Du bist das Placebo

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2. Eine kurze Geschichte des Placebos

Wie heißt es doch? Verzweifelte Zeiten erfordern verzweifelte Maßnahmen. Als der an der Harvard-Universität ausgebildete amerikanische Chirurg Henry Beecher während des Zweiten Weltkriegs beim Militär diente, ging ihm das Morphium aus. Gegen Ende des Krieges war in den Feldlazaretten Morphium Mangelware, das war also eigentlich nichts Ungewöhnliches. Beecher wollte gerade einen schwer verwundeten Soldaten operieren. Ohne Schmerzmittel, so fürchtete er, würde der Soldat einen tödlichen Herzkreislaufschock erleiden. Doch dann geschah etwas für ihn höchst Erstaunliches.

Völlig gelassen füllte eine der Krankenschwestern eine Spritze mit einer Salzlösung und verabreichte sie dem Soldaten, als wäre es Morphium. Sofort wurde der Soldat ruhig und reagierte, als ob er tatsächlich das Medikament injiziert bekommen hätte, obwohl es doch nur ein bisschen Salzwasser war. Beecher machte mit der Operation weiter, schnitt dem Soldaten ins Fleisch, führte die nötigen Behandlungen aus und nähte ihn wieder zusammen – und das alles ohne Narkose. Der Soldat verspürte nur wenig Schmerzen und geriet auch nicht in einen Schock. Wie, so fragte sich Beecher, konnte Salzwasser für Morphium einspringen?

Nach diesem fantastischen Erfolg machte Beecher jedes Mal, wenn dem Feldlazarett das Morphium ausging, das Gleiche: Er injizierte eine Salzlösung, als ob er Morphium spritzen würde. Diese Erfahrung überzeugte ihn von der Wirksamkeit von Placebos, und als er nach dem Krieg in die USA zurückkehrte, untersuchte er dieses Phänomen.

1955 schrieb Beecher mit einer klinischen Studie Geschichte, die im »Journal of the American Medical Association« veröffentlicht wurde. Darin ging es nicht nur um die ungeheuer große Bedeutung von Placebos; Beecher forderte auch ein neues Modell medizinischer Forschung, basierend auf der randomisierten Zuweisung von Probanden in Gruppen, die entweder wirksame Medikamente oder Placebos erhielten – heute unter dem Namen randomisierte kontrollierte Studien bekannt –, damit der starke Placebo-Effekt die Ergebnisse nicht verzerrte.1

Die Vorstellung, wir könnten die physische Realität nur durch –mehr oder weniger bewusste – Gedanken, Überzeugungen und Erwartungen verändern, ist keineswegs neu. Die Bibel steckt voller Geschichten über Wunderheilungen, und noch heute pilgern die Menschen scharenweise nach Lourdes in Südfrankreich (wo 1858 dem 14-jährigen Bauernmädchen Bernadette die Jungfrau Maria erschien) und lassen dort als Beweis für ihre Heilung ihre Krücken und Rollstühle zurück.

Ähnliche Wunderberichte gibt es aus Fátima in Portugal (wo drei Schäferkinder 1917 eine Marienerscheinung hatten) und über eine Marienstatue, die anlässlich des 30. Jahrestages dieser Erscheinung geschnitzt wurde und in der Welt »herumreist«. Die Statue wurde anhand der Beschreibung des ältesten der drei Kinder angefertigt, eines Mädchens, das Nonne geworden war, und wurde von Papst Pius XII. gesegnet, bevor sie ihre Reise um die Welt antrat.

Gesundbeten bzw. Wunderheilungen finden sich keineswegs nur in der christlichen Tradition. Der verstorbene indische Guru Sathya Sai Baba, der von vielen seiner Anhänger als Avatar – die Manifestation einer Gottheit – angesehen wird, konnte aus seinen Handflächen heilige Asche, die sogenannte vibhuti, materialisieren. Eingenommen oder als Paste auf die Haut aufgetragen, konnte diese feine graue Asche angeblich viele körperliche, mentale und spirituelle Leiden heilen. Auch einigen tibetischen Lamas werden Heilkräfte nachgesagt; sie blasen ihren Atem über die Kranken, die daraufhin gesunden.

Sogar einige französische und englische Könige, die zwischen dem 4. und 9. Jahrhundert regierten, heilten ihre Untertanen durch Handauflegen. Besonders König Karl II. von England war bekannt dafür und hat es ungefähr hunderttausend Mal praktiziert.

