm sorgfältig seine Kappe fest, denn da war all das Geld drin, das die Reisenden ihm zugeworfen hatten, und Rico hatte genug zu tun, seine Geige zu halten.

Der Kutscher war recht vergnügt, als er die Kappe in Ricos Hand zurückgab, und sagte: »So ist's recht, nun kannst du auch Mittag essen.«

Die Studenten sprangen hinunter, einer nach dem anderen, und alle wollten nun den Geiger sehen, denn sie hatten ihn von ihren Sitzen aus nicht richtig sehen können. Als sie nun das schmächtige Männlein sahen, da ging die Verwunderung und die Heiterkeit erst recht wieder los. Sie hätten der guten Stimme nach einen größeren Menschen erwartet, nun war der Spaß doppelt groß. Sie nahmen das Büblein in ihre Mitte und zogen mit Gesang ins Wirtshaus ein. Da mußte denn der Rico an dem schöngedeckten Tisch zwischen zwei der Herren sitzen, und sie sagten, er sei nun ihr Gast, und legten ihm alle drei miteinander jeder ein Stück auf den Teller, denn keiner wollte ihm weniger geben. Ein solches Mittagessen hatte Rico in seinem ganzen Leben noch nie eingenommen.

»Und von wem hast du dein schönes Lied, Geigerlein?« fragte nun einer von den dreien.

»Vom Stineli, es hat es selbst gemacht«, antwortete Rico ernst.

Die drei sahen sich an und brachen wieder in ein neues, schallendes Lachen aus.

»Das ist schön vom Stineli«, rief der eine, »nun wollen wir es gleich hochleben lassen.«

Rico mußte auch anstoßen und tat es fröhlich auf Stinelis Gesundheit.

Nun war die Zeit um, und als man wieder zum Wagen herantrat, kam ein dicker Mann auf Rico zu, der hatte einen so großen Stock in der Hand, daß man denken konnte, er habe einen jungen Baum ausgerissen. Er war in einen festen, gelbbraunen Stoff von oben bis unten gekleidet.

»Komm her, Kleiner«, sagte er, »du hast so schön gesungen. Ich habe dich hier drinnen im Wagen gehört, und ich habe es auch wie du mit den Schafen zu tun. Weißt du, ich bin ein Schafhändler, und weil du so schön von den Schafen singen kannst, sollst du von mir auch etwas haben.« Damit legte er ein schönes Stück Silbergeld in Ricos Hand, denn die Kappe war inzwischen geleert und alles in die Tasche gesteckt worden.

Dann stieg der Mann auf seinen Platz in den Wagen und Rico wurde vom Kutscher wie eine Feder hinaufgehoben, und dann ging's wieder davon.

Wenn der Wagen nicht zu rasch fuhr, wollten die Studenten immer gleich Musik haben, und Rico spielte alle Melodien, deren er sich nur noch vom Vater her erinnern konnte. Zuletzt spielte er noch: »Ich singe dir mit Herz und Mund.«

Bei dieser Melodie mußten die Studenten ganz sanft eingeschlafen sein, denn es war alles still geworden. Nun schwieg die Geige auch, und der Abendwind kam milde herangeweht, und leise stiegen die Sternlein am Himmel auf, eins nach dem andern, bis sie ringsum strahlten, wo Rico auch hinsah. Und er dachte an Stineli und die Großmutter, was sie nun tun würden, und es fiel ihm ein, daß um diese Zeit die Betglocke läutete und die beiden ihr Vaterunser beteten. Das wollte er auch tun. Es war dann so, als ob er bei ihnen wäre, und Rico faltete die Hände und betete unter dem leuchtenden Sternenhimmel andächtig sein Vaterunser.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?