Buchreihe:Respekt - Wirtschaft -

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Das meint ein deutscher Milliardär

Man muss differenzieren. Reinhold Würth, ein Pionier, ein Unternehmer und auch ein deutscher Milliardär hat dazu eine Meinung, die er im Alter von 85 Jahren ganz klar formuliert. Eine seiner Kernaussagen in einem Interview11 trifft mitten ins Herz meines Buchs: „Was machen die Reichen, die viel Geld besitzen, damit?“

Das, so der Milliardär und einer der reichsten Menschen Deutschlands, sei die wichtigere Frage, als die nach der Gerechtigkeit, wenn jemand sein Vermögen selbst erwirtschaftet habe. Würth selbst hat das Unternehmen seines Vaters übernommen und weitergeführt. Er habe „malocht wie selten ein Mensch“. Aus dem kleinen Unternehmen seines Vaters, welches er im Alter von 19 Jahren mit 2 Mitarbeitern übernommen hatte, wurde die heutige Firma mit 78.000 Mitarbeitern und 14,3 Milliarden Umsatz in 2019.

Eigentum verpflichtet

Er ist der Meinung, dass Eigentum verpflichtet und dass es die Aufgabe der Reichen sei, dem Gemeinwohl zu dienen.

Das ist übrigens nicht nur seine Meinung, sondern steht sogar klipp und klar im Artikel 14 des deutschen Grundgesetzes: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“

Über diesen Artikel 14 unseres Grundgesetzes habe ich lange nachgedacht und habe ihn beim Schreiben dieses Buchs immer als Ankerpunkt genommen. Ist es ok, dass jemand Milliarden verdient oder erbt, wenn gleichzeitig die Hälfte der Bevölkerung nichts hat? Meine Antwort ist ein klares Jein. Herr Würth hat seine Milliarden sicher verdient.

Zu Recht weist er darauf hin, dass ohne seine unternehmerische Leistung über 70.000 Menschen keinen Job hätten. Er verweist auch darauf, dass er und seine Familie sich viel im Bereich Kultur und Kunst engagieren und sich um Menschen mit Behinderung kümmern. Er nimmt den Artikel 14 ernst, aber er ist einer der wenigen Reichen, für die Eigentum verpflichtet – nach meiner Analyse. Die meisten sehen das zumindest lockerer. Natürlich ist bei Würth auch nicht alles Gold, was glänzt, wenn man genauer hinschauen würde, aber um den Einzelnen geht es nicht.

Dass die oberen zehn Prozent über zwei Drittel des Vermögens verfügen, bewerten einige natürlich auch als unkritisch. So habe ich einen Kommentar gefunden, der das auf den Punkt bringt und sicher für viele spricht: „Ich weiß nicht, wo hier das Problem liegen soll. Die oberen 10 % gehören (zu einem großen Teil) zu den Leistungsträgern unserer Gesellschaft. Das ist gelebter Kapitalismus!“12

Genau diesen Kommentar las ich zu einem Artikel in der Zeit Online. Der Kommentator hat natürlich absolut recht. Das ist gelebter Kapitalismus!

Wollen wir in einem solchen Kapitalismus leben?

Die Frage ist nur: Wollen wir in einem solchen Kapitalismus leben? Wollen wir in einem Wirtschaftssystem leben, in dem die „Leistungsträger“, die 10 % der Bevölkerung darstellen, 67 % des gesamten Vermögens besitzen? In einem kapitalistischen System, in dem die untere Hälfte nichts besitzt?

Das sind drastische Zahlen und ich habe sie auch bewusst dramatisch präsentiert. Bevor du aber jetzt voreilige Schlüsse ziehst und aufhörst dieses „kommunistische Manifest“ zu lesen: Dies ist kein kommunistisches Buch und auch kein sozialistisches.

