Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa

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Erste Begegnung mit Hans-Dietrich Genscher

Algier war auch der Ort meiner ersten Begegnung mit Hans-Dietrich Genscher. Anlass seines Besuches am 29. Dezember 1978 waren die Trauerfeierlichkeiten für den algerischen Präsidenten, Houari Boumédiène.

Dem jüngsten der Mannschaft oblagen neben seinen Sachgebieten zwei Bereiche: einerseits Protokoll – und zwar vor allem die Vereinbarung von Gesprächsterminen für den Minister „am Rande der Trauerfeier“ – und andererseits als Leiter des Krisenstabes die Organisation aller Abläufe. Und wie so häufig bei „Großveranstaltungen“ dieser Art lief vieles nicht immer rund. Genscher suchte nicht nur verzweifelt „seinen“ Kranz im Palast des Volkes, sondern als er im Hotel ankam und nach den vereinbarten Gesprächsterminen fragte, war – so die Kollegen – ein mittlerer Zornesausbruch die Folge: Wir hatten Termine vereinbart, die der Minister anscheinend nicht oder nicht mehr wollte. Irgendetwas war wohl in der Bonner Maschinerie schiefgelaufen.

Und wie mir einer aus der Bonner Delegation später erläuterte, hätten alle, auf die Frage des Ministers, „wer dafür verantwortlich sei“, auf mich verwiesen. Da ich ihm völlig unbekannt war, ordnete er mein sofortiges Erscheinen an. Leichter gesagt als getan in einem von Polizeikontrollen und höchster Nervosität beherrschtem Algier. Hatte sich die Führung doch erst nach langem Hin und Her, anders ausgedrückt: nach drei Monaten Lähmung und Agonie auf einen Nachfolger verständigen können und dann erst den todgeweihten Boumédiène in Frieden sterben lassen! Im Hotel angekommen, traf ich auf eine höchst aufgeregte deutsche Delegation – nur der damalige Sprecher (und spätere Staatssekretär) Genschers, Jürgen Sudhoff, behielt die Ruhe und erklärte mir Hintergrund wie auch die Risiken meines Erscheinens: Ich solle dem Minister ruhig und sachlich meine Weisungslage vortragen.

Ich stand dann zum ersten Male „meinem“ Minister gegenüber, dem ich – sein Zorn schien sich inzwischen gelegt zu haben – meine Weisungen erläuterte. Seine Reaktion war – im Gegensatz zu meiner Erwartung – sachlich, er erteilte mir mehrere Weisungen zu Gesprächen, die er führen wollte oder aber nicht.

Er wollte eben mit dem saudischen Amtskollegen sprechen, der nicht auf der uns aus Bonn übermittelten Liste war, nicht aber mit dem libyschen Revolutionsführer Mouammar Kadhafi und auch nicht mit dem gerade frisch ernannten französischen Außenminister Jean François-Poncet – „der (frühere) Botschafter könne warten“! Genscher fand in Paris erst später mit Roland Dumas den politischen Partner, den er sich gewünscht hatte.

Als die Luftwaffen-Maschine am Abend abhob, waren die letzten Aufregungen des Kurzbesuches – Genscher hatte auf dem chaotischen Wege vom Friedhof zum Flughafen einen Teil seiner Delegation „verloren“ und wollte ohne diese abfliegen – rasch vergessen, wir waren einfach erleichtert! Genscher hatte Delegation und Botschaft während des ganzen Tages unter höchstem Druck „auf Trab“ gehalten, ich versuchte die politische Bedeutung einer solchen Trauerfeier zu verstehen, mich beeindruckte er damals in dieser ersten Begegnung durch seine Professionalität. Ich sollte ihn einige Jahre später in Brüssel, an der Ständigen Vertretung bei den – damals – Europäischen Gemeinschaften wiedertreffen, der nächsten Station meiner Tätigkeit im Auswärtigen Amt.

3. Brüssel – Ständige Vertretung bei den Europäischen Gemeinschaften, 1981–85

Dort landete ich mehr durch den Zufall oder dank der Widrigkeiten der Versetzungspolitik des AA, nachdem im Frühjahr 1981 eine erste Versetzung mit Ziel Madrid aus Zeit- und Verfügbarkeitsgründen gescheitert war. Mein Botschafter in Algier, inzwischen Gerd Berendonck, bis dahin die Nummer 2 an der Botschaft Moskau, bestand gegenüber Bonn darauf, einen Juristen für die komplexe Konsulararbeit in der Mannschaft zu haben. Und wieder sollte sich diese Versetzung als eine Riesenchance erweisen.