Was ist die Ursache solcher Wundertaten – ob die Heilung nun allein durch Gottesglauben oder die außergewöhnlichen Kräfte eines Menschen, anhand eines Objekts oder eines als heilig angesehenen Ortes stattfindet? Durch welchen Prozess können Glauben und Überzeugungen solche tiefgreifenden Wirkungen haben? Spielt beim Placebo-Phänomen womöglich auch die Bedeutung eine Rolle, die einem Ritual beigemessen wird – sei es nun das Aufsagen eines Rosenkranzes, das Einreiben von heiliger Asche auf die Haut oder die Einnahme einer neuen Wundermedizin, die von einem vertrauenswürdigen Arzt verschrieben wurde? Wurde die innere mentale Befindlichkeit der auf diese Weise Geheilten vielleicht von den äußeren Umständen (eine Person, ein Ort, eine Sache zum passenden Zeitpunkt) so stark beeinflusst bzw. geändert, dass ihr neuer mentaler Zustand tatsächlich reale physische Veränderungen bewirkte?

Vom Magnetismus zur Hypnose

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts machte sich der Wiener Arzt Franz Anton Mesmer mit der Entwicklung und Demonstration eines medizinischen Modells der Wunderheilung einen Namen. Er entwickelte eine Idee von Sir Isaac Newton über die Auswirkung der Schwerkraft des Planeten auf den menschlichen Körper weiter und war der Überzeugung, der Körper enthielte eine unsichtbare Flüssigkeit, die man anhand einer von ihm als »animalischer Magnetismus« bezeichneten Kraft manipulieren und zu Heilungszwecken einsetzen könnte.

Seine Technik bestand unter anderem darin, seine Patienten zu bitten, ihm tief in die Augen zu schauen, und dann Magnete über ihren Körper zu bewegen; damit sollte diese magnetische Flüssigkeit geleitet und ausbalanciert werden. Wie er später herausfand, reichte es, nur die Hände (ohne Magnete) zu bewegen und denselben Effekt zu produzieren. Kurz nach Beginn der Sitzung begannen seine Patienten zu zittern und zu zucken, dann verfielen sie in Krämpfe, die Mesmer als therapeutisch erachtete. Mesmer machte mit dem Ausbalancieren der Flüssigkeit weiter, bis sich der Patient oder die Patientin wieder beruhigt hatte. Mit dieser Technik heilte er alle möglichen Beschwerden, von ernsthaften Erkrankungen wie Lähmungen und konvulsiven Störungen bis hin zu weniger schlimmen Problemen wie Menstruationsbeschwerden und Hämorrhoiden.

Sein berühmtester Fall war die noch sehr junge Konzertpianistin Maria-Theresia von Paradis, die er teilweise von »hysterischer Blindheit« kurierte, einer psychosomatischen Störung, unter der sie seit ihrem dritten Lebensjahr litt. Sie blieb wochenlang in Mesmers Haus, wo er mit ihr arbeitete und ihr dazu verhalf, Bewegungen wahrzunehmen und sogar Farben zu unterscheiden. Ihre Eltern waren von ihren Fortschritten allerdings nicht sehr erfreut, denn ihnen ging eine königliche Pension verloren, falls ihre Tochter geheilt würde. Außerdem verschlechterte sich mit zunehmendem Sehsinn ihr Klavierspiel, denn jetzt konnte sie ihre Finger auf den Klaviertasten beobachten. Hinzu kamen nie bestätigte Gerüchte, Mesmers unterhielte eine unschickliche Beziehung zu der jungen Pianistin. Ihre Eltern holten sie mit Gewalt aus Mesmers Haus, ihre Blindheit kehrte zurück, und Mesmers Ruf nahm beträchtlichen Schaden.

Armand-Marie-Jacques de Chastenet, ein französischer Aristokrat, der auch als Marquis de Puységur bekannt war, hatte Mesmer beobachtet und führte seine Ideen auf die nächste Ebene. Puységur brachte seine Klienten in einen sogenannten »magnetischen Somnambulismus« (ein Zustand ähnlich wie Schlafwandeln), in dem sie Zugang zu ihren tiefsten Gedanken und Intuitionen über ihre Gesundheit und die Gesundheit anderer Leute hatten. Sie waren in diesem Zustand extrem beeinflussbar und befolgten Anweisungen; wenn sie wieder aufwachten, konnten sie sich an nichts erinnern. Mesmer hatte geglaubt, der Praktizierende habe Macht über die Patienten, Puységur dagegen hielt die Gedanken der Patienten über ihren Körper für die treibende Kraft (die vom Praktizierenden gelenkt wurde). Vielleicht war das einer der ersten therapeutischen Versuche, die Geist-Körper-Beziehung zu erforschen.

