Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa

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Bundespräsidenten

Kanzleramt und Bundespräsidialamt waren in Bonn Nachbarn und Berührungspunkte gab es politisch wie auch systemimmanent regelmäßig. Das Verhältnis war in meiner Zeit zunächst eher spannungsgeladen, später entspannter – es lag halt an den jeweiligen „Mietern“ im Palais Schaumburg bzw. der Villa Hammerschmidt.

Ich spürte dies erstmals am eigenen Leibe im Jahr der deutschen Einheit. Meine Assistentin erreichte ein Anruf aus dem Vorzimmer des Bundespräsidenten, der Bundespräsident reise demnächst erstmals im Zuge der deutschen Einheit nach Frankreich, er würde es zu seiner Vorbereitung sehr begrüßen, wenn ich ihn briefen könnte.

In Kenntnis des sensiblen Verhältnisses unterrichtete ich den Bundeskanzler und fragte, ob er damit einverstanden sei. Die Antwort war lächelnd „Ja, selbstverständlich – machen Sie sich ein eigenes Bild. Aber schimpfen Sie bitte hinterher nicht mit mir!“. Gesagt, getan, der Termin wurde vereinbart, ich bereitete mich vor, dem Bundespräsidenten zunächst kurz die französische Perzeption und Anregungen für mögliche Einlassungen seinerseits vorzutragen. Ich kam in der ersten halben Stunde trotz aller Bemühungen einfach nicht zu Wort, Bundespräsident Richard von Weizsäcker redete über Frankreich und die deutsche Einheit, eine Beurteilung meinerseits schien ihn gar nicht zu interessieren.

Innerlich kochte ich langsam hoch, was sollte ich da überhaupt. Irgendwann war es mir gelungen, ein Atemholen des Bundespräsidenten auszunutzen und ihm direkt meine Erwägungen zu seinen letzten Bemerkungen zu erläutern und ihn höflich zu fragen, er habe mich doch rufen lassen, um ihn zu briefen, nicht aber …...Er schien irritiert, stellte mir einige kurze Fragen und dankte mir für den Besuch. Ich zog etwas verdattert von dannen!

Ich war nicht lange in meinem Büro, als der Bundeskanzler mich zu sich rufen ließ – „Na, Bitterlich, wie war's?“ – Meinem Bericht hörte der Bundeskanzler lächelnd zu, er bemerkte gönnerhaft, er habe mir dies vorhersagen können, habe mir aber die Sache nicht verderben wollen, der Bundespräsident wisse halt mit zunehmender Amtsdauer alles besser als alle anderen, auch wenn die Realität eine andere sei– es sei halt besser, jeder habe seine eigenen Erlebnisse.

Im Zusammenhang mit dem damaligen Bundespräsidenten bemerkte Helmut Kohl des Öfteren, aber nahezu beiläufig, Dankbarkeit könne man in der Politik – zumindest in der Regel – nicht erwarten – und dennoch erwartete er Dankbarkeit von Seiten des Bundespräsidenten, dessen Talent er, Kohl, in der Rechtsabteilung eines bekannten Unternehmens in Südwestdeutschland entdeckt und nachdrücklich begleitet und gefördert hatte. Mit von Weizsäckers Nachfolger war es indes etwas anders.

Jedenfalls hatte die Stunde mit Bundespräsident von Weizsäcker für mich einen Vorteil, das Verhältnis zum Bundespräsidenten war seither entspannt – freundlich!

Einige Jahre später hat es wohl der Zufall mit sich gebracht, dass ich, ohne mein Dazutun, zu den „Verschwörern“ um die Sondierung und Benennung eines Nachfolgers gehören sollte. Ich war mit dem Bundeskanzler aus anderem Grunde in Deutschland unterwegs. Am frühen Abend meinte er, der Tag werde entgegen der Planung etwas länger dauern, ich solle darüber eisern schweigen. Ich ahnte nicht, um was es ging. Wir waren im Raume Heidelberg – Schwetzingen und auf der Fahrt sagte mir der Bundeskanzler, ich sollte allen Charme aufbieten und mit Frau Herzog auf ihn und ihren Mann warten. Ich begann zu ahnen, Professor Roman Herzog war also der „Plan B“ des Bundeskanzlers, nachdem sich seine erste Idee mit dem Dresdner Theologen Steffen Heitmann als „error of casting“ herausgestellt hatten!