Es ist ein kritisches Buch. Ablehnend gegenüber dem Kommunismus und ablehnend gegenüber dem Sozialismus. Es befürwortet den Kapitalismus und lehnt den Casinoskapitalismus ab. Verwirrt? Ich habe auch lange Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass es viele Arten des Kapitalismus gibt.

Kapitalismus ist nicht gleich Kapitalismus

Im Laufe der Jahrhunderte ist unsere gesellschaftliche und, damit einhergehend, unsere wirtschaftliche Ordnung entstanden. Die Menschheit hat sich von einfachen Menschen, die in Höhlen lebten, zu Menschen entwickelt, die bald per Rakete auf den Mars fliegen, mit autonomen Autos herumdüsen, mithilfe künstlicher Intelligenz Probleme lösen, Krankheiten bekämpfen und den eigenen Planeten zerstören.

Im Moment stehen wir jedoch an dem Punkt, an dem die Ungleichheit so groß ist, dass sie schon gefährlich wird. Wir stehen an dem Punkt, an dem die Ausbeutung der Natur so groß ist, dass es gefährlich wird.

Das wird immer weiter beschleunigt und wenn es uns nicht gelingt diese Trends zu stoppen und umzukehren, dann wird es böse enden. Das ist nicht nur meine Meinung, das ist die Meinung von sehr vielen.

Der Respektfilter

Was fehlt, ist ein Konzept. Ein einfaches Konzept, dem alle folgen können. Ein Konzept, welches leicht zu verstehen und jederzeit anwendbar ist. Dieses Buch zeigt dieses Konzept. Eigentum verpflichtet, ist eine Grundlage. Der Respekt vor anderen Menschen, der Respekt vor dem Tierwohl und der Respekt gegenüber der Natur ist die Formel, die jeder anwenden kann und sollte.

Das ist der Entscheidungsfilter für alle reichen Menschen, die sich fragen, was bedeutet „Eigentum verpflichtet“. Es ist aber auch der Entscheidungsfilter für alle anderen, die sich fragen, wie muss ich mich im täglichen Leben verhalten, was sollte ich tun und wo sind die Grenzen.

Das vorherrschende Konzept des immer freier agierenden Kapitalismus passt nicht durch diesen Filter, den ich den Respektfilter oder den Respektkompass nenne.

In einer Welt, in der ständig von respektlosen Menschen versucht wird, durch politische Einflussnahme mehr Profit zu machen, und durch Umgehungsmanöver Regeln gelockert und umgangen werden, wird die Ungleichheit größer und immer mehr Menschen wird es schlechter und schlechter gehen. Zwangsläufig.

Das war kriminell von Anfang an – Cum-Ex-Betrug

„Wollen wir wirklich in einer Welt leben, in der jeder jeden bescheißt?“, dies waren die Worte, die der Vorsitzende Richter in einem Prozess zu einem der größten Wirtschaftsskandale sprach, die Deutschland je erlebt hat. Der Betrugsskandal ist momentan am Köcheln, denn die Angeklagten beziehungsweise die Verurteilten im sogenannten Cum-Ex-Betrug haben ihr Recht auf Berufung in Anspruch genommen.

Roland Zickler ist einer der Richter, die kein Blatt vor den Mund nehmen. In einfachen Worten wusch er den Angeklagten den Kopf. Klar und deutlich waren seine Worte, auch wenn er immer versuchte alle Aspekte zu hören. Also auch die der Angeklagten.

Er fragte, vielleicht weil er es selbst nicht glauben konnte, bezüglich der Rolle der im Jahr 1798 gegründeten, angeblich „renommierten“ Bank M.M.Warburg & CO (AG & Co.) KGaA: „Und da kommen Sie hin und verkaufen denen den Griff in die Staatskasse, und da geht keinem von denen die Augen hoch?“ Der Angeklagte Frey antwortete: „Nein, es habe keine moralischen Skrupel gegeben, es sei immer nur um Gewinnmaximierung gegangen.“

Um mindestens 440 Millionen Euro wurde der Staat betrogen

Diese Gewinnmaximierung hat den Steuerzahler schlappe 440 Millionen gekostet. Mindestens. Das ist der Betrag, um den es bei diesem ersten Prozess seit dem September 2019 ging. Wie groß der gesamte Schaden durch diese – laut Richter Zickler – kriminellen Machenschaften ist, wird sich noch herausstellen. Im Moment sind 55 Milliarden, also 55 Tausend Millionen, identifiziert. Etwas mehr als „nur“ 400 Millionen!