In den 1800er-Jahren entwickelte der schottische Chirurg James Braid die Vorstellung des Mesmerismus noch weiter zum Konzept der »Neurypnose« (was heute als Hypnose bekannt ist). Braid war fasziniert, als er eines Tages zu einem Termin zu spät kam und sein auf ihn wartender Patient ganz ruhig und intensiv die flackernde Flamme einer Öllampe anstarrte. Wie Braid feststellte, befand sich der Patient, solange seine Aufmerksamkeit so gefesselt war und bestimmte Teile seines Gehirns dadurch »ermüdet« wurden, in einem extrem beeinflussbaren Zustand.

Braid experimentierte herum und lernte, wie er seine Patienten dazu bringen konnte, sich auf einen einzigen Gedanken zu konzentrieren, während sie ein Objekt betrachteten; dadurch gerieten sie in einen ähnlichen Trancezustand, in dem er sie von ihren Störungen heilen konnte, unter anderem chronisches Rheuma, Sinnesschädigungen und alle möglichen Beschwerden aufgrund von Wirbelsäulenverletzungen oder Schlaganfällen. Braids Buch »Neurypnology« berichtet im Detail über viele seiner Erfolge, unter anderem ist davon zu lesen, wie er eine 33-jährige Frau heilte, deren Beine gelähmt waren, ebenso eine 54-jährige Frau mit Hautproblemen und schlimmen Kopfschmerzen.

Der angesehene französische Neurologe Jean-Martin Charcot mischte sich in Braids Arbeit ein und behauptete, eine solche Trance sei nur bei Menschen möglich, die unter Hysterie litten, was er als unheilbare ererbte neurologische Störung betrachtete. Er nutzte Hypnose nicht zur Heilung seiner Patienten und Patientinnen, sondern um ihre Symptome zu studieren. Schließlich behauptete einer von Charcots Rivalen, ein Arzt namens Hippolyte Bernheim von der Universität Nancy, die Suggestibilität, die für die Hypnose so ein entscheidendes Element war, sei nicht auf Hysteriker beschränkt, sondern sei von Natur aus allen Menschen angeboren. Er gab seinen Versuchspersonen bestimmte Ideen ein und sagte ihnen, wenn sie aus der Trance aufwachten, würden sie sich besser fühlen und ihre Symptome würden verschwinden. So nutzte er die Kraft der Suggestion als ein therapeutisches Instrument. Bernheim machte mit seiner Arbeit bis Anfang des 20. Jahrhunderts weiter.

 

***

Der Fokus und die Technik dieser frühen Erforscher der Suggestibilität wiesen leichte Unterschiede auf; doch sie alle konnten Hunderten von Menschen bei sehr vielen physischen und mentalen Problem helfen, indem sie deren Gedanken und mentale Vorstellungen über ihre Beschwerden sowie deren körperlichen Ausdruck veränderten.

Während der beiden Weltkriege nutzten Militärärzte, allen voran der Militärpsychiater Benjamin Simon, das Konzept der hypnotischen Suggestibilität (auf welches im weiteren Verlauf noch weiter eingegangen wird), um traumatisiert heimkehrenden Soldaten zu helfen, die unter der sogenannten Kriegsneurose (heute: posttraumatische Belastungsstörung) litten. Diese Kriegsveteranen hatten im Krieg Fürchterliches erlebt. Manche waren deshalb aus einem Selbsterhaltungstrieb heraus emotional abgestumpft, andere hatten eine Amnesie entwickelt, um diese Ereignisse zu verdrängen, oder – was noch schlimmer war – sie erlebten sie immer und immer wieder in Rückblenden. All das kann stressbedingte körperliche Krankheiten verursachen.

Wie Simon und seine Kollegen feststellten, war Hypnose extrem nützlich, um diesen Veteranen dabei zu helfen, ihre Traumata anzuschauen und so weit zu bewältigen, dass sie sich nicht in Form von Angstzuständen und physischen Beschwerden (wie Übelkeit, Bluthochdruck und anderen kardiovaskulären Störungen, ja sogar Immunsuppression) zeigten. Wie die Ärzte im vorgehenden Jahrhundert halfen Militärärzte mittels Hypnose ihren Patienten, ihre Denkmuster zu verändern, um sich wieder besser zu fühlen und mental und körperlich gesund zu werden.