Kurzum, ich verbrachte mit Frau Herzog einen reizenden frühen Abend, wir diskutierten über vieles, vor allem über Frankreich und das Vereinigte Königreich – bis dann zu vorgerückter Stunde der Bundeskanzler und Professor Herzog hinzukamen.

Und der offensichtlich designierte Bundespräsident sprach mich ohne Zuwarten, und in unerwarteter Weise an, ich sei doch, soweit er wisse, Jurist und ich verstünde daher besser als der Historiker Helmut Kohl seine innere Zurückhaltung gegenüber dem Amt des Bundespräsidenten. Als Jurist habe er eine gewisse, leider unvermeidliche Tendenz zur Ironie, ja zum Sarkasmus – und dies sei mit dem Amt doch nur schwer vereinbar. Es folgte zum Abendessen eine spannende Diskussion zu viert über das Amt und Amtsverständnis, über Risiken und Grenzen des Bundespräsidenten! Von jenem Abend an bin ich oft mit Professor Roman Herzog zusammengetroffen, auch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt. Für mich wurde er zu „meinem“ Bundespräsidenten!

Die Diskussion, ja der juristisch-politische Disput, immer mit einem gewissen Augenzwinkern, war immer eine Freude! Er brauchte nicht jene berühmte „Ruck-Rede“ am 26. April 1997 um Zeichen zu setzen – er war ein unbequemer Mahner, ein Querdenker, ein politischer Florettfechter, der sich aber zugleich immer wieder fragte, wie weit er tatsächlich nach außen „von Amts wegen“ gehen sollte. Und Helmut Kohl nahm ihn nahezu „mit Samthandschuhen“!

Schade, dass ihn Politik und Medien nach seinem Tode in erster Linie allein an seiner Initiative gegenüber Polen – erster Besuch mit der Bitte um Vergebung anlässlich des 50. Jahrestages des Warschauer Aufstandes und dem Schweigen in Auschwitz – und eben seiner „Ruck-Rede“ gemessen haben. Seine berühmt-berüchtigte „Ruck-Rede“ richtete sich eben in Wahrheit nicht nur an die Regierungskoalition, sondern vornehmlich auch an die Opposition um Oskar Lafontaine, die damals den Bundesrat zu einer systematischen Opposition und Blockade nutzte – und sie hatte bei dieser Rede und vorangegangenen „ermahnenden“ Gesprächen mit dem Bundespräsidenten die „Ohren auf Durchzug“ gestellt!

„Wirtschaft“

In all den Jahren ist Helmut Kohl immer wieder unterstellt worden, sein Verhältnis zur Wirtschaft sei ein „Nicht-Verhältnis“ gewesen. Auf wirtschaftliche Themen war er vor allem durch die Kollegen um Johannes Ludewig und später Sighart Nehring bestens präpariert, auf den Auslandsreisen hatten die Gäste aus der Wirtschaft genug Gelegenheit, ihre Sorgen vor ihm abzuladen – und doch blieb das persönliche Verhältnis zu vielen im Grunde distanziert, zu weilen schienen Helmut Kohl deren „Klein-Klein“ und die Eitelkeiten mancher „auf den Wecker“ zu gehen.

Auf der anderen Seite genoss der Kanzler die persönlichen Gespräche mit Alfred Herrhausen, dem von der RAF ermordeten Chef der Deutschen Bank, wie auch mit Helmut Maucher, dem langjährigen Nestlé-Chef – oder auch mit dem „ERT – European Round Table“, einer lockeren Vereinigung führender europäischer Vertreter der Wirtschaft; die Diskussion mit diesem Kreis war ihm lieber als die Gespräche mit den deutschen Wirtschaftsverbänden.

Die Medien

Ich konnte am Anfang nicht ahnen, inwieweit ich zunehmend auch in die Medienarbeit des Bundeskanzlers und der Bundesregierung einbezogen werden sollte.

Permanenter Kontakt und Abstimmung mit dem langjährigen Vertrauten Eduard Ackermann und später mit Andreas Fritzenkötter wie mit dem Bundespresseamt und dem Regierungssprecher gehörten zum täglichen Brot, zuweilen mühsam, zuweilen belastend, öfters hoch spannend, unter hohem zeitlichen Druck Sprachregelungen oder einfach gesagt „Sprache“ für den Regierungssprecher zu erarbeiten!