Die Warburg Bank gibt sich indes weiterhin seriös. Auf der Webseite schreiben sie gleich ganz oben „Zuverlässigkeit ist eine der tragenden Säulen unseres Bankhauses. Sie ist die Grundlage für das gegenseitige Vertrauen zwischen Ihnen und uns als Ihrer Bank. Viele unserer Kunden sind bereits seit mehreren Generationen mit unserem Haus verbunden. In dieser dauerhaften und engen Verbundenheit kommt der Wert unserer Tradition ganz unmittelbar zum Ausdruck“. Und so weiter und so weiter. Bla bla bla …

Immerhin verwenden sie das Wort „renommiert“ nicht. Das hatte der Zeuge Frey immer wieder verwendet, bis dem Richter die Hutschnur hochging und er anordnete: „Je länger ich Ihnen zuhöre, umso größere Probleme habe ich mit dem Adjektiv ,renommiert‘ - Bitte verwenden Sie den Begriff sparsam“.

Scheinbar ist er der Meinung, dass Kriminelle nicht renommiert sein können und in unserer Gesellschaft keinen guten Ruf haben sollten. Ich werde auf diese großen Betrügereien der Turbokapitalisten weiter hinten im Buch noch genauer eingehen. Es wird um Millionen, Milliarden, ach was schreibe ich, es wird um Billionen, Millionen Milliarden Euro oder Dollar, Beträge mit 8 oder 9 Nullen gehen. Bleib am Ball, es wird spannend.

Kleinere Machenschaften – Tönnies

Zuvor drehen wir jedoch einmal ein kleineres Rad. Respektlosigkeit, Ausbeutung von Menschen und abscheuliche Machenschaften, die gegen jedes Tierwohl verstoßen, findet man leichter als die ganz großen Betrügereien.

Ein gutes Beispiel ist der Fleischproduzent Tönnies in Nordrhein-Westfalen. Er und sein Unternehmen sind das perfekte Negativ-Beispiel für den verlorenen oder nicht vorhandenen Respekt vor Menschen und dem Tierwohl. Obwohl der Skandal hohe Wellen schlägt, gerade zu der Zeit als ich diese Zeilen im Sommer 2020 schreibe, bin ich sicher, dass sich die Wogen glätten werden, die Menschen den Skandal schnell vergessen werden und alle wieder zum sogenannten „business as usual“ zurückkehren. Aber, weil der Fall Tönnies geradezu ein Paradebeispiel für die Perversionen des ungezügelten Kapitalismus darstellt, lohnt es sich an dieser Stelle, diese „Schweinerei“ einmal näher anzusehen.

So eine Schweinerei

Schweine müssen gefüttert werden. Mästen nennt man das. Völlig unabhängig, wie sie gehalten werden, sie müssen fressen, damit sie groß werden und damit man sie dann schlachten kann. Sie müssen gemästet werden. Das ist die Welt, in der wir heute leben.

 

Die heutige Tierhaltung und das Mästen an sich hat mit Tierwohl gar nichts mehr zu tun. Unter schlimmsten Umständen werden die Tiere gehalten, damit sie schnell wachsen, richtig wachsen und damit sie so früh wie möglich schlachtreif werden. Aber allem voran steht eben die Fütterung. Weil in Deutschland nicht genügend Schweinefutter produziert wird, muss man es importieren.