Aufgrund des großen Erfolgs dieser Hypnose-Techniken begannen sich auch zivile Ärzte für Suggestibilität zu interessieren. Meistens versetzten sie ihre Patienten allerdings nicht in Trance, sondern gaben ihnen hin und wieder Zuckerpillen und andere Placebos und sagten ihnen, diese »Arzneimittel« würden ihnen helfen, gesund zu werden, was auch oft der Fall war. Die Patienten reagierten suggestiv ähnlich wie Beechers verwundete Soldaten, als sie meinten, ihnen würde Morphium gespritzt.

Das war Beechers große Zeit. Nachdem er 1955 seine bahnbrechende Studie geschrieben und randomisierte, kontrollierte Studien mit Placebos für Arzneimitteltests gefordert hatte, wurde das Placebo ernsthaft medizinisch erforscht. Zunächst erwartete man, die Kontrollgruppe (die das Placebo erhielt) würde lediglich neutral reagieren und der Vergleich zwischen Kontrollgruppe und der Gruppe, die das wirksame Medikament einnahm, würde zeigen, wie gut dieses Medikament wirkte. Doch in vielen Studien ging es auch der Kontrollgruppe besser – nicht einfach so, sondern aufgrund ihrer Erwartung und Überzeugung, sie würden das Medikament bzw. eine Behandlung bekommen, die ihnen helfen würde. Das Placebo an sich war vielleicht unwirksam, hatte allerdings sehr wohl eine Wirkung, und diese Überzeugungen und Erwartungen waren, wie sich herausstellte, ungeheuer mächtig! Um diese Daten wirklich zu verstehen, musste dieser Effekt jedoch entsprechend aus den Daten herausgearbeitet werden.

Zu diesem Zweck und unter Berücksichtigung von Beechers Forderung etablierten sich die inzwischen allgemein üblichen randomisierten Doppelblindstudien. Dabei werden die Probanden willkürlich entweder der Placebo-Gruppe oder der »aktiven« Gruppe zugeordnet, und weder die Teilnehmer noch die Forscher wissen, wer nun das echte Medikament und wer ein Placebo bekommt. So kann der Placebo-Effekt in beiden Gruppen gleichermaßen zum Tragen kommen, und eine unterschiedliche Behandlung der beiden Gruppen durch die Wissenschaftler wird ausgeschlossen (heutzutage gibt es sogar Dreifach-Blindtests, das heißt, neben den Forschern und Probanden werden auch die Statistiker, die die Daten auswerten, darüber im Dunkeln gelassen, wer nun was einnimmt, bis die Studie und die Datenanalyse abgeschlossen sind).

Die Erforschung des Nocebo-Effekts

Natürlich gibt es auch immer eine Kehrseite. Dem Phänomen der Suggestibilität wurde wegen seiner Heilkraft verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt; dabei wurde allerdings auch klar, dass eben dieses Phänomen auch Schaden anrichten konnte, wie Zaubersprüche und Voodoo-Flüche belegten.

In den 1940er-Jahren untersuchte der Harvard-Physiologe Walter Bradford Cannon (der 1932 den Begriff »fight or flight« bzw. »Kampf oder Flucht« geprägte hatte) die extreme Nocebo-Reaktion, die er als »Voodoo-Tod« bezeichnete.2 Cannon analysierte eine Reihe von Einzelberichten über Menschen mit einem starken kulturellen Glauben an die Macht von Medizinmännern bzw. Voodoo-Priestern, die nach einem Fluch oder einem Schadzauber aus heiterem Himmel krank wurden und starben, obwohl augenscheinlich weder eine Verletzung noch eine Vergiftung oder Infektion vorlagen.

Seine Forschungsarbeit legte das Fundament für den Großteil unserer Kenntnisse darüber, wie Krankheiten durch physiologische Reaktionen des Körpers auf Emotionen (insbesondere Angst) entstehen können.

Der Glaube des Opfers an die tödliche Macht des Fluches an sich sei nur eine »Zutat« zu der psychologischen Suppe, die letztendlich den Tod herbeiführt, sagte Cannon. Ein weiterer Wirkfaktor sei die soziale Ächtung und Ablehnung, auch durch die eigene Familie. Solche Menschen würden schnell zu wandelnden Toten.