Mit zunehmender Zeit entsandte mich der Bundeskanzler von sich aus zum Briefing der Presse oder nahm mich auf das Podium seiner Treffen mit der Presse mit – unbequeme Fragen konnte es für mich nicht geben, er erwartete einfach, ich werde mir schon zu helfen wissen – im Notfall gebe es noch ihn selbst!

Schon recht früh hatte ich es in Absprache mit Eduard Ackermann und mit seiner Zustimmung übernommen, in informeller Weise eine Gruppe bekannter „Bonner“-Journalisten über wesentliche Themen, Perspektiven der europäischen und internationalen Politik zu unterrichten. Einige dieser Kontakte sind bis heute erhalten, es gab in all den Jahren ein einziges „leak“. Ich habe mit dem betreffenden Journalisten „Klartext“ geredet, ihn daraufhin nicht mehr eingeladen – er blieb über Jahre nachtragend!

Ein besonderer Fall waren Kontakte zum „Spiegel“. Helmut Kohl und Eduard Ackermann schienen zu wissen, dass ich solche Kontakte aus dem Ministerbüro des Auswärtigen Amtes „mitgebracht“ hatte – es war ein lockerer Kontakt zu den beiden leitenden Redakteuren im Bonner Geschäft, den Herren Wirtgen und Koch.

Helmut Kohls Haltung zum „Spiegel“ wurde mir sehr schnell klar, es war ein politisches Feindbild! Wie Andreas Fritzenkötter vor einiger Zeit im „Spiegel“ unmissverständlich und zu Recht erläutert hat „hat er sich von der Redaktion verfolgt gefühlt, und den Eindruck, der Spiegel wolle ihn wegschreiben“. Nach einer ersten Phase habe ich ihn darauf angesprochen und ihn offen gefragt, ob er etwas dagegen habe, wenn ich diesen Kontakt auch künftig – mit aller Vorsicht – nützen würde. Daraus wurde ein gewisser Disput über Nutzen und Schaden, er verbot mir den Kontakt aber auch nicht – und ich unterrichtete ihn über sensible Fragen, die die beiden Spiegelianer aufgebracht hatten. Beide hatten über die Jahre die vereinbarte Vertraulichkeit gewahrt und gehörten letztlich zu den positiven „Spiegel“-Erlebnissen meinerseits, kritische gab es in den Jahren allerdings auch! Dazu an anderer Stelle mehr!

Einen ganz anderen Helmut Kohl konnten zum Beispiel französische Journalisten erleben. Freundlich, sensibel, entgegenkommend, klar – ich erinnere mich lebhaft an mein erstes Erlebnis. Über den Elysée war bei mir die Anfrage einer der bekannten Interview-Sendung „Heure de Vérité“ – Stunde der Wahrheit gelandet – eine Sendung geschaffen und moderiert von François-Henri de Virieu unter Teilnahme von drei bekannten Journalisten, Alain Duhamel, Albert du Roy und Jean-Marie Colombani. In der Vorbereitung hatte ich mir mehrere Sendungen angeschaut und eingehend den Stil der Sendung mit den Machern besprochen. Ich trug dem Bundeskanzler daraufhin vor, er möge kurze Antworten geben, nicht länger als 2 – 3 Minuten. Daraufhin lachte der Bundeskanzler los, ich müsse doch langsam die großen Stars kennen, sie würden eine Frage in einem 10-Minuten Statement verstecken und ihn dann bitten, sich kurz zu fassen. In der Sendung, die Anfang April 1990 im alten Palais Schaumburg aufgezeichnet wurde, habe ich einen extrem disziplinierten Bundeskanzler erlebt, der auf die ganz knappen, kurzen Fragen kurz antwortete und sich an sein Limit hielt. Dazu wollte er die Kamera-Mannschaft am liebsten in Bonn behalten. Endlich hatte ihn jemand in vorteilhafter Weise aufgenommen, nicht von unten, um ihn noch wuchtiger aussehen zu lassen, sondern schräg von oben!