Deshalb findet man große Schweinefarmen und Schlachtbetriebe in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Futter kann günstig auf dem Seeweg dorthin geliefert werden und aus diesem Grund leben in den Landkreisen Vechta und Cloppenburg sechsmal so viele Schweine wie Menschen.

Jeder Dritte arbeitet rund um diese Industrie. Man spricht zwar von Schweinezucht, aber es ist inzwischen eine Industrie. Eine Industrie wie die Auto- oder Tourismusindustrie, die Luftfahrt- oder die Computerindustrie. In der Schweinezucht geht es also auch industriell zu und Profit ist das Ein und Alles.

Jedes Unternehmen muss automatisieren und Kosten sparen, wo immer es geht. Kosten sparen kann man, indem man Maschinen einsetzt, Prozesse standardisiert und automatisiert. Allerdings sind solche Maßnahmen sehr kostenintensiv und nur große Marktteilnehmer mit guten Verbindungen zum Kapital können sich einen solchen Ausbau leisten.

Alleine deshalb sind sie dann auch immer wieder gezwungen weiter Kosten zu optimieren und zu automatisieren, damit die Investoren mit entsprechenden Gewinnen belohnt werden können. Einziges Ziel dieser Unternehmen ist Profit und noch mehr Profit. Es ist der ungezügelte Kapitalismus in Aktion.

Einzelne Bauern haben keine Chance

Mitmachen kann zwar jeder, aber durch den Zwang zur Automatisierung und das zur Verfügung stehende Kapital können nur große und rein auf Profit getrimmte Unternehmen gewinnen. Kleine Unternehmen oder gar einzelne Bauern haben keine Chance. Wer den Schweinen ein bisschen Lebensraum gibt, kann keinen Profit machen.

Wer sich ein bisschen um das Tierwohl kümmert, kann keinen Profit machen. Wer sich also „dumm“ verhält, erhält auch keine Kredite und kann deshalb auch keine Profite an Investoren ausschütten. Wem das Tierwohl mehr wert ist als eine ordentliche Rendite, der wird abgedrängt von denen, für die Tiere nur industrielle Waren sind.

Das führt zur Machtkonzentration. Konzerne entstehen, die die Regeln machen. 80 % aller Schweine werden von zehn großen Konzernen geschlachtet. Die Schlachterei Tönnies kommt laut Interessengemeinschaft der Schweinehalter auf ca. ein Drittel aller Schweineverarbeitung.

Ein solch großer Marktanteil muss natürlich erkämpft und verteidigt werden. Ein solches Volumen muss organisiert werden und so strukturiert, dass es sich auch noch lohnt. Das Tierwohl spielt bei Tönnies keine große Rolle, weil die Schweine je dort eh nur geschlachtet werden. Allerhöchstens kann man analysieren, wie sie getötet werden und was mit den Tieren passiert, bevor sie getötet werden. Aber dort sind sicher keine großen Einsparungen zu erzielen.

Kostensenkung

Massive Kostensenkungen sind nur auf zwei Arten zu erzielen. Zum einen beim Einkauf der Schlachtprodukte, also der Schweine, und zum anderen bei der Haltung der anderen Tiere, die die Schweine verarbeiten. Wenn du jetzt kurz verwirrt bist, dann deshalb, weil ich die Menschen, die bei Tönnies schlachten, auch als Tiere bezeichnet habe. Biologisch gesehen sind wir ja auch nur Tiere. Wir haben zwar eine andere Gesellschaftsform als die Schweine entwickelt und können lesen und rechnen, aber biologisch gesehen ist der Mensch auch nur ein Säugetier, genauso wie Schweine und Hunde und sogar Wale, Robben, Seekühe und Seeotter.

