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Die Hallig

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VII

 
Wie sich Licht und Schatten wende
Wechselnd in der Völker Loos,
Knechtschaft zieht die Freiheit groß,
Unrecht schlägt die eignen Hände.
 

Als Hold in seine Wohnung zurückkehrte, fand er Mander und Oswald dort vor. Sie waren gekommen, teils um zu danken für die bewiesene Fürsorge, teils um zu sehen, ob für ihren Aufenthalt auf der Hallig die Annehmlichkeit eines gebildeten Umgangs wenigstens in einer Familie ihnen nicht ganz fehlen würde. Ihre Erwartungen waren freilich geringe, und das Aeußere und Innere einer Wohnung, gegen welche das Haus des Gärtners auf ihrem ländlichen Ruhesitze bei Hamburg ein Palast war, diente nicht dazu, ihre Erwartungen höher zu spannen. Einfachheit und Beschränktheit schienen hier die genügsamen Schaffnerinnen gewesen zu sein. Reinlichkeit mußte den Glanz, Nettigkeit die Schönheit, gefällige Anordnung die Fülle ersetzen; und der Anzug der Pastorin wie ihrer Kleinen trug die Spuren der wirtschaftlichen Nadel, die den abgetragenen Stoff so lange als möglich benutzen lehrt und ihm immer neue, wenn auch kleidsame, doch wenig modische Formen verleiht. Uebrigens blühten Mutter und Tochter in der Fülle der Gesundheit: und der Eindruck, den das herzliche Willkommen der Pastorin auf die Fremden machte, wurde nicht allein durch die angenehmen Züge ihres Gesichtes und ihre gefällige Gestalt, sondern auch durch ihr ungezwungenes, einen frühereren Umgang in höheren Kreisen verratendes Wesen erhöht. Oswald ward dadurch ganz irre gemacht, da er nicht wenig darauf gerechnet hatte, durch gewandte Verdeckung der gewiß erwarteten Verstöße und durch freundliche Herablassung zu den beschränkten Vorstellungen und trivialen Lieblingsgesprächen einer Familie, deren Gesichtskreis, wie er voraussetzte, sehr eng sei, hier großes Lob zu ernten, nun aber bald merkte, daß es für ihn nur darauf ankomme, mit gleicher Leichtigkeit den rechten Umgangston für eine unter solchen eigentümlichen Umständen gemachte Bekanntschaft zu treffen. Auch Mander, der feingebildete Weltmann, der ein solches Benehmen zu beurteilen und zu schätzen wußte, fand sich davon nicht wenig überrascht bei der ebenfalls von ihm vorgefaßten Aussicht, auf unbeholfene Verlegenheit oder überlästige Höflichkeit zu stoßen. Nach den ersten Begrüßungen suchte er daher mit geschickter Wendung eine Gelegenheit zu der Frage an die Pastorin, ob sie sich in dieser ihrer Lage wohl glücklich fühlen könne?

„Das ist eine Gewissensfrage,“ erwiderte sie lächelnd. „Wir Frauen hängen einerseits mehr als die Männer von äußeren Eindrücken ab. Die Stätte, die uns groß gezogen, die Gespielinnen der Jugend, die Kreise des geselligen Lebens, in denen wir uns freuten mit den Fröhlichen und weinten mit den Weinenden, die Gewohnheiten, die Formen einer frühern Zeit bleiben treuer in unserm Gedächtnisse und behaupten länger ihren Einfluß auf unsere Neigungen, Wünsche und Hoffnungen, als es bei dem Manne der Fall sein wird, dem sein Beruf und sein Amt seine Welt ist, in die er sich mit allem seinen Denken, Wollen und Thun hineinversetzt, wodurch die Erinnerung an das Vergangene geschwächt und der Traum von den zukünftigen Tagen weniger lebhaft unterhalten wird.“