Schädliche Wirkungen von an sich harmlosen Ausgangsstoffen sind natürlich nicht auf Voodoo beschränkt. In den 1960er-Jahren wurde von Wissenschaftlern der Begriff Nocebo geprägt (lateinisch für »ich werde schaden«, im Gegensatz zum lateinischen placebo, »ich werde gefallen«), womit eine wirkungslose Substanz bezeichnet wird, die schädliche Auswirkungen hat – einfach weil jemand das glaubt oder erwartet.3 Der Nocebo-Effekt zeigt sich zum Beispiel in Arzneimitteltests, wenn Probanden zwar ein Placebo zu sich genommen haben, jedoch bestimmte Nebenwirkungen entwickeln, weil sie beim Gedanken an das Medikament auch an die ganzen potenziellen Nebenwirkungen denken.

Aus naheliegenden ethischen Gründen gibt es nur wenige Studien, die sich auf dieses Phänomen konzentrieren. Ein berühmtes Beispiel ist eine 1962 in Japan durchgeführte Studie mit einer Gruppe Kinder, die alle extrem allergisch auf Giftefeu bzw. Giftsumach reagierten.4 Die Forscher rieben bei jedem Kind ein Blatt des Giftsumachs auf den Unterarm, sagten dem Kind aber, das Blatt sei harmlos. Zur Kontrolle wurde der andere Unterarm mit einem ungiftigen Blatt abgerieben, welches angeblich Giftefeu war. Elf der 13 Kinder bekamen keinerlei Ausschlag an der Stelle, wo sie in Berührung mit dem Gift kamen.

Das war höchst erstaunlich, denn wie konnten Kinder, die eine starke Allergie gegen Giftefeu hatten, bei Kontakt keinen Ausschlag bekommen, jedoch bei Kontakt mit einem völlig ungiftigen Blatt mit einem Ausschlag reagieren? Der neue Gedanke, nämlich dass das Blatt für sie unschädlich sei, überschrieb ihre Erinnerung und ihre Überzeugung, dagegen allergisch zu sein, und so war der Giftefeu für sie harmlos. Umgekehrt galt dasselbe für den zweiten Teil des Experiments: Ein harmloses Blatt wurde allein durch Gedanken giftig. In beiden Fällen reagierte der Körper der Kinder anscheinend umgehend auf einen neuen Geist.

Bei diesem Beispiel könnte man sagen, die Kinder wurden irgendwie von ihrer zukünftigen Erwartung einer physischen Reaktion auf das giftige Blatt befreit, die sie aufgrund von in der Vergangenheit erlebten allergischen Reaktionen hegten. Sie transzendierten irgendwie eine vorhersehbare Zeitachse, was auch vermuten lässt, dass sie über die Gegebenheiten ihrer Umwelt (das Blatt des Giftsumachs) irgendwie hinauswuchsen. Und sie waren in der Lage, ihre Körperphysiologie einfach durch ein Umdenken zu verändern und zu steuern. Dieser erstaunliche Beweis, dass Gedanken (in Form von Erwartungen) mehr Einfluss auf den Körper haben könnten als die »reale« physische Umgebung, läutete die Ära des neuen wissenschaftlichen Gebiets der Psychoneuroimmunologie ein – der Auswirkungen von Gedanken und Emotionen auf das Immunsystem, ein wichtiger Teil der Geist-Körper-Verbindung.

Im Rahmen einer weiteren bemerkenswerten Studie aus den 1960er-Jahren wurden Asthmatiker untersucht.5 40 Asthma-Patienten wurden Inhalatoren gegeben, die nur Wasserdampf enthielten; den Probanden wurde aber gesagt, es sei ein Allergen bzw. ein Reizstoff darin. 19 der Patienten (48 Prozent) erlitten daraufhin Asthmasymptome wie eine Beeinträchtigung der Atemwege, 12 (30 Prozent) hatten ausgewachsene Asthmaanfälle. Dann wurden diesen Probanden Inhalatoren gegeben, die angeblich ein Medikament zur Linderung der Symptome enthielten, und bei allen wurden die Atemwege wieder frei – obwohl wieder nur Wasserdampf enthalten war.