 

Die Sendung hatte leider ein Nachspiel, auf das ich hätte besser achten müssen. Nach der Sendung diskutierte der Bundeskanzler munter mit den Journalisten weiter, auch über kritische Fragen der Wiedervereinigung Richtung Nachbarn im Osten. Und einer der Herren berichtete „auf seine Weise“ darüber in Paris, wo einige ein Interesse hatten, es in Richtung Bonn zurückzuspielen, und zwar unter Nutzung der Bande, sprich über deutsche Journalisten und über Genscher. Die Kollegen im Elysée fragten mich indes offen nach dieser Diskussion und ich konnte Gott sei Dank die Äußerungen klarstellen.

Einen genauso hoch sensiblen Helmut Kohl erlebten dann Millionen Franzosen als zugeschalteten Gast in der Fernseh-Debatte zwischen Mitterrand und Séguin wenige Tage vor dem Maastricht-Referendum 1992 oder Jahre später im Interview mit Anne Sinclair in ihrer Reihe „7 sur 7“.

Natürliche Spannungsfelder in der Regierung und Koalition

Aufgabenfeld und -stellung im Bundeskanzleramt erwiesen sich als Minenfeld im Verhältnis zu den Fachressorts. Die Abteilungen des Bundeskanzleramts sind nicht einfache „Spiegelabteilungen und -referate“ zu den Fachministerien, sondern zugleich auch Helfer des Bundeskanzlers und des Chefs des Bundeskanzleramts zu deren Unterstützung wie zur möglichst reibungslosen Durchführung der Regierungs- und Koalitionsarbeit.

Für Helmut Kohl waren wir eine Mischung aus „Pendant“ und Bindeglied zu den federführenden Ministerien, wir waren zugleich sein operativer Arm, den er ggf. einsetzen konnte, und zugleich Planungsstab, der mittel- und längerfristig Politik entwickelte.

Der Konflikt war und ist im deutschen institutionellen System strukturell angelegt, er ist durch den Spannungsbogen zwischen der „Richtlinienkompetenz“ des Bundeskanzlers auf der einen Seite und dem „Ressortprinzip“ auf der anderen Seite vorprogrammiert.

Erwartete der Bundeskanzler die Umsetzung seiner politischen Linie und Überzeugung, so bedeutete dies nicht unbedingt, dass damit das Auswärtige Amt, die Verteidigung, das Ministerium für Entwicklungszusammenarbeit oder die eigene Fraktion im Bundestag oder im Europäischen Parlament immer einverstanden sein mussten.

Die Presse stilisierte mitunter die damit verbundenen verdeckten, zuweilen auch offenen Meinungsverschiedenheiten und Konflikte hoch zum „Neben- oder heimlichen Außenminister“. Dies klang natürlich gut und nach Schlagzeilen bzw. nach Ärger, entsprach aber in keiner Weise der Realität, der über weite Strecken engen und vernünftigen Zusammenarbeit mit den mir „anvertrauten“ Häusern.

Zugleich ist es schon richtig, dass die formale Struktur mit dem „Ministerialdirektor“ an der Spitze der Abteilung im Kanzleramt nicht einfach der Hierarchie der Fachressorts entsprach. Dennoch kann ich im Rückblick die echten Streitfälle an zwei Händen abzählen. Helmut Kohl, dem die Europapolitik wie auch einige Kernthemen der Außenpolitik besonders am Herzen lagen, bediente sich seiner Mitarbeiter, um Politik zu erläutern, Hintergründe diskret zu sondieren, Ideen zu testen, Vertrauensverhältnisse aufzubauen und zu vertiefen, Verhandlungen oder Treffen vor- oder nachzubereiten oder schlicht um seine Außenpolitik zu flankieren.

Daraus ist über die Jahre mit Politikern und Kollegen in Deutschland wie in Europa und auf internationaler Ebene ein enges Vertrauensverhältnis, eine Art Netzwerk entstanden. Mit vielen Kolleginnen und Kollegen bin ich noch heute befreundet oder zumindest in Verbindung. Mitunter musste ich für manche auch als der „verlängerte Arm“ Helmut Kohls, sein „Strippenzieher“, wie der Economist einmal titelte, aber auch sein „Terrier“ oder „Wadenbeißer“ erscheinen – auch dies gehörte zur Aufgabe – als ob es dies in den Ministerien oder in den Fraktionen oder selbst im Europäischen Parlament nicht auch gegeben hätte!