„So möchte Ihnen denn Ihre Stellung hier weniger gefallen, als ihrem Gatten?“

„Ich habe,“ sprach sie, „nur von einer Kammer gleichsam des weiblichen Herzens gesprochen, die andere wird mehr für meine Zufriedenheit reden. Unser demütiges, zweites Geschlecht ist ja an den Herrn der Schöpfung, wie der Mann sich selbst nennt, gewiesen. An ihn schließen wir uns an, ihm folgen wir; und Vater und Mutter soll ja das Weib verlassen und ihrem Manne anhangen. Warum denn nicht auch eben so leicht ihm ihre lieben Gewohnheiten, ihre bisherigen Neigungen opfern? Und wie von selbst giebt sich das an der Seite des guten geliebten Gatten. Vergangenheit und Zukunft verbleichen vor dem Rosenschimmer der Gegenwart, wenn dieser auch nicht über die vier Wände des Hauses hinausreicht, wenn dieser auch nur aus dem Auge des Gatten mir strahlt und nicht aus der Umgebung. Er findet doch den Eingang in das offene Herz und übt seinen verklärenden Zauber auf alle Dinge um sie her. Das häusliche Glück überwindet auch selbst eine Hallig mit allen ihren Entbehrungen.“

„Aber unbegreiflich ist es mir,“ sagte Oswald, „wie der Pastor sich hier wohl fühlen kann, da er ja doch in seinen Studienjahren ein reich bewegtes Leben hat kennen lernen müssen?“

„Nicht allein seine Studienjahre hat er zum Teil in Deutschland zugebracht und sie zu Reisen in den schönsten Strecken unseres großen Vaterlandes und der Schweiz mitbenutzt, sondern auch seine Kindheit und erste Jugend verlebte er im Genusse alles dessen, was großstädtischer Verkehr und großstädtische Sitte Angenehmes haben.“

„So werden gelehrte Untersuchungen es ihn vergessen machen, was er jetzt entbehren muß?“ bemerkte Mander, der unterdessen einen Blick auf das kleine Bücherrepositorium geworfen hatte.

„Sie meinen,“ lächelte die Pastorin, „weil Ihnen da die Titel arabischer und persischer Bücher entgegenblitzen. Nein, das ist noch aus jener Zeit her, in welcher, wie Hold sagt, der altertümliche Reifrock der seligen Großmama oft eben so viel Anziehungskraft hat, als der duftende Blumenkranz der lebensfrohen Enkelin; oder die herbe und trockene Frucht, die aus der Ferne und Fremde kommt, lieblicher mundet, als die frische Pflaume aus dem Garten der Heimat. Jetzt muß ich bei vielen dieser Bücher dafür sorgen, daß der Staub nicht ihre goldenen Titel bedecke; nur wenige erfreuen sich noch des Immergrüns der jungen Liebe.“

„Natürlich müssen die einzelnen Lieblingsstudien,“ sagte Mander, „bei dem gebildeten Manne vor dem Interesse für die großen, neuen Fortschritte der Wissenschaft zurücktreten; und so wenig ich auch mit der theologischen Literatur bekannt bin, so weiß ich doch, daß der Theologe, der eine übersichtliche Kenntnis des allgemeinen Ganges seiner Wissenschaft sich bewahren will, schon hinreichend mit Lectüre versorgt ist.“

„Wenn es dem Halligprediger nur vergönnt wäre,“ entgegnete die Pastorin mit einer Stimme, deren Schwanken die Furcht verriet, mehr zu sagen, als vor fremde Ohren gehörte, „etwas für die Befriedigung des wissenschaftlichen Bedürfnisses aufzuwenden. Hold beklagt dies oft und meinte noch neulich, daß die Vierteljahrsgage eines der geringsten Opernsänger oder Ballettänzer ausreichen würde, um den vom Weltverkehr und vom Büchermarkt ausgeschlossenen Geistlichen der Hallig die Schriften und Journale in die Hände zu geben, welche sie vor Lücken in der Kenntnis des Standes ihrer Wissenschaft bewahren könnten. Dazu kommt der tägliche Schulunterricht, der sich bei der geringen Bildungsstufe der Halligbewohner und der gänzlich fehlenden Mithülfe der Eltern fast nur auf die ersten Anfangsgründe beschränkt.“

„Wie!“ riefen Mander und Oswald erstaunt, „der Geistliche ist verurteilt, das ABC zu lehren und Buchstaben vorzumalen?“

„Wenn sie dies Verurteilung nennen wollen, habe ich nichts dagegen. Mir thut es auch oft in der Seele weh, wenn ich im Nebenzimmer das eintönige Buchstabieren anhöre und dabei einen Blick auf diese Bücher werfe. Aber Hold weiß sich ganz darein zu fügen und geht eben so munter in die Schulstube hinein, wie er aus derselben zurückkehrt. Auf allen Halligen ist übrigens der Schuldienst mit dem Pastorat verbunden.“

„Aber ich würde mir einen Gehülfen halten,“ sagte Oswald etwas unbedachtsam.

