Kahlbergs Talfahrt

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

KAPITEL FÜNF

Der Beamte hatte Kahlberg am Arm gefasst und führte ihn durch den Flur des Polizeireviers.

Durch eine Tür vor ihnen drang lautes Gebrüll. Dann wurde sie aufgerissen und ein Mann mit gegerbtem Gesicht, halblangen Haaren und abgetragenen Jeans wurde herausgeführt. Als er Kahlberg sah, grinste er und verdrehte kurz die Augen, ein Hinweis unter Leidensgenossen, dass die verhörenden Beamten so scharfsinnig waren wie gut verdaute Mettwurst.

Eigentlich hätte es bei einem Verhör gar nicht zu so einer Begegnung kommen dürfen, schon gar nicht bei einem Mordfall. Aber hier, das war Kahlberg mittlerweile klar geworden, ging es drunter und drüber.

Er wurde in das karge, nur mit einem Tisch, zwei Stühlen und einer Überwachungskamera ausgestattete Verhörzimmer geführt.

Polizeihauptkommissar Wiesenkötter empfing ihn stehend, mit energisch in die Hüften gestemmten Armen. Neben ihm am Verhörtisch saß ein Jungbulle, sein genaues Gegenteil. Nicht rotgesichtig, kein Specknacken, unentschlossen.

»Da ist er ja endlich, mein Lieblingsverdächtiger. Kriminalhauptkommissar Kahlberg von der Mordkommission Düsseldorf.« Mit einem Kopfnicken scheuchte Wiesenkötter den Beamten, der Kahlberg begleitet hatte, hinaus. Als sich die Tür von außen geschlossen hatte, machte er einen Schritt auf den Kollegen aus der Großstadt zu. »Ich hoffe, das Theater gefällt Ihnen so.«

»Ganz ausgezeichnet.« Kahlberg zeigte ein Grinsen wie eine gezogene Messerklinge und zog es vor, den freien Stuhl nicht in Anspruch zu nehmen.

Schnell war am Tatort Kahlbergs Identität geklärt worden, jedoch hatte er dafür gesorgt, dass er trotzdem unter den Augen der Schaulustigen wie ein Verdächtiger abgeführt und auf die Wache gebracht worden war.

»Ich frage mich allerdings, was Ihr Inkognitoauftritt hier bringen soll«, knurrte Wiesenkötter.

Kahlberg war klar, den lokalen Befehlshaber mehr oder weniger zum Mitspielen genötigt zu haben, und offensichtlich gefiel diesem nicht, zu etwas gedrängt zu werden. »Machen Sie einfach weiter, als gäbe es mich nicht, ich werde Ihnen nicht im Weg stehen.«

»Ob Sie es wollen oder nicht, das tun Sie bereits oder meinen Sie, die Beamten, von denen Sie hier herumgeführt werden, sind Statisten?«

»Das können Sie besser beurteilen«, entgegnete Kahlberg trocken. »Es sind Ihre Männer.«

»Kommen Sie, Kahlberg«, machte Wiesenkötter nun auf versöhnlich und wies auf das Phantombild, das hinter ihm an der Wand hing. »Schließlich sind Sie ja auch noch unser bester Zeuge.«

Das Erste, was Kahlberg getan hatte, solange er die Erinnerung an den Täter noch unverfälscht abrufen konnte, war das Anfertigen eines Phantombildes am Computer. Doch weder das noch das eintönige Blättern in der lokalen Verbrecherdatei hatte bisher irgendeine Spur erbracht.

»Was ist mit dem Fahrer des Mustangs, den Ted gegrüßt hat?«, fragte Kahlberg.

Wiesenkötter grinste überlegen. »War leicht ausfindig zu machen. Sein Name ist Klaus Nolte. Er wird gerade hierhereskortiert.«

»Ist außerdem noch irgendjemand oder irgendetwas aufgetaucht?«

Der Polizeihauptkommissar schüttelte bedauernd den Kopf. Dann fixierte er Kahlberg mit einem bemüht entschlossenen Gesichtsausdruck. »Und Sie haben wirklich keine Ahnung, was MA bedeuten könnte?«

»Nicht die Geringste.«

Vor Kahlbergs innerem Auge tauchte Ted auf, wie er mit immer lebloser werdenden Augen seine blutverschmierte Hand hob und die Buchstaben auf das Poster schrieb.