Umgekehrt erwartete das „Mutterhaus“ Auswärtiges Amt – außer dem Minister selbst, der dieses Spannungsfeld sehr wohl einzuschätzen wusste – wie selbstverständlich die Hilfe bei der Durchsetzung seiner Auffassungen gegenüber dem Bundeskanzler(-amt) und den anderen Ministerien. Oft war damit von manchen Kollegen viel zu wenig Verständnis dafür verbunden, dass es für mich keine gespaltene oder doppelte Loyalität geben konnte.

Hinzu kamen – und auch das gehörte dazu – eine gute Portion Eifersucht, Neid über die vermeintliche Machtstellung bzw. deren Nutzung, abgesehen von der manchmal recht eigenwilligen, von Genscher geförderten und von Kohl in Nebenthemen geduldeten Interpretation des „Ressortprinzips“ seitens des AA versus „Richtlinienkompetenz“ des Bundeskanzlers.

Zudem verstanden die gleichen Kollegen viel zu wenig, dass diese vermeintliche Macht „abgeleitet“ war und vom Kanzler jederzeit widerrufen werden konnte – und dass ich auch zuweilen unter unmissverständlicher Weisung seitens des Bundeskanzlers stand. Ich wäre immer der erste gewesen, der „seinen Hut hätte nehmen müssen“. Insofern führten Führungsstil und -methode von Helmut Kohl dazu, dass ich regelmäßig auf Risiko arbeiten musste und zwar auf mein eigenes Risiko.

Oft genug habe ich im Kanzleramt versucht, das „Amt“ und die Kollegen im Zweifel zu unterstützen, zu schützen und dafür genug Prügel, manchmal von beiden Seiten, einstecken müssen. Einer der wenigen, der dies, wenn auch (zu) spät begriff, war der frühere Außenminister Kinkel, der in der Schlussphase erfahren musste, von eigenen Leuten im Stich gelassen zu werden.

Manchmal kosteten die „Kollegen“ mich mehr Nerven und Anstrengung als es die Sache letztlich wert war. Viele freuten sich daher als „Gottes Strafe“ über die Wahlniederlage 1998, hofften auf meine sofortige Versetzung in den einstweiligen Ruhestand. Sie mussten sich noch ein wenig gedulden und mich als Botschafter zunächst bei der NATO in Brüssel, dann in Spanien ertragen. Mit anderen hat sich ein vertrauensvolles, je freundschaftliches Verhältnis bis heute erhalten, dafür bin ich ihnen dankbar.

Zugleich gab es aber auch Kollegen aus anderen Häusern, mit denen ich diskret Kontakt hielt. Wir nutzten ein über die Jahre gewachsenes Vertrauensverhältnis, um uns gegenseitig auch über sensible Vorgänge zu unterrichten. Ich nenne insoweit bewusst Vizeadmiral Ulrich Weisser, er war einer der wenigen strategisch denkenden in der Bonner Szene, er war der Vertraute des selbstbewussten, oft an die Grenzen seiner „Autonomie“ gehenden Verteidigungsministers Volker Rühe und im Kanzleramt im Umfeld des Bundeskanzlers nicht wohl gelitten. Trotzdem hielten wir engen Kontakt, hielten uns diskret auf dem laufenden, ohne unbedingt unseren Chefs darüber alles zu berichten – für ihn wie für mich nicht ohne Risiko, aber das gehörte einfach zum Geschäft.

1 Werner Rouget, Schwierige Nachbarschaft am Rhein, Frankreich – Deutschland, herausgegeben von Joachim Bitterlich und Ernst Weisenfeld, Bonn 1998

II. Kapitel
Helmut Kohls „rote Fäden“ – Determinanten deutscher Außenpolitik
1. Ausgangspunkte und Grundlagen

Ausgangspunkt meiner Beobachtungen und Betrachtungen als „Zeitzeuge“ der Ära Kohl müssen die Determinanten, die Grundlagen und Ziele deutscher Außenpolitik darstellen. Ich möchte dabei auch vor allem der Frage nachgehen, inwieweit diese sich mit der deutschen Wiedervereinigung und dem Ende des Ost-West-Konflikts verändert haben.

Es mag kaum jemanden, der mich kennt, verwundern, dass ich das deutsch-französische Verhältnis und seine Zukunft quasi „vor die Klammer“ ziehe und ihm besondere Aufmerksamkeit widme.