„Dieselbe Ursache,“ erwiderte die Pastorin, indem sie die Augen senkte und leise errötete, „welche jene Verbindung nötig macht, erspart uns auch den Gedanken an einen Gehülfen für die Schule.“

Die Pastorin wurde durch die Ankunft ihres Mannes aus dieser Unterhaltung befreit, die für sie etwas peinlich geworden war, da Frauen überhaupt noch weniger als Männer dazu geeignet sind, die beschränkte Lage des Hauswesens vor Fremden aufzudecken, und gern, so lange als möglich, einen gewissen Schein zu bewahren streben.

Hold trat den Fremden mit freundlicher Offenheit entgegen und wußte ihren Dank für Das, was auch er für ihre gastliche Aufnahme auf der Hallig gethan, sogleich mit den Worten abzuwenden: wie er ihnen vielmehr danken müßte, daß sie hierher gekommen seien, ihm ein Bischen von der Welt draußen zu erzählen.

Während nun die Hausfrau den Thee mit den Butterschnitten von Schwarzbrod bereitete, das Einzige, was der Halligbewohner in solchen Fällen für seine Gäste hat, und was er den größten Teil der Woche hindurch selbst als Mittagessen mit seiner Familie nur genießt, hatten die Männer im raschen Laufe des Gesprächs schon fast die ganze Erde umflogen, hatten die wirren Bahnen der Politik durchwandelt, sich auf den luftigen Höhen der Weltansichten bewegt und waren in die Tiefen der Wissenschaft hinabgetaucht. Aber nirgends fanden sie sich in Uebereinstimmung mit einander; nirgends gelang es ihnen, die verschiedenen Noten, die jeder anschlug, zu einer melodischen Harmonie zu verschmelzen. Wollte Oswald die aufgestellten Fragen leicht abfertigen, so zeigten ihm Mander und Hold den schweren Ernst derselben und den entscheidenden Einfluß einer richtigen Beantwortung auf das Wol und Wehe der Menschheit. Wollte Mander den Scharfsinn des menschlichen Geistes in der seither versuchten Lösung dieser Lebensfragen bewundern, dann schob ihm Hold die Erfahrung entgegen, wie wenig jene Lösung gefruchtet.

Da aber jetzt die Politik das Gebiet ist, wie es in früheren Zeiten oft die Theologie war, auf welchem sich die Geister am liebsten tummeln, der Gemeinplatz, der fast keinem ganz fremd ist, der die verschiedensten Stände und Stämme mit gleichem Spruchrecht um das Beratungsfeuer sammelt und zugleich für den feineren Beobachter das Tinggericht, wo Vieler Herzen offenbar werden und sich unter einander erkennen auch über den Zeitungs-Krieg und Frieden hinaus, so fanden sich unsere Freunde auch immer wieder zu derselben zurück.

 

Hold sagte, als er dies bemerkte:

„Es ist immer eine ärmliche Zeit, die keinen über die nächste Wand hinausgehenden, Allen gemeinsamen Stoff zur Unterhaltung hat; sie brütet einen widerlichen Kastengeist, ein kleinliches Mein- und Dein-Leben, eine jämmerliche Nützlichkeitsprosa aus. Ueber dem täglichen Verkehr, über dem Dichten und Trachten für die Duodezwelt, die für Jeden eine andere ist, muß ein Reich aufgethan sein, das Alle zuläßt, ohne nach Paß und sonstiger Berechtigung zu fragen, das ihren Gedanken einen weiten Raum giebt, ihre Empfindungen an Vieler Wol und Wehe groß zieht. Aus diesem Grunde will ich die jetzt so allgemeinen politischen Unterhaltungen, in die auch wir stets wieder unwillkürlich hineingeraten, nicht ganz als bloßen Zeitvertreib verwerfen; obwol die Politik selbst, wie sie als Wissenschaft gelehrt und von den Staaten gegen einander geübt wird, mir die verächtlichste Mißgeburt ist, die ich kenne.“