Wie dem auch sei, um Kosten zu sparen, wendet Tönnies gezielt Maßnahmen an, die die Haltung des für ihn arbeitenden Tiers der Gattung Mensch optimiert. Leider ist die Sklavenhaltung in Deutschland verboten. Ärgerlicherweise gibt es zudem noch eine Menge Arbeitsschutzgesetze und eine umfangreiche Sozialgesetzgebung, damit der Staat entsprechende Einnahmen zum Wohle aller einnimmt. Deshalb hat man sich bei Tönnies ein sehr perfides System ausgedacht, wie man, zum Zwecke der Gewinnmaximierung, die Arbeiter behandelt.

Arbeitsschutz, Krankenversicherung und Anspruch auf Urlaub

Wenn ein Unternehmen Menschen beschäftigt, greifen zahlreiche Gesetze, die zum Schutz der Arbeitnehmer über Jahrhunderte entstanden sind. Für Urlaub, Krankenversicherung, für den 8-Stunden-Tag und die Rentenversicherung haben Gewerkschaften, Arbeitnehmerverbände und einzelne Parteien seit über 100 Jahren gekämpft. Damit soziale Standards gesetzlich verankert werden, die Arbeitnehmern ein einigermaßen gutes Leben ermöglichen.

Tönnies und viele andere Unternehmer, Manager und Unternehmen überlegen natürlich ständig, wie sie diese Maßnahmen aushebeln können und dadurch ihren Gewinn maximieren können. Dabei ist es nicht so, dass sie grob gegen geltende Gesetze verstoßen würden. In aller Regel bewegen sie sich innerhalb der Gesetze, wenn auch an den äußeren Rändern. Das ist aus rechtlicher Sicht in Ordnung, aus Respekt vor Menschen und dem Tierwohl sicher nicht, aber Respekt in diesem Sinne ist ja (noch) nicht gesetzlich festgelegt.

Aber genau wie Tönnies und Konsorten, die innerhalb der gesetzlichen Rahmenbedingungen handeln, haben auch die Sklavenhändler innerhalb des damaligen gesetzlichen Rahmens gehandelt. Zumindest unterstelle ich das einmal, auch wenn Sklavenhalter und Sklavenhändler den gesetzlichen Rahmen ihrer Zeit wahrscheinlich eher als Empfehlung sahen und Übertritte sicher häufiger an der Tagesordnung waren als heute.

Die heutigen Ausbeuter gehen subtiler vor und bleiben innerhalb der Regeln. Es liegt also an den Regeln, die offensichtlich Lücken aufweisen. Diese Lücken werden von Managern und ihren findigen Anwälten auf der ganzen Welt gesucht, gefunden und ausgenutzt. So auch bei Tönnies.

Sub-sub-sub-Unternehmen

In den Großschlachtereien wurden die Arbeitsleistungen und die Anstellungsverhältnisse der Arbeiter zur Vermeidung von Sozialabgaben und anderen Unannehmlichkeiten für den Arbeitgeber an externe Firmen ausgelagert. Das heißt, das Unternehmen stellt die Leute nicht selbst an, sondern beauftragt ein anderes Unternehmen mit dem Erbringen der Leistung. Soweit so gut.

Jetzt ist es aber nicht so, dass dieses andere Unternehmen ein deutsches Unternehmen sein muss, welches die Arbeiter anstellt und entsprechende Sozialabgaben an den deutschen Staat zahlt. Nein, dieses andere Unternehmen beauftragt wiederum ein weiteres Unternehmen und dieses vielleicht sogar noch ein oder zwei weitere. Damit entsteht ein Netzwerk von Sub-sub-sub-Unternehmen und die Haftung für Sozialabgaben, Urlaubsregelung, Arbeitsschutz und so weiter rückt mehrere Lagen von Tönnies und anderen ab. Bis zu 80 % der Belegschaft bei Tönnies waren Werkvertragsarbeiter. Angestellt waren oder sind sie bei windigen Subunternehmern.

Diese Subunternehmer kümmern sich um die meist osteuropäischen Arbeiter mit Rundum-Sorglos-Paketen. Sie rekrutieren die Arbeiter in ihren Heimatländern, sie transportieren sie an den Arbeitsplatz, sie stellen Werkzeuge zur Verfügung und auch eine Wohnung. Hört sich doch sehr gut an oder nicht?