Darauf aufbauend folgen die Entwicklung der deutschen Europapolitik in jenen Jahren als dem zentralen Baustein deutscher Politik sowie die Fragen nach der deutschen Außenpolitik, insbesondere das Verhältnis zu Nordamerika, ehemals Eckpfeiler unserer Außenpolitik, heute in der Gefahr des Auseinanderdriftens, sowie zu Asien und den anderen Kontinenten. Sie zeigen auf, wie sehr die heutigen Fragen, Krisen, Konflikte doch in Wahrheit bereits in jener Zeit „angelegt“ waren und nicht gelöst werden konnten bzw. sich anders als gedacht entwickelt haben. Dem schließen sich aufbauend auf der Rückschau Überlegungen zur Zukunft und Zukunftsfähigkeit Deutschlands und Europas an.

Deutschlands Geschichte, seine geopolitische Lage, seine innere politische und wirtschaftliche Statur bestimmen seine Außenpolitik – ein banal klingender Satz, dessen Ausbuchstabierung jedoch alle Probleme und Fallstricke offenlegt.

Deutschland war und ist in Europa das Land mit den meisten Grenzen, wir haben mehr unmittelbare Nachbarn als alle anderen Partner – insgesamt neun. Deutschland liegt mitten auf dem Kontinent, ein Durchgangs-, heute würde man sagen Transitland an der Schnittstelle von Ost und West, Nord und Süd, ein offenes Land, nur zu einem geringen Teil mit natürlichen Grenzen. Über Autobahngebühren, Grenz- oder Immigrationskontrollen – heute über Flüchtlinge – bei uns zu sprechen und eine entsprechende Politik zu praktizieren, ist ein gutes Stück komplizierter als für viele unserer Partner in Europa.

Es kommt hinzu, Deutschland ist heute mit seinen gut 80 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land und zugleich die stärkste Wirtschaftskraft Europas. Dies macht unsere Lage schwieriger, zudem gibt es uns eine größere Verantwortung nach innen wie nach außen.

Wesentlich ist auch, dass wir ein Land mit einer schwierigen Geschichte sind. Es ist hier nicht der Raum, dies im Einzelnen auszuführen und zu bewerten. Wir haben mit die kürzeste Geschichte als Nation, wir müssen uns der Verantwortung für die durch die Nazis im deutschen Namen geschehenen Verbrechen an den Juden, aber auch anderen europäischen Nationen stellen. Wir können sie nicht einfach in das Buch der Geschichte ablegen, sondern müssen wissen, wie wir damit umgehen.

Mir ging diese Frage immer wieder durch den Kopf, als sich im Jahre 2000 in einer mir bis heute kaum verständlichen Aktion die Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder zusammen mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac an die Spitze der Bewegung setzte, um den Nachbarn Österreich angesichts des Eintritts des liberal-radikalen Jörg Haider in die Regierung unter Bundeskanzler Wolfgang Schüssel auf die europäische Anklagebank zu setzen. Ziel war es, im Vorgriff auf die neuen, noch gar nicht in Kraft getretenen europäischen Vorschriften des Vertrages von Nizza Österreich unter Quarantäne bzw. Kuratel zu stellen. Ich dachte mit Schaudern an mögliche andere Fälle, an größere Länder wie Frankreich oder Italien, aber auch an uns selbst.

Wie würden dann die Mitgliedsländer der EU und ihre Institutionen reagieren? Und, wenn meine Informationen richtig sind, hatte wie so oft eine menschliche Reaktion am Anfang dieses politische Erdbeben ausgelöst: Jacques Chirac hatte vergeblich versucht, dem österreichischen Bundeskanzler klar zu machen, er müsse auf eine Koalition mit den Freiheitlichen verzichten, dies vor einem rein französischen Hintergrund. Er befürchtete, dass dadurch der Front National hoffähig, regierungsfähig werden könnte. Schüssel musste der Bannstrahl daher doppelt hart treffen! Sein Ziel war es doch, die Freiheitlichen durch die Einbeziehung in Regierungsverantwortung zu zerreiben. Und Gerhard Schröder, ihm schien dies gut in die Abgrenzung zur CDU zu passen.

Was bedeutet dies für den Umgang mit Geschichte? Kann dies die richtige Antwort auf das Entstehen populistischer Bewegungen in einzelnen Ländern sein? Muss nicht die Politik selbst durch Inhalte auf solche Gefahren reagieren? Muss Europa insoweit nicht politisch helfen anstatt abzustrafen?