„Wie!“ rief Mander voll Erstaunen, „müssen Sie nicht den Staatsmann achten, der in seinem Geiste das Schicksal der Völker und Länder abwägt; der Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges zu kombinieren weiß und mit einem Federstrich oft mehr ausrichtet, als die sieghaftesten Armeen; der das Staatsschiff durch alle Klippen hindurch in den schwersten Stürmen steuert und auf tausend Umwegen glücklich an’s Ziel führt?“

„Meinethalben mag seine Klugheit bewundernswert sein,“ entgegnete Hold; „aber sehe ich, daß seine Winkelzüge eben erst die Stürme hervorgerufen haben und die Klippen entstehen ließen; sehe ich, wie er eine Grube zu seinen Füßen gräbt, während er sich selbstgefällig seiner Voraussicht in die Zukunft rühmet; sehe ich, wie er mit Treu und Glauben, mit der Heiligkeit der Verträge, mit den Gesetzen des Rechtes, wie mit Schalen spielt, die man wegwirft, wenn der saftreiche Kern ausgesogen ist und auch wol bei Gelegenheit einmal wieder aufnimmt, um den letzten Tropfen Oel noch herauszupressen; wenn er das eine Knie beugt, um mit vollem Munde Gott und alle Heiligen für sein gutes Recht und um Bestrafung des Treubruchs anzuflehen, während er den andern Fuß aufhebt, um die Gerechtigkeit in den Staub zu treten, dann widert mich der Staatsmann, oder vielmehr die Politik, die er repräsentirt, als die große babylonische Buhlerin unserer Zeit an, die sich am Verderben der Völker sättiget.“

„Sie wollen doch wol nicht die Gesetze der gewöhnlichen Moral, die im häuslichen und bürgerlichen Leben ihre gute Geltung haben, auch auf die Leitung des Geschicks der Völker übertragen?“

„Ja wol will ich das,“ erwiderte Hold mit großem Eifer. „Gerechtigkeit und Treue sind kein Menschenfündlein, an dem gedreht und gedeutelt werden darf. Sie sind Gebote des lebendigen Gottes, der die Welten lenket mit Rat und Weisheit und die Völker des Erdkreises richtet mit Gerechtigkeit. Der Gedanke, weil ich auf diesem Staubkörnlein Erde die Miniaturgeschichte eines Pünktchens übersehe und ein paar Sekunden lang sie weiter führen soll, darum bin ich erhaben über das Gesetz des Schöpfers und ewigen Regierers des Himmels und der Erden, dieser Gedanke ist so mitleidswert armselig, daß man ihn nur belächeln könnte, wenn er nicht zugleich so verächtlich wäre. Wahrlich, so lange das Gesetz Gottes als allein bestimmende Richtschnur noch keine Stätte gefunden hat in der kalten Brust der Leiter unserer Staatenmaschine, so lange bleibt diese ein Räderwerk, das von Blut und Thränen träuft, und das, in wilder Unordnung bald vorwärts, bald rückwärts gehend, den Baumeistern nur Schande macht. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! Was ist denn Europa? Ein ewiger Tummelplatz des eisernen Würfelspiels, ein immer neu geöffneter Kirchhof hingemordeter Millionen. Dabei jeder einzelne Staat eine Schuldbank, die nur von neuen Gläubigern vor dem Einsturz bewahrt wird. Ueberall ein Beben und Schweben der Völker und ihrer Hirten in der Furcht, daß die eben glücklich zum Stillstand gebrachte Maschine wieder losrädere; und um diesen ängstlichen Stillstand zu erhalten, müssen große stehende Heere schlagfertig bleiben auch im gerühmten Frieden, dem Meisterstück der Diplomatie.“

„Sie werden diesen Zustand nicht den Staatsmännern zur Last legen.“

„Keineswegs; wohl aber der falschen, zweideutigen, rechtlosen Göttin, der sie huldigen. Können Sie sich denken, daß der Zustand Europa’s schlimmer wäre, wenn die Diplomatiker, anstatt in ihr System die Hintansetzung der Moral aufzunehmen, in allen Beziehungen der Staaten gegen einander die Gesetze derselben als höchste Norm befolgt hätten?“