Im Prinzip ja, aber … Der deutsche Arbeitsminister Hubertus Heil fand, dass die Wohnungen heruntergekommene Sammelunterkünfte oder Verschläge waren. Winzige Löcher, die im Schichtbetrieb von Menschen „bewohnt“ wurden. In der sich mehrere ein Bett teilten und schlafen konnten, wenn der jeweilige „Mitbewohner“ des Betts gerade arbeitete.

Natürlich müssen die Arbeiter für die Verschläge und die Schlafmöglichkeit zahlen. Es wurden Fälle bei einem anderen Unternehmen gefunden, in denen ganze 150 Euro für die „Wohnung“ von dem kargen Lohn von 1.000 Euro abgezogen wurden. Weiterhin werden in der Regel Abzüge für das zur Verfügung gestellte Werkzeug, also zum Beispiel Messer, und natürlich für den Transport vorgenommen. Übrig bleibt zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben.

1.900 „mittlere und gravierende Mängel“

Eine Untersuchung der Behörden Ende Mai 2020 deckte die Vorwürfe, die schon länger bekannt waren, auf. In einem Bericht wurden die Ergebnisse von Kontrollen in 650 Sammel- und Gemeinschaftsunterkünften zusammengefasst. Die Prüfer monieren demnach insgesamt 1.900 „mittlere und gravierende Mängel“. Die Beanstandungen reichten von „fehlenden Hygienemaßnahmen wie fehlendem Desinfektionsmittel“ bis hin zu „Schimmelpilzbefall, Einsturzgefahr, undichten Dächern, katastrophalen Sanitäreinrichtungen, Ungezieferbefall und Brandschutzmängeln“, zitiert die Zeitung aus dem Bericht. Vier Wohnungen hätten wegen Bau- und Hygienemängeln umgehend geräumt werden müssen.13

Allgemein bekannt wurden diese Umstände im Juni 2020 nach einem schlimmen Coronavirusausbruch in der Fleischfabrik von Clemens Tönnies in Rheda-Wiedenbrück. Wegen der ,Massentierhaltung‘ – und ich rede hier von dem Tier Mensch, also den Arbeitern, welche unter diesen verheerenden Umständen ,gehalten‘ wurden – mussten 7.000 Mitarbeiter auf eine Coronainfektion getestet werden und am Ende wurde die Fabrik geschlossen.

Die Zahl der Infizierten im Landkreis Gütersloh sprengte die Obergrenzen und es kam zu einem zeitweiligen Lockdown. Die Menschen mussten zu Hause bleiben und einige, die an der Küste im Urlaub waren, wurden von den dortigen Vermietern gebeten nach Hause zu fahren. Wer aus dem Großraum Gütersloh kam, wurde stigmatisiert und zum Ausgestoßenen.

Ändern muss sich etwas, so der einhellige Tenor fast aller Parteien und Politiker im Sommer 2020, nachdem die Missstände der Allgemeinheit bekannt wurden. Insider wussten das schon lange und zu diesen Insidern gehörten auch zahlreiche Politiker, die aber Vogel Strauß spielten. Kopf in den Sand stecken und alles weiterlaufen lassen, wie es war.

Aber das war nun vorbei und die Welle der Empörung, die durch das Land zog, sollte mit einem Gesetz gegen diese Leiharbeit und Werkverträge schnell gestoppt werden.

Den Gesetzentwurf zum Verbot der Werk- und Leiharbeitsverträge in industriellen Schlachtbetrieben hatte der Bundestag eigentlich Ende Oktober verabschieden wollen. Nach den Plänen von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sollte es zum 1. Januar 2021 in Kraft treten. Doch am 23. Oktober verschwand es plötzlich von der Tagesordnung. Der Grund: Die Union hatte „noch Gesprächsbedarf“.14