 

Denken wir nur an die aktuelleren Fälle in der EU – Ungarn und Polen, Fälle, in denen sehr leichtfertig mit einer halbwegs objektiven Betrachtung umgegangen wird, ohne den geschichtlich-politischen Hintergrund dieser Länder zu bedenken – und ohne die Frage zu stellen, ob wir, der frühere Westen genug getan haben, um die junge Demokratie in diesen Ländern zu fördern. Messen wir nicht allzu leicht mit zweierlei Maß, wie jüngst mein AA-Crew Kollege Rudolf Adam in einem Cicero-Beitrag sehr eindrucksvoll und durchaus berechtigt herausgearbeitet hat.1 Und versuchen wir bitte nicht, alle Vorgänge und Entwicklungen unbedingt juristisch zu erfassen! In Wahrheit denken wir doch in Europa in den verschiedenen Staaten über die Grundlagen von „Demokratie“ und „Rechtsstaat“ bis heute recht unterschiedlich.

Das europäische politische Gefüge, seine Maschinerie sind insofern noch nicht hinreichend gefestigt, sie sind abhängig von politischen Strömungen, ja Stimmungen in den einzelnen Mitgliedstaaten, sie werden leicht zu bequemen Zielscheibe, ja zum Sündenbock!

Die genannten kritischen Beispiele stammen aus der Zeit „nach Helmut Kohl“, seine Ära war genauso wenig frei von Gratwanderungen dieser Art – und damit Themen, über die wir oft, und nicht nur beiläufig, diskutiert haben.

Die jüngere Geschichte hinterlässt verständlicherweise bei uns Narben, Ängste, Schuld- bzw. Verantwortungskomplexe, zum Teil auch eine gewisse Verklemmtheit, wie französische Freunde durchaus berechtigt häufig feststellen.

Die Wiedervereinigung hat diese Komplexität unserer Lage noch verstärkt. Wir standen und stehen nicht nur vor der Herausforderung die neuen Bundesländer zu integrieren, unseren Landsleuten zum gleichen „Standard“ wie im Westen zu verhelfen. Wir haben diese Aufgabe in ihrer Tragweite meiner Auffassung nach am Anfang unterschätzt, wir wussten einfach zu wenig, haben manches auch buchstäblich verdrängt. Zu Anfang lag dies vielleicht auch daran, dass alles schnell gehen sollte und musste. Hinzu kommt, dass die Mehrheit der Deutschen letztlich nicht mehr an das Zustandekommen der Wiedervereinigung geglaubt hat bzw. sich mit ihr abgefunden hatte.

Wenn sich schon im November 1989 eine Minderheit im Führungskreis des Kanzleramts auf Beamtenebene – nämlich die klassischen „Deutschland-Politiker“ – gegen die „Zehn Punkte“ des Bundeskanzlers aussprach, um die bisherige Entspannungspolitik nicht zu gefährden, wie sollte dann die Mehrheit in der Bevölkerung denken?

Ich bin davon überzeugt, wir werden für die volle Angleichung der Lebensverhältnisse letztlich mindestens zwei Generationen brauchen. Dies gibt uns einen Eindruck, welcher Herausforderung wir uns in Wahrheit bei der Ost-Erweiterung der Europäischen Union gegenüber standen und stehen.

Hand aufs Herz: wären die Mitgliedstaaten der „alten“ EU bereit, zwei Jahrzehnte jährlich 4% ihres Bruttoinlandsprodukts für die Wiedervereinigung mit einem Teil ihres Landes zu „opfern“? Dies sind die jährlichen Transferleistungen Deutschlands gegenüber den neuen Bundesländern.

Der französische Präsident François Mitterrand hat einmal fast beiläufig – seine eigene Premierministerin Edith Cresson korrigierend – im Rahmen eines deutsch-französischen Gipfels nach der deutschen Einheit 1991 in Lille, natürlich außerhalb des Protokolls, festgestellt, wenn ein Staat dies in Europa könne, dann sei es Deutschland – und dieses Deutschland sei dann stärker als je zuvor.

Nur: diese neue Größe Deutschlands hat das unbewusste Misstrauen, auch Neid und Missgunst unserer Freunde und Partner aufs Neue geweckt. Für manche wird es – verstärkt durch die politisch-wirtschaftliche Schwäche Frankreichs wie anderer Partner, das Auseinanderdriften der Kraft der beiden Länder zum Gefühl der „Erniedrigung“. Dies äußert sich selten offen, ist jedoch latent vorhanden, bricht leicht aus und hat sich heute angesichts des wirtschaftlichen Gewichts noch verstärkt.