„Aber das politische Gleichgewicht soll doch bewahrt werden,“ erinnerte Oswald. „Ein vorherrschender Staat würde Einseitigkeit in die Intelligenz der Völker bringen, würde die freie Entwicklung der Nationaleigentümlichkeit hemmen, würde die andern Herrscher zu Sklaven eines allmächtigen Willens herabwürdigen. Und alle Politik geht doch am Ende nur auf die Erhaltung jenes Gleichgewichts unter den Völkern.“

„Was die Völker betrifft, so wissen sie aus der Geschichte, daß jedes Uebergewicht eines Staates, das seinen Grund in der Ausdehnung über die natürlichen Grenzen hinaus hat, auch ohne die Gegenwirkung der Politik seinem Falle nahe ist, eben gerade durch die falsche Politik, die zu solcher Ausdehnung verführte. Sie wissen, daß dies gerühmte, mit so viel tausend Aufopferungen von ihrer Seite immer neu zu erkämpfende Gleichgewicht doch stets ein eingebildetes bleibt, und im besten Falle nur ein sehr schwankendes Gleichgewicht der größern Staaten gegen einander ist, während die kleineren, wie ein Rohr, von jeglichem Winde bewegt, bald in diese, bald in jene Schale sich neigen, und gar oft zur Wiederherstellung der Balance jener diplomatischen Waagschale sich zerstückeln lassen müssen. Dies wissen auch die Fürsten dieser Staaten und zögen gern sich und ihre Länder aus jenem Conflict heraus, in welchem das Recht des Stärkern allein gilt, und der heiligste Vertrag nur dann geehrt wird, wenn ihn ein paarmal hunderttausend Bajonette aufrecht halten. Jenes Gleichgewicht würde aber auch nie solche Störungen erlitten haben, wenn eben nicht dem einzelnen Störenfried die diplomatischen Fechterstreiche seiner Gegner seine Unternehmungen so sehr erleichterten. Ist ein glücklicher Gegenkampf gegen einen solchen begonnen, dann tritt sogleich die Politik mit ihrem scheelsüchtigen Auge hinzu und deutet mit der weitsichtigsten Klugheit darauf hin, wie leicht der eine Mitstreiter durch den gemeinsamen Sieg zuviel gewinnen könne, und öffnet das Auge für das, was so nahe liegt, für das durch solches Mißtrauen dem zu bekämpfenden Gegner gegebene Uebergewicht nicht eher, als bis es zu spät ist. Ist das nicht die Geschichte fast aller Gleichgewichtskriege des letzten Jahrhunderts?“

„Ich darf Sie zu ihrer Widerlegung nur an den Befreiungskampf gegen Napoleon erinnern,“ rief Oswald, „in welchem auch mein Vater mitgestritten hat.“

„Gerade jener Kampf spricht für mich,“ entgegnete Hold. „Es war für die unterjochten Fürsten und Völker ein Augenblick der Begeisterung, der sich über die diplomatischen Winkelzüge der Politik erhob. Wenn dieser Krieg ebenso mit derselben kalten, lauernden Berechnung, mit denselben politischen Seitenblicken, wie die früheren Kämpfe gegen jenen Eroberer, geführt worden wäre, was würde der Erfolg gewesen sein? Was aber die Weisheit der Staatsmänner in jenen Tagen an Großartigkeit angenommen, das flog ihr nur zu in Folge des Sturms der Auferweckung, der über Altäre, Throne und Hütten dahin brauste; es war kein Teil ihrer Natur. Daß die alte Heuchlerin einmal in einer Stunde der höchsten Not zum Gebet getrieben wurde, hat sie damit aufgehört, eine Heuchlerin zu sein? Und hat sie nicht schon während jenes Gebetes, während sie die Gerechtigkeit Gottes anrief, auf neue Ungerechtigkeit gebrütet? Hat sie nicht die gefaltete Hand zugleich zum Raube gekrümmt und auf das Siegesfeld die Drachenzähne neuer Zwietracht ausgesäet?“

„Sie mögen darin Recht haben,“ erwiderte Mander; „jedoch werden Sie auch zugeben, daß mancher Staat, bei einem strengen Festhalten an den Grundsätzen der Moral sich seinen Untergang bereitet hätte, dem er nur durch eine gewandte, den Umständen und Verhältnissen sich anbequemende Politik entgangen ist.“