In beiden Fällen – dem Auftreten von Asthmasymptomen und deren dramatischer Rückgang – reagierten die Patienten nur auf Suggestion, den Gedanken, den ihnen die Wissenschaftler eingegeben hatten, und ihre Reaktionen waren genau wie erwartet. Sie wurden krank, wenn sie dachten, sie hätten etwas Krankmachendes eingeatmet, und wieder gesund, als sie dachten, sie würden ein Medikament einatmen – und diese Gedanken waren stärker als ihr Umfeld, stärker als die Realität. Man könnte auch sagen, ihre Gedanken erzeugten eine brandneue Realität.

Was sagt das über die von uns gehegten Überzeugungen und alltäglichen Gedanken aus? Sind wir anfälliger für eine Grippe, weil wir den ganzen Winter überall auf Artikel über die Grippesaison und Anzeigen für Grippeimpfungen stoßen – was uns daran erinnert, dass wir krank werden, wenn wir uns nicht impfen lassen? Werden wir vielleicht allein durch den Anblick einer Person mit grippeähnlichen Symptomen krank, weil wir genauso denken wie die Kinder in der Studie über den Giftefeu, die von einem harmlosen Blatt einen Ausschlag bekamen, oder wie die Asthmatiker, deren Bronchien stark auf das Einatmen von bloßem Wasserdampf reagierten?

Leiden wir womöglich, wenn wir älter werden, eher unter Arthritis, steifen Gelenken, einem schlechten Gedächtnis, nachlassender Energie und weniger Lust auf Sex, weil das die Version der Wahrheit ist, mit der wir ständig durch Anzeigen, Werbespots, Fernsehshows und Medienberichte bombardiert werden? Welche anderen selbsterfüllenden Prophezeiungen erzeugen wir mental im Kopf, ohne uns dessen bewusst zu sein? Und welche »unausweichlichen Wahrheiten« können wir erfolgreich einfach durch neue Gedanken und neue Überzeugungen umkehren?

Die ersten großen Durchbrüche

In einer bahnbrechenden Studie wurde Ende der 1970er-Jahre zum ersten Mal nachgewiesen, dass ein Placebo genauso die Ausschüttung von Endorphinen (das sind die natürlichen körpereigenen Schmerzmittel) auslösen kann wie bestimmte wirksame Medikamente. Im Rahmen der Studie gab Jon Levine, M.D., Ph.D., von der Universität von Kalifornien in San Francisco 40 Zahnarztpatienten, denen gerade die Weisheitszähne gezogen worden waren, Placebos statt schmerzstillende Mittel.6 Die meisten Patienten sagten, das Mittel habe gewirkt, was nicht verwundert, denn sie dachten ja, sie hätten ein entsprechenden Medikament bekommen. Doch dann verabreichten die Forscher den Patienten Naloxon, ein Morphium-Antidot, welches im Gehirn die Rezeptoren für Morphium und auch Endorphine (endogenes Morphium) blockiert. Und die Schmerzen kehrten zurück: ein Beweis dafür, dass die Patienten durch die Einnahme des Placebos selbst Endorphine produziert hatten – ihr körpereigenes Schmerzmittel. Das war ein Meilenstein in der Geschichte der Placebo-Forschung, denn das bedeutete, die Schmerzlinderung, die die Probanden verspürten, fand nicht nur mental im Kopf statt, sondern im Geist und im Körper – in ihrem Seinszustand.

Wenn der menschliche Körper gewissermaßen seine eigene Apotheke enthält und seine eigenen Schmerzmittel produzieren kann, könnte er dann nicht auch vollkommen in der Lage sein, bei Bedarf aus der unendlichen Anzahl an chemischen Mixturen und Heilpräparaten andere natürliche Arzneistoffe anzufertigen und abzugeben – Medizin, die genauso wirkt wie die vom Arzt verschriebenen Medikamente oder sogar noch besser?

Eine weitere Studie aus den 1970er-Jahren des Psychologen Robert Ader, Ph.D., von der Universität von Rochester führte eine weitere faszinierende Größe in die Placebo-Debatte ein: das Element der Konditionierung. Die Idee der Konditionierung hatte durch den russischen Physiologen Ivan Pawlow Berühmtheit erlangt. Es geht dabei um Assoziationen – so wie die Pawlow’schen Hunde den Klang der Glocke mit Futter assoziierten, nachdem Pawlow sie jeden Tag vor der Fütterung geläutet hatte. Mit der Zeit waren die Hunde darauf konditioniert, beim Klang der Glocke in Erwartung ihres Fressens automatisch Speichel zu produzieren. Ihr Körper lernte, auf einen neuen Reiz in ihrem äußeren Umfeld (in diesem Fall die Glocke) physiologisch zu reagieren, auch wenn der ursprüngliche Anreiz, der diese Reaktion ausgelöst hatte (das Futter), gar nicht vorhanden war.