»Sie kommen also hierher, weil Ihr Freund von der Presse eine kochend heiße Geschichte hat, und dann wird er direkt vor Ihrer Nase abgestochen«, sagte Wiesenkötter mit leicht ungläubigem Ton.

In seinem Blick konnte Kahlberg so etwas wie Verachtung dafür lesen, dass er, der Bulle aus der Großstadt, bei der Tat so tölpelhaft zugegen gewesen war.

»Der Mörder kannte den Ort, an dem wir uns treffen wollten. Er hat dort auf uns gewartet«, zischte Kahlberg durch zusammengebissene Zähne.

»Woher sollte er das gewusst haben?«, fragte Wiesenkötter und legte die Hand in derart übertriebener Denkerpose ans Kinn, dass Kahlberg ihm gerne deren Finger gebrochen hätte.

Stattdessen entgegnete er: »Der Club war womöglich Teds Stammlokal. Oder er hat sein Vorhaben, mich dort zu treffen, noch jemandem erzählt.«

»Vielleicht wurde sein Telefon abgehört!«, meldete sich der junge Beamte zu Wort und zog den Kopf ein, als sich die Blicke auf ihn richteten.

»Abgehört?« Wiesenkötter lächelte herablassend. Auch für seinen Nachwuchs hatte er kein besseres Mienenspiel übrig.

»Eine heimlich aufs Telefon geladene App würde reichen«, rechtfertigte sich der junge Beamte.

»Nur leider haben wir kein Handy, das wir auf eine App hin überprüfen könnten«, stellte Wiesenkötter fest und warf als Seitenhieb einen Blick auf Kahlberg.

Der gab sich ungerührt. »Ich glaube nicht, dass man darauf etwas Derartiges gefunden hätte. Er hat sein Telefon gehütet wie seinen Augapfel.«

»Irgendeine Spur wird vielleicht bei seinen Sicherungskopien zu finden sein, sein Redaktionscomputer ist bereits sichergestellt«, beeilte sich der junge Beamte. Anscheinend wollte er sich im Bereich Cyberkriminalität profilieren.

Kahlberg schüttelte den Kopf. »Ted hat mir gesagt, dass er alle Informationen bei sich trug. Ohne Kopien und Backups.«

»Wer macht denn so was?« Wiesenkötter zeigte sich redlich überrascht, ganz ohne die Pose des Tatort-Kommissars.

»Jemand, der die alten Zeiten aufleben lassen will«, sagte Kahlberg und kaum hatte er das Wort »aufleben« ausgesprochen, kam es ihm gänzlich unpassend vor, auch in Bezug auf das, was ihm schon die ganze Zeit durch den Kopf ging: »Und wer bringt es seiner Lebensgefährtin bei?«

Wiesenkötter schielte rasch auf seine Uhr. »Meine Leute sind wahrscheinlich gerade bei ihr.«

»Ah, gut«, sagte Kahlberg erleichtert, wobei er allerdings im Stillen annahm, sie würde nach der Rosskur, die ihr diese Provinzspezialisten im Begriff waren zu verabreichen, für lange Zeit ein Wrack sein. Aber insgeheim war er froh, es nicht selber tun zu müssen, hatte er doch eigentlich vorgehabt, Wiesenkötter genau dies anzubieten.

Der musterte ihn abschätzig, bevor er säuselte: »Sehen Sie, Kahlberg, wir kommen hier sehr gut auch ohne Sie zurecht. Vielleicht sollten Sie doch lieber nach Hause zurückfahren?«

Kahlberg hielt Wiesenkötters Blick ungerührt stand. »Ich glaube, Sie sollten jetzt einen ihrer Beamten rufen. Mein Verhör ist erst mal beendet.«

Wiesenkötter seufzte und gab dem jungen Beamten einen Wink. Der stand sogleich auf, öffnete die Tür und machte ein Zeichen in den Flur, woraufhin der Kollege erschien, der Kahlberg in das Verhörzimmer geführt hatte.