„Wol wahr! Aber das ist ja eben der Fluch, daß es so weit gekommen ist, daß der Teufel nur durch den Beelzebub ausgetrieben werden kann, daß die Notwehr uns die unwürdige Waffe des Angreifers in die Hände zwingt. Vergessen Sie jedoch nicht, daß trotz seines politischen Spiels und vielleicht eben durch dasselbe auch mancher Staat nur seinen Untergang gefunden hat, und daß wir die Geschichte der Staaten allein vor uns haben, wie sie in jenem politischen Treiben geworden ist; also gar nicht behaupten können, das Bestehen eines einzelnen Staates hätte außer der Reihe der Möglichkeiten gelegen, wenn seine Leiter in ihrer Haltung und in ihrem Handeln nur die strenge Rechtlichkeit und die gewissenhafteste Treue vor Augen gehabt hätten.“

„Das möchte ich doch Keinem raten,“ meinte Oswald, „so lange nicht die Politik Aller sich zu Ihren Grundsätzen bekehrt hat, und dahin wird es nie kommen.“

„Und warum sollte es nie dahin kommen?“ antwortete Hold. „Was wahr und recht ist, das hat seine Wurzel droben im Himmel und senkt seine Blütenzweige auf die Erde herab, um da einen guten Samen auszustreuen. Mag dieser Same denn hier auf steinigtem Boden keine Nahrung zum Keimen finden, dort im Sande der Wüste verdorren: derselbe Himmel hat auch Tau und Sonnenschein, um den Boden allmälig zu bereiten und ihn empfänglich zu machen für die gute Saat. Aus all’ dem Irren und Wirren hienieden wird ein Reich der Gerechtigkeit, der Freude und des Friedens hervorgehen, das seinen glücklichen Bürger nicht ahnen läßt, mit welchem Blut der Boden gedüngt ist, den er betritt; mit welcher Täuschung die in den Gräbern ruhen nach einem Frieden strebten, der vor ihnen her wandelte, ohne daß sie ihn sahen, mit welchem Unsinn man zweierlei Gesetz stellte, eines für die einzelnen Menschen: Du sollst Gott, Deinen Herrn, über Alles lieben und Deinen Nächsten als Dich selbst! und das andere für die Gesammtheit derselben Menschen, für den Staat: Du sollst nach jeglichem Winde lieben oder hassen, und Deinen Nächsten übervorteilen, wie Du kannst!“

„Ein solches Friedensreich auf Erden bleibt immer,“ sagte Mander lächelnd, „nur der schöne Traum eines liebevollen Herzens, und würde nicht einmal, wenn es möglich wäre, förderlich sein für die Entwickelung der Menschheit; denn gerade der Kampf soll Regen und Bewegen in ihr erhalten, soll die Kraft stählen, den Geist schärfen. Die Geschichte muß eine Epopee bleiben und kann nie eine Idylle werden. Auch in der übrigen Schöpfung finden wir gleichen Kampf. Welche, auf furchtbare Umwälzungen deutende Veränderungen bemerken die Astronomen an den Himmelskörpern! Welche Erdbeben, Ueberschwemmungen, vulkanische Ausbrüche; welche Zeiten der Dürre oder überflutender Wolkenbrüche und dergleichen gehören zur Geschichte des Erdbodens! Welcher rastlose Kampf unter den Tieren, welches Recht des Stärkern, welche Beraubung und Erwürgung der Schwächern unter ihnen!“

„Und davon,“ entgegnete Hold, „wollten Sie eine Anwendung auf die Menschen machen, die erschaffen sind nach dem Bilde Gottes; denen Er das Vermögen gab, die Erfahrungen der vergangenen Jahrtausende für die Gegenwart zu benutzen; denen Er Seine heiligen Gebote verkündet, welche alle nicht allein das ewige Heil, sondern mit demselben auch das irdische Wol zum Zweck und Ziel haben, denen Er in Jesu Christo den Abglanz Seiner Herrlichkeit leuchten ließ auf Erden, einer Herrlichkeit, die da ist Gerechtigkeit und Liebe, Kraft und Friede?“