 

Man könnte also sagen, dass bei einer konditionierten Reaktion die dem Körper innewohnende unterbewusste Programmierung (darüber später mehr) den bewussten Geist außer Kraft zu setzen und die Führung zu übernehmen scheint. Dann ist der Körper tatsächlich darauf konditioniert, zum Geist zu werden, da das bewusste Denken nicht mehr vollständig die Kontrolle hat.

Bei Pawlow wurden die Hunde mehrmals dem Geruch, Anblick und Geschmack des Futters ausgesetzt, dann läutete Pawlow die Glocke. Mit der Zeit änderten die Hunde beim Klang der Glocke automatisch ihren physiologischen und chemischen Zustand; ihr autonomes Nervensystem – das unterbewusste System des Körpers – übernahm die Kontrolle. Konditionierung erzeugt also durch Assoziation zwischen vergangenen Erinnerungen und erwarteten inneren Auswirkungen (das sogenannte assoziative Gedächtnis) unterbewusste Veränderungen im Körper, bis die erwarteten bzw. vorweggenommenen Endergebnisse tatsächlich eintreffen. Je stärker die Konditionierung ist, desto weniger können wir diese Prozesse bewusst steuern und desto automatischer läuft die unterbewusste Programmierung ab.

Ader untersuchte zunächst, wie lange solche konditionierten Reaktionen andauern. Er gab Laborratten mit Saccharin gesüßtes Wasser zu trinken, dem hohe Mengen an Cyclophosphamid beigemischt waren, ein Mittel, das Magenschmerzen verursacht. Ader ging davon aus, dass die Ratten nach der Konditionierung und assoziativen Verbindung des süßen Geschmacks des Wassers mit dem Bauchweh schon bald das dotierte Wasser nicht mehr trinken würden. Er wollte herausfinden, wie lange sie das Wasser verweigerten, um dadurch zu berechnen, wie lange die konditionierte Reaktion anhalten würde.

Cyclophosphamid unterdrückt allerdings auch das Immunsystem, was Ader anfangs nicht wusste; und so war er überrascht, als seine Ratten ganz unerwartet an bakteriellen und Vireninfektionen starben. Er verlegte sich nun darauf, den Ratten Saccharinwasser ohne Cyclophosphamid einzuflößen (zwangsweise mit einer Pipette). Und obwohl sie den Immunsuppressor nicht mehr einnahmen, starben sie auch weiterhin an Infektionen (wohingegen es der Kontrollgruppe, die die ganze Zeit nur gesüßtes Wasser bekam, gut ging). Wie Ader in Zusammenarbeit mit dem Immunologen Nicholas Cohen, Ph.D., von der Universität von Rochester herausfand, produzierte gesüßtes Wasser bei den Ratten – nachdem sie erst einmal darauf konditioniert waren, dessen Geschmack mit dem Effekt des immununterdrückenden Medikaments zu assoziieren – dieselbe physiologische Wirkung wie das Medikament; dem Nervensystem wurden Signale gesandt, das Immunsystem zu unterdrücken.7

Wie Sam Londe aus Kapitel 1 starben Aders Ratten allein durch die Erwartung. Der Geist konnte den Körper unterbewusst stärker aktivieren, als es die Wissenschaftler je für möglich gehalten hätten.

Der Westen trifft auf den Osten

Zu dieser Zeit gewann die östliche Praxis der Transzendentalen Meditation (TM), wie sie von dem indischen Guru Maharishi Mahesh Yogi gelehrt wurde, in den Vereinigten Staaten immer mehr Anhänger, vor allem weil sich auch berühmte Persönlichkeiten (als Erstes die Beatles in den 1960er-Jahren) dafür begeisterten. Bei dieser Technik besteht das Ziel darin, durch das Beruhigen des Geistes und Wiederholen eines Mantras im Laufe einer zweimal täglich praktizierten 20-minütigen Meditation spirituelle Erleuchtung zu erlangen. Auch der Kardiologe Herbert Benson von der Harvard-Universität wurde auf diese Technik aufmerksam und wollte herausfinden, wie man damit Stress reduzieren und die Risikofaktoren von Herzerkrankungen senken könnte. Er befreite den Prozess von seinen mystischen Elementen und entwickelte eine ähnliche Technik, die sogenannte »relaxation response« (»Entspannungsreaktion«), welche er in seinem gleichnamigen Buch aus dem Jahr 1975 beschrieb.8 Nur durch das Ändern ihrer Gedankenmuster konnten Menschen, so seine Erkenntnis, die Stressreaktion abschalten und damit ihren Blutdruck senken, den Herzschlag normalisieren und in tiefe Entspannungszustände kommen.