»Führen Sie ihn ab«, sagte Wiesenkötter genüsslich, wobei er mit seinem flachen Kinn auf Kahlberg wies. »Und sorgen Sie dafür, dass es ihm nicht zu gut geht, damit er hier nicht einzieht.«

Wiesenkötters schrilles Kichern verfolgte Kahlberg, bis sich die Tür hinter ihm schloss.

Im leeren Flur lockerte der Beamte seinen Griff an Kahlbergs Arm. Es war ihm deutlich peinlich, einen Vorgesetzten wie einen Verbrecher zu behandeln, selbst, wenn es nur der Tarnung diente.

Kahlberg blieb stehen und fragte vertraulich: »Wo kann ich die Verhöre mitverfolgen?«

»Äh, nun, ich weiß nicht, ob ...«, erwiderte der Beamte zögerlich.

»Hören Sie, ich kann mir auch die Erlaubnis dafür von ganz oben besorgen«, sagte Kahlberg noch immer freundlich. »Aber dann muss ich auch angeben, warum man mich nicht einfach so gelassen hat.«

Der Beamte zögerte noch immer.

»Also, was ist jetzt?« Kahlberg setzte seinen Verhörblick auf, mit dem er schon die härtesten Typen weichgekocht hatte.

Der Beamte knickte ein.

»Na gut, kommen Sie hier entlang.«

Er führte Kahlberg in einen Raum, der ebenso karg eingerichtet war wie das Verhörzimmer. Nur dass sich hier keine Kamera befand, sondern ein Computer mit zwei Bildschirmen, der Kahlberg entfernt an einen Videoschnittplatz erinnerte.

Da die Verhöre ohnehin ununterbrochen auf die Festplatte des Computers aufgezeichnet wurden, musste der Beamte lediglich die Bildschirme einschalten. Sofort erschien auf einem davon das Verhörzimmer, in welches gerade der nächste Verdächtige geführt wurde. Ein Mann mit zurückgekämmten Haaren und bleistiftdünnen Koteletten, die in einen spitzen Kinnbart übergingen. Nolte, der Fahrer des Mustangs.

Kahlberg nickte dem Beamten zu. Der begriff und verließ beflissentlich den Raum.

Als er alleine war, nahm Kahlberg auf dem Stuhl vor dem Computer Plate und setzte den Kopfhörer auf, der über einem der Bildschirme hing. Dann konzentrierte er sich auf das Bild, das auf einem der Monitore zu sehen war.

Man hatte Nolte zu dem Stuhl am anderen Ende des Tisches geführt und ihn dort Plate nehmen lassen. Wiesenkötter legte sofort mit Volldampf los.

»Was hattest du mit deinem Mustang vor dem Club zu suchen?«, fragte er mit drohender Stimme.

Nolte saß ungerührt auf seinem Stuhl.

»Gesucht?« Er grinste und lehnte sich gemächlich zurück. »Nichts. Ich bin nur etwas spazieren gefahren, so ein Mustang braucht nun mal Auslauf.«

»Und woher kennst Du Ted Jones?«, schnaubte Wiesenkötter.

»Ted wer?«, erwiderte Nolte mit Unschuldsmiene.

Der junge Beamte zog ein Foto von Ted Jones aus einer Mappe und hielt es Nolte unter die Nase. Die Augen des Fotografen blickten wie unbeteiligt ins Leere, das Bild endete oberhalb des Schnittes, der sich über seinen Hals zog. Nolte sah sich das Foto einen Moment genau an. »Ist der etwa tot?«

 

»Allerdings«, grollte Wiesenkötter.

Nolte zuckte mit den Schultern. »Ja, den habe ich gesehen, der ist in letzter Zeit öfters in der Gegend gewesen. Aber ich habe keinen Schimmer, wer das ist. Und wenn Sie glauben, dass ich …«

»Und trotzdem grüßt du ihn wie einen alten Bekannten?«, unterbrach ihn Wiesenkötter.

»Er hat mich gegrüßt«, knurrte Nolte. »Muss wohl an meinem Wagen liegen, dass mich alle kennen.« Er lehnte sich noch weiter in seinem Stuhl zurück und grinste herausfordernd, während er mit seinen abgetragenen Bikerstiefeln wippte.