„Mußte nicht auch Christus kämpfen, leiden und sterben, und ist nicht auch durch Ihn so viel neue Zwietracht geweckt auf Erden?“

„Und darum sollten wir immer und ewig Seine Mörder bleiben müssen durch die Verleugnung Seiner Lehren, Segnungen und Verheißungen? Sollten Ihn zum Hausgott bestellen für unsern kleinen häuslichen bürgerlichen Verein; als Gott der Weltgeschichte aber den anbeten, der ein Mörder war von Anfang an? Nein, so gewiß wie, von Christo ganz abgesehen, der über jeden Vergleich hinaus ist, die Apostel, die das Evangelium hinausriefen in die Welt, mehr Segen brachten den Menschenkindern, als Alle, die vor ihnen und nach ihnen gelebt haben, so gewiß wird auch dies Evangelium durchdringen durch alle Tiefen und zu allen Höhen hinauf; und dann erst ist das rechte Streben und Bewegen in der Menschheit, das nicht in der Zwietracht, sondern in der Liebe thätig ist; dann wird mancher jetzt in der Geschichte hochgepriesene Name, der seinen Ruhm auf verbrannte Trümmer und zertretene Schädel erbaute, nur als ein Denkmal menschlichen Unsinns eine kurze Spalte in dem Buche der Vorzeit füllen, während man eifrig den Thaten dessen nachforscht, der einen Grundstein mitlegen half zum Aufbau der bessern Zeit.“

 

„Und doch,“ bemerkte Oswald, „haben die scheinbar verderblichsten Kriege auch mit zur Förderung der Fortschritte der Menschheit gewirkt.“

„Weil ein Gott vom Himmel darein sieht und Alles zum Besten lenket: Die Gewitter reinigen die Luft und fördern einen schönen Tag herauf. Aber dieser schöne Tag muß droben über den Wolken und Stürmen bereitet werden, die Gewitter schaffen ihn nicht; sie entladen nur ihre eigene heillose Kraft, die aus den Dünsten geboren ist, die sie zerstreuen.“

Die Pastorin, der ihr Mann zu eifrig wurde gegen die Fremden, unterbrach ihn hier lächelnd, indem sie sagte: „Die Dünste meines Thees würden auch längst Zeit gehabt haben, sich zu einem Gewitter zu sammeln, wenn sie nicht so friedsamer Natur wären.“

Mander aber setzte nach einer kurzen Unterbrechung das ernste Gespräch fort. Ihm hatten die Erfahrungen vielbewegten Lebens jenes besonnene Urteil gegeben, das nicht über die Grenzen der Wirklichkeit hinausgeht, und keinen Blick weit über den Anknüpfungspunkt hinüberwagt; doch hörte er gern einen Mann reden, der in der eignen, so viele Wünsche übrig lassenden, beschränkten Lage nur von Idealen für die Menschheit träumte, und hatte mit Absicht nur so viel entgegnet, als nötig war, um Hold im Feuer zu erhalten; wobei aber auch in seiner Brust manche längst entschlafene Empfindung wieder wach zu werden geneigt schien.

„Ich kann mir es wol denken, wie Ihnen, bei Ihrer Bildung zum Volkslehrer und in Ihrer Stellung als solcher, die Männer der Wissenschaft die höchste Bedeutung haben müssen.“

„Es giebt nur eine Wissenschaft,“ erwiderte Hold, „von der das wahre Leben ausgehet in Zeit und Ewigkeit, die Wissenschaft von dem Heil der Menschheit in Gott. Unter das Licht und Gericht derselben soll Alles gestellt werden, was ist und was geschieht; und nur in soweit hat unser Wissen und Erkennen Gehalt und Bestand, als es uns und Andere fördert in dem Bewußtsein unserer Abhängigkeit von Gott, in der heiligen Lust an Seinem Willen, in dem freudigen Vertrauen auf Seinen Rat, mit einem Worte: in der Kindschaft zu Ihm. Gleichwie unser Wollen und Vollbringen in so fern einen lebendigen Keim und eine bleibende Frucht in sich trägt, als es dient jener Wissenschaft des Heils, daß sie eine Gestalt gewinne in unserm Leben und im Leben der Menschheit.“