Zugleich wird von uns als dem „wirtschaftlichen Hegemon“ jedoch zunehmende Normalität und vor allem auch Solidarität erwartet. Die „Ausrede“ deutsche Teilung steht uns nicht mehr zur Seite. Bundeskanzler Helmut Kohl hat hier zu Recht auf einen vorsichtigen, graduellen Prozess gesetzt und dies vor allem auch im Hinblick auf etwaige Einsätze der Bundeswehr unterstrichen.

Auch wenn man objektiv davon ausgehen muss, dass Deutschland – wie umso stärker seine großen Partner Frankreich oder bisher das Vereinigte Königreich – sich noch erst in seiner neuen Rolle, seinem Platz in Europa zurechtfinden muss, so nehmen uns die Partner diese „Selbstfindung“ mit zunehmendem Abstand von der Wiedervereinigung allenfalls eingeschränkt ab.

Aufgrund unserer geopolitischen Lage sind wir Deutschen, ob wir das so mögen oder nicht, auf Gedeih und Verderb von der Entwicklung um uns herum abhängig, Europa ist die politische und wirtschaftliche Grundlage unseres Wohlergehens, daher ist, so banal dies klingt, die europäische Entwicklung von vitalem Interesse für die Existenz und Zukunft unseres Landes.

Zugleich sorgt die Einbettung in die europäische Integration dafür, Deutschland mit seiner Größe und Geschichte, aber auch ein wenig aufgrund unseres Charakters für die anderen Europäer verkraftbar, „erträglich“ erscheinen zu lassen. Dies bedeutet nicht, dass wir nur schlucken, alles hinnehmen müssen, nein, wir müssen vielmehr alles daran setzen, dass diese Entwicklung mit unserem wohlverstandenem Interesse übereinstimmt. Ein deutsches „Fremdeln“ im Verhältnis zu Europa, eine sichtbare Dominanz trägt unwillkürlich zu einem Abwehrverhalten seitens der Partner, ja zu einer Renationalisierung in Europa bei. Dies setzt ein gesundes Maß an Bescheidenheit, an permanenter Vertrauensbildung und auch an Selbstbewusstsein voraus, wobei es uns Deutschen aufgrund unseres Charakters mitunter nicht leichtfällt, das richtige Maß zu finden. Es wird von uns ein Maß an psychologischem Geschick verlangt, das uns in unserer Geschichte selten gelungen ist.

Dies gilt zum Beispiel ganz besonders für das Verhältnis zu den kleineren Mitgliedstaaten. Eine der großen Stärken von Helmut Kohl im europäischen Konzert war die Pflege des Verhältnisses zu dieser Mehrheit der Mitgliedstaaten. Er ermahnte uns Mitarbeiter unablässig, bei aller Notwendigkeit der engen Zusammenarbeit mit Paris, London, Madrid, Rom oder zunehmend auch Warschau immer ein offenes Ohr für die Anliegen und Auffassungen der kleineren Mitgliedstaaten zu haben.

So wichtig es sei, mit Frankreich die besten und engsten Beziehungen zu pflegen, so wichtig sei es, mit den anderen Partnern, insbesondere mit den kleineren Ländern eng und vertrauensvoll zusammen zu arbeiten. Die Beispiele „Luxemburg“ oder „Dänemark“ standen insofern für viele andere Partner und schloss aber auch die anderen „Großen“ ein – ob das Vereinigte Königreich, Italien, Spanien oder Polen.

Ein nordischer Politiker, früherer sozialdemokratischer Ministerpräsident eines dieser kleineren Länder, bestätige mir dies mehrfach mit den Worten: „In der Kohl-Ära wussten wir, dass wir bei Euch gut aufgehoben sind. Wir konnten uns auf Helmut Kohl immer verlassen. Er hat uns nie übervorteilt oder im Regen stehen lassen. Wenn ich ein echtes Problem mit Brüssel, anderen Mitgliedstaaten oder selbst zu Hause hatte, konnte ich ihn immer erreichen oder Dich als Überbringer nutzen. Ihr habt uns Kleine nie über den Tisch gezogen, sondern uns geholfen. Leider ist dies vorbei“.