Wiesenkötter baute sich breitbeinig vor ihm auf. »Du kommst dir wohl sehr schlau vor«, zischte er, beugte sich vornüber und legte seine Hand auf die Stuhllehne. Eine kleine Bewegung, und Nolte würde rücklings auf dem Boden landen.

»Wenn Sie auch nur andeuten, was Sie da vorhaben, ist unser kleines Gespräch beendet«, sagte dieser seelenruhig.

Kahlberg beugte sich gespannt zum Bildschirm vor. Der Typ hatte Nerven.

»Gespräch?«, fauchte Wiesenkötter. »Das ist ein Verhör!«

»Ach ja, und wie lautet die Anklage? Dass ich mit meinem Wagen durch die Gegend gefahren bin und mich ein wildfremder Mann gegrüßt hat?«

»Dir werden Deine Sprüche noch im Hals stecken bleiben.« Wiesenkötter nahm die Hand nicht von der Lehne. Stattdessen drosch er mit der anderen auf den Tisch, worauf der Jungbulle vor Schreck fast vom Stuhl fiel. »Was zum Teufel weißt du über Ted Jones? Wer war der Typ mit dem Schnäuzer? Was bedeuten die Buchstaben MA?«, schrie Wiesenkötter mit sich überschlagender Stimme und sein Gesicht färbte sich purpurrot, während Nolte ungerührt die Brüllattacke aussaß.

Kahlberg durchfuhr die Pein des Fremdschämens. Wiesenkötter, der Panzer im Tulpenfeld. Er legte einfach die Karten offen, anstatt Details wie die Buchstabenkombination im Ungewissen zu lassen. Oft genug rutschte einem Verdächtigen bei der entsprechenden Menge Druck ganz ungefragt etwas heraus, das er eigentlich nicht wissen konnte. Gleiches galt für die Beschreibung des Mörders. Aber es hätte Nolte von selbst über die Zunge kommen müssen, dass der einen Schnäuzer trug. Sollte er tatsächlich etwas mit dem Mord zu tun haben, seine Verteidigung müsste nur die Aufzeichnungen des Verhörs nehmen, um zu zeigen, wie der Herr Polizeihauptkommissar sämtliche Indizien vor Nolte ausgebreitet hatte. Ganze Geständnisse waren so schon widerrufen worden.

Doch Wiesenkötter war noch nicht fertig.

»Wenn wir das Handy und die Kamera in deinen Hehlerkreisen finden, bist du dran!«, schnaubte er.

»Halt deine Klappe!«, stöhnte Kahlberg den Bildschirm an und knallte seine Handflächen auf die Tischplatte.

Fast schien es, als hätte Wiesenkötter ihn gehört, denn tatsächlich nahm er die Hand von der Lehne, reckte sich und blickte für einen Moment in die Kamera. Dann aber fuhr er ungerührt fort mit dem Verhör, welchem der Nachwuchspolizist noch die Krone aufsetzte, indem er Nolte in cooler TV-Cop-Pose fragte, ob er in jüngster Zeit Websites mit Abhörapps besucht habe.

Kahlberg ließ sich ächzend in den Stuhl zurücksinken. Es war sowieso zu spät, um etwas zu unternehmen. Am liebsten hätte er die Bildschirme vor sich ausgeschaltet, aber er wollte wissen, wann er ungestört das Zimmer verlassen und auf dem Hof hinter dem Gebäude eine Zigarette rauchen konnte, ohne Nolte plötzlich im Flur zu begegnen. Je weniger der davon Wind bekäme, dass er Bulle ist, umso besser.

Endlich wurde das unfruchtbare Verhör beendet und man ließ Nolte, in Ermangelung an Beweisen, geschweige denn eines handfesten Verdachtes, ziehen.

Nachdem einige Minuten verstrichen waren, stellte Kahlberg die Bildschirme ab, verließ den Raum und trat vorsichtig auf den Flur. Er war leer. Kahlberg musste grinsen. Er, der Bulle, benahm sich ausgerechnet hier in der Polizeiwache wie ein Einbrecher.