„Auf diese Weise,“ bemerkte Mander, „hätten alle Wissenschaften nur eine Aufgabe; während sie doch von so verschiedenen Punkten ausgehen, so ganz verschiedene Richtungen einschlagen.“

„Lassen Sie mich ein Bild gebrauchen,“ war Hold’s Antwort. „Die eine Wissenschaft ist die Sonne am Himmel der Menschheit; die andern Bestrebungen der Wißbegierde sind nur die Träger der Strahlen dieser Sonne nach allen Seiten hin und in jedes Dunkel hinein. Vergessen sie diesen ihren Beruf und gehen mit der eignen Hornleuchte umher, so werden sie sich in Wüsten verlieren und auf tausenderlei Irrwegen wandeln. Aber sie werden doch auch ihr Wissen vollständiger entwickeln, klarer durchbilden und fester begründen und dadurch reifen in der Erkenntnis ihres wahren Berufes und in der Zurückführung alles Wissens auf die eine Wissenschaft. Je vollständiger des Irrtums Bahnen durchlaufen sind, desto sicherer werden sie auch zurückgemessen und dienen dann nur als Wegweiser auf den rechten Weg.“

„Sie sind Theologe, und Jedem ist seine Wissenschaft die erste.“

„Die Theologie ist nicht die Wissenschaft, die ich meine; sie ist nur die Anleitung dazu. Sie stellt sich, wenn sie sich selbst erst begriffen hat, die Aufgabe: Alles, was war, ist und geschieht, unter den Brennpunkt der einen göttlichen Wissenschaft zu bringen, wo sich das reine Erz von den Schlacken sondert; und in diesem Sinne soll Jeder ein Theologe sein, indem er all’ sein Denken, Wollen und Thun, alle Arbeit und alle Erfahrung seines Lebens, alle seine Sehnsucht und seine Hoffnung durchleuchten und durchläutern läßt von der wahren Wissenschaft, die aus Gott ist und zu Gott führt. Nur daß der eigentliche Theologe nicht allein, was sein Leben bewegt, sondern die Bestrebungen und Erfahrungen, die Meinungen und Hoffnungen aller Zeiten und aller Völker in das Licht und Gericht der göttlichen Weisheit stellt und dadurch an Schärfe und Bestimmtheit in der Beurteilung des Treibens seiner Zeit, im Durchblicken des Scheines, in der Erkenntnis der Quellen des Irrtums und der Gottentfremdung der Menschheit und des einzelnen Menschen gewinnen soll. Dadurch wird er geschickt werden zum Leiter der Blinden, zum Lehrer der Ungeübten, zum Ermahner der Leichtsinnigen, zum Tröster der Glaubensschwachen, zum Erwecker der Lauen und Gleichgültigen und zum Sprecher des Gerichtes wider Die, welche für sich selber das Heil verschmähen und Andern den Zugang hindern. Und weil wir Alle nach unserer Schwachheit und Sündhaftigkeit bald zu der einen, bald zu der andern Klasse gehören, so darf es Keiner, sei er Priester oder Laie, an dem weitern Anbau der wahren Wissenschaft für sich selbst je fehlen lassen, keine Gelegenheit versäumen, zu reifen in aller Erkenntnis, Tugend und Gottseligkeit.“

„Wo ist aber die wahre Wissenschaft zu finden,“ fragte Mander, „auf die wir Alles zurückführen und an der wir Alles prüfen sollen?“

„Sie ist nicht da und kann nicht da sein,“ entgegnete Hold, „wo Irrtum und Täuschung wenigstens möglich sind, in keinem System der Philosophie. Sie kann nur aus dem Quell der Wahrheit selbst geschöpft werden.“

„Ich möchte mit der Frage des Pilatus,“ sagte Mander, nicht ohne eine schmerzliche Bewegung zu verraten, „Ihnen antworten: was ist Wahrheit?“

„Das Wort Gottes!“ sprach Hold fest und ernst. Aber ein leises Kopfschütteln des alten Mander und ein fast spottendes Lächeln seines Sohnes zeigten ihm, wie wenig diese Antwort seine Zuhörer befriedigt habe.

Oswald erinnerte jetzt, daß es schon spät geworden sei, und die Gäste schieden mit dem gern angenommenen Versprechen, ihren Besuch bald zu wiederholen.