Beim Meditieren geht es um das Einnehmen einer neutralen Haltung. Aber es wurden auch die positiven Effekte einer eher positiven Einstellung und positiver Emotionen untersucht. 1952 hatte der ehemalige Pfarrer Norman Vincent Peale mit seinem Buch »The Power of Positive Thinking« (dt. Ausg. »Die Kraft positiven Denkens«) den Weg geebnet; es machte die Vorstellung publik, dass unsere positiven und negativen Gedanken tatsächlich unser Leben beeinflussen,9 eine Idee, die 1976 von der Ärzteschaft aufgegriffen wurde, als der Politikanalyst und Redakteur Norman Cousins im »New England Journal of Medicine« einen Bericht darüber veröffentlichte, wie er durch Lachen eine lebensbedrohliche Krankheit besiegt hatte.10 Cousins schrieb darüber auch in seinem ein paar Jahre später veröffentlichten Bestseller »Anatomy of an Illness« (dt. Ausg. »Der Arzt in uns selbst«).11

Cousins wurde von seinem Arzt eine degenerative Störung diagnostiziert, die sogenannte Spondylitis ankylosans bzw. Morbus Bechterew, eine chronisch entzündliche rheumatische Erkrankung mit Schmerzen und Versteifung von Gelenken, die Kollagen abbaut, das Fasereiweiß, das die Körperzellen zusammenhält. Seine Chancen, wieder gesund zu werden, betrugen laut Aussage des Arztes 1 zu 500. Cousins hatte sehr starke Schmerzen und konnte sich kaum mehr im Bett umdrehen, weil er seine Gliedmaßen nur noch unter Schwierigkeiten bewegen konnte. Unter seiner Haut entstanden körnige Knoten, und als es ihm ganz besonders schlecht ging, war sein Kiefer fast vollständig blockiert. Cousins hielt seinen andauernden negativen emotionalen Zustand für eine Mitursache seiner Krankheit und beschloss, ein positiverer emotionaler Zustand könne den Schaden dann ja vielleicht wieder beheben. Er ging weiterhin zum Arzt, begann seine Ernährung mit hohen Dosen Vitamin C anzureichern und schaute sich Filme der Marx Brothers und andere humorvolle Filme und Comedy-Shows an. Zehn Minuten herzhaftes Lachen verhalfen ihm zu zwei Stunden schmerzfreiem Schlaf. Schließlich konnte er sich vollständig von seiner Erkrankung erholen. Cousins lachte sich ganz einfach gesund.

Aber wie hat er das gemacht? Damals konnten die Wissenschaftler solche Wunderheilungen nicht verstehen oder erklären. Heute vermuten wir dahinter den Einfluss epigenetischer Prozesse. Cousins’ veränderte Einstellung veränderte seine Körperchemie, die wiederum seine innere Befindlichkeit veränderte und es ihm ermöglichte, neuen Genen neue Signale zu senden. Er regulierte einfach die Gene, die die Ursache seiner Krankheit waren, herunter (bzw. schaltete sie ab) und die für die Gesundung zuständigen Gene herauf (bzw. schaltete sie ein). Darauf wird in den nachfolgenden Kapiteln noch näher eingegangen.

Viele Jahre später bestätigte die Forschungsarbeit von Keiko Hayashi, Ph.D., von der Universität von Tsukuba in Japan dieses Phänomen.12 Er ließ Diabetespatienten eine Stunde lang ein Comedy-Programm anschauen; dabei wurden insgesamt 39 Gene hochreguliert, 14 davon hatten mit der Aktivität der natürlichen Killerzellen zu tun. Keines dieser Gene hatte direkt mit dem Blutzuckerstoffwechsel zu tun; dennoch war der Blutzuckerspiegel der Patienten besser eingestellt als nach dem Anhören eines Vortrags über Diabetes an einem anderen Tag.