Er ging zu einem Fenster im Eingangsbereich und spähte durch eine Häkelgardine mit Blumenmuster.

Noch ehe er Nolte in seinem Mustang davonfahren sah, hörte er es. Das entrüstete Brüllen von acht Zylindern, die ein zorniger, schwerer Lederstiefel am Gaspedal in Aufruhr versetzte. Dann schoss das nachtschwarze Fahrzeug am Fenster vorbei und verschwand hinter Einfamilienhäusern.

»Haben Sie die Bildschirme auch abgestellt?«

Kahlberg fuhr herum. Vor ihm stand der Beamte, der ihn in den Überwachungsraum geführt hatte, und blickte ihn besorgt und etwas linkisch an.

Kahlberg riss sich zusammen, um ihm nicht eine dämliche Antwort vor die Stirn zu knallen. »Machen Sie sich keine Sorgen, alles ist wieder so, wie wir es vorgefunden haben.«

Der Beamte schien mit der Antwort zufrieden zu sein, seine Züge entspannten sich.

Kahlberg nickte ihm zum Abschied zu. In ihm machte sich allmählich der unbändige Drang breit, Abstand von diesem Ort zu gewinnen. Er öffnete die Schleusentür, und der wachhabende Beamte hinter der Panzerglasscheibe grüßte ihn, während Kahlberg an ihm vorbeiging. Er war intern schneller bekannt geworden, als ihm lieb war.

Im Hinausgehen bereits steckte er sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie noch vor dem Überschreiten der Türschwelle an, ein Affront den Kollegen und der Dienstvorschrift gegenüber, den hier allerdings niemand, dessen war er sich sicher, mitbekommen hatte.

KAPITEL SECHS

Kahlberg ruhte auf einer der Tropenholzliegen, die fest installiert vor dem Gipfelcafé standen, und rauchte. In der anderen Hand hielt er einen Latte macchiato und kämpfte darum, die Erinnerung an Teds blutende, zitternde Hand über dem Poster der Beatles zu verdrängen. Der Song Helter Skelter inspirierte angeblich Charles Manson zu blutigen Morden.

Will you won’t you want me to make you?

I’m coming down fast but don’t let me break you, dröhnte es als Endlosschleife durch Kahlbergs Hirn.

Er schüttelte sich knurrend und schaffte es schließlich, die Melodie und die Bilder von mit Blut beschriebenen Wänden aus seinem Kopf zu vertreiben.

Auf der Polizeistation hatte die selbst auferlegte Spitzelrolle einen Abgang als vom Verdacht befreiter Mann nötig gemacht, bevor er in seinen Wagen steigen und auf den weit und breit höchsten Berg fahren konnte. Die klare Luft bot ein außergewöhnliches Panorama. Sanft wellte sich die Heidelandschaft bis zum Ende der flachen, weiten Gipfelkuppe, von der sich eine für ein Mittelgebirge beeindruckende Fernsicht bot. Kein Dunst verwischte den Horizont und gen Südosten reichte die Sicht bis ins Hessische. Etwas weiter Richtung Westen warf sich bei Kahlberg gar die Frage auf, ob dort wohl schon Rheinland-Pfalz lag mit seinem weinbestandenen Rheintal. Ein Wunschdenken, gewiss, aber Kahlberg vertrug abgelegene Orte besser, wenn er sie mit der Welt verband.

Die Sonne gab noch immer Wärme, obwohl sie nun bereits erheblich tiefer stand und der sich lichtende Strom der Ausflügler Kahlberg an das Verrinnen der Zeit und die Dringlichkeit zu handeln erinnerte.

Er zog sein Telefon hervor und wählte Hahnes Privatnummer. Sie nahm nach dem dritten Klingelzeichen ab und die Wärme, die in ihrer Stimme bei der formellen Begrüßung mitschwang, ließ die Freude über seinen Anruf erkennen. Er bedauerte sofort, keinen anderen Anlass gefunden zu haben, sie anzurufen, wie zum Beispiel ein Glas rheinland-pfälzischen Weines an einem der sonnigen Plätze am Düsseldorfer Rheinufer.

»Es tut mir leid, dass ich Sie stören muss«, leitete er sein Anliegen etwas ungelenk ein.

»Sie stören nicht, Kahlberg«, antwortete die vertraute Stimme und fügte eilig mit beinahe frivol anmutendem Ton hinzu: »Zumindest noch nicht um diese Uhrzeit.«

Kahlberg vergaß für einen Augenblick den Grund seines Anrufes und dachte darüber nach, was Hahne wohl an diesem Wochenende tun würde und es schwante ihm, dass der Plate ihr gegenüber am Rheinufer wohl bereits vergeben war. Hahne, seine Vorgesetzte, bei der er immer wieder Ausreden fand, es nicht doch einmal zu versuchen. Zu alt, mal wieder vergeben, Kollegin, wird sowieso nichts.

»Kahlberg? Sind Sie noch da?«, kam es plötzlich durch den Hörer.

Er riss sich zusammen. »Um es kurz zu machen, ich bin Zeuge gewesen, wie jemand ermordet wurde, den ich kannte. Und ich will diesen Fall haben.«

Dann erzählte er ihr die bisherigen Ereignisse bis ins kleinste Detail und legte Wert auf seinen nicht sonderlich positiven Eindruck betreffend der Polizeiwache und ihrer Besetzung.

»Der Fall wird sowieso nach oben weitergereicht, da können Sie mich auch gleich drauf ansetzen«, endete er entschlossen.

Hahne schwieg. Dann sagte sie: »Das kann so nur der Polizeipräsident entscheiden.«

»Gehen Sie besser gleich zum Innenminister.«

»Ich bitte Sie, der hat anderes zu tun.«

»Er ist mir noch was schuldig«, ließ Kahlberg nicht locker.

Hahnes Schweigen war diesmal wie eine Bestätigung. Kahlbergs Einsatz in Himmel hatte vor einiger Zeit verhindert, dass sich der Innenminister in ein wahres Wespennest an Korruption setzte.

Schließlich erklang ein Seufzen und: »Eine Beförderung ist dann allerdings wahrscheinlich nicht mehr der Lohn für Ihre Arbeit.«

»Ist mir egal, ich will diesen Fall haben«, sagte Kahlberg, und mit Nachdruck: »Ich muss ihn haben.«

Kahlberg hörte Hahne tief Luft holen. »Also gut«, sagte sie dann. »Ich rufe Sie in einer Stunde wieder an.«

Als sie aufgelegt hatten, trank Kahlberg den Rest seines Latte macchiato, stand auf und brachte das Glas zurück in das Selbstbedienungscafé. Als er wieder ins Freie trat, begann er, einem der ausgeschilderten Wanderwege zu folgen; es galt, etwas Zeit totzuschlagen.

Noch blühte die Heide nicht, nur vereinzelt leuchteten Blumen als vom Frühsommer hervorgelockte Farbsprenkel über dem dunkelgrünen Grund. Ein schmaler Fußweg wand sich über flache Hügel zwischen einsamen, grotesk verdrehten Bäumen, die es geschafft hatten, den Schafsherden und schroffen Winden der Hochheide zu trotzen.

Nach wenigen Minuten erreichte Kahlberg am Rand der Heide einen kleinen kreisförmigen Plate mit auf einer niedrigen Trockensteinmauer ruhenden Holzbänken. Mitten durch deren Rund zog sich ein winziges Rinnsal, welches einer Pfütze entsprang, die an der Hangseite zwischen den Bänken schimmerte. Hinter ihr prangte an einem großen Stein ein Messingschild. »Lennequelle« stand darauf.

Kahlberg musste grinsen. Endlich hatte er eine Quelle gefunden, wenn auch der hier entspringende Fluss sich seinen Weg nicht durch Himmel bahnte.

Er setzte sich auf eine der Bänke und spürte die Sonne auf seiner Haut. Das Rinnsal schimmerte wie flüssiges Metall, die fichtenbestandene Bergflanke zu seinen Füßen rauschte im Wind.

Nach und nach wurde er erneut Teil der Welt. In weniger als einer Stunde würde er eine Aufgabe haben.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?