In den kommenden vier Jahren sollte ich mich in alle wesentlichen Materien der europäischen Politik einarbeiten und an wesentlichen Verhandlungen teilnehmen bzw. diese bearbeiten. Dies vor allem dank eines Botschafters – Giesbert Poensgen – und eines Gesandten – Jürgen Trumpf, dem späteren Staatssekretär des AA und dann Generalsekretär des EU-Rates –, die den Neuankömmling nachdrücklich förderten.

Diese Etappe brachte mich vor allem auch der Politik näher, ohne zu ahnen, dass diese in den nächsten gut 13 Jahren zu meinem Lebensmittelpunkt werden sollte. Die Arbeitsbereiche wechselten und nahmen mit der Zeit spürbar zu – und wieder waren die Themen ewig jung!

Es fing an mit den Beziehungen zu den damaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts einschließlich der Sowjet-Union – und zwar mit Sanktionen gegen die Sowjet-Union wegen der Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 in Polen durch Präsident Wojciech Jaruzelski – er wollte Polen vor einer Tragödie bewahren, d. h. einer befürchteten sowjetischen Intervention zuvorkommen.

In Brüssel lief ein mehr als kurioses, ja skurriles internes Puzzle-Spiel unter den Mitgliedstaaten ab, die die Vorschläge der Kommission „zerpflückten“, um die für sie wichtigen Produkte aus der Liste von Sanktionen herauszubekommen: was blieb, war eine Liste, die man kaum als eine wirkliche Liste von harten Sanktionen bezeichnen konnte. Das Ost-West-Verhältnis wurde damals letztlich allein von einer Arbeitsgruppe wahrgenommen, die aus Gründen der Vertraulichkeit ohne Dolmetscher – als ob diese insoweit ein Risiko bedeuteten – in französischer Sprache tagte. Mein britischer Counterpart, mit dem ich mich in der Sache gut verstand, fiel in der Gruppe durch seine häufigen Versuche auf, Englisch als zweite Arbeitssprache zu etablieren. Ich meldete mich dann und sprach Deutsch! Nur so war er in der Umsetzung seiner Londoner Weisungen zu stoppen!

Die Sprachenfrage begann aber schon damals für uns Deutsche zu einem leidvollen Thema zu werden! Und den Kollegen sollte ich Jahre später wieder treffen – es war der spätere Sir Charles Powell; er, einer der besten seines Fachs, wurde über lange Jahre zu dem engsten Berater von Margaret Thatcher in internationalen Fragen.

Weitere Sanktionsfälle sollten folgen: neben dem Iran ging es um Argentinien wegen des Falkland – Krieges – mit einer meisterhaften Behandlung seitens des italienischen Vorsitzes, Außenminister Giulio Andreotti, der im April 1982 erstmals die Verabschiedung von Sanktionen mit Mehrheit – natürlich fast unbemerkt en passant bei Enthaltung Italiens! – ermöglichen sollte!

Parallel dazu durfte ich Zeuge einer ersten gelungenen „politischen Erpressung“ in der EG seitens des jüngsten Mitgliedslandes sein. Ich hatte damals auch die Mittelmeerpolitik mitzubetreuen. Andreas Papandreou hat ab 1982 den Rat der EG neun Monate lang blockiert, weil er eine sofortige Hilfe über damals drei Milliarden Rechnungseinheiten, heute Euro beanspruchte.

Das war nur ein Jahr nach Inkrafttreten des Beitritts, frei nach dem Motto: Ihr habt Griechenland beim Beitritt überfordert, „über den Tisch gezogen“, ihr habt uns Probleme bereitet, ich brauche als Ausgleich und als Soforthilfe dafür drei Milliarden.

Und er bekam sie – und so begann eine permanente Hilfestellung für Griechenland, die im Schnitt laut Brüsseler Berechnungen jährlich um 3% des griechischen BIP ausmachte, anders ausgedrückt über 100 Mrd. € in gut 30 Jahren! Und es sollte sich zeigen, dass das Mitgliedsland Griechenland für die Partner auch in der Zukunft ein schwieriger Fall bleiben sollte.

Das sog. „Griechische Memorandum“ wurde 1982 aus „optisch-politischen Gründen“ in die „integrierten Mittelmeer-Programme“, genannt „IMP“, eingekleidet. Das war der zweite Versuch des Aufbaus einer Mittelmeer-Politik nach dem schwachen ersten Anlauf in den 70er Jahren, aber auch 1982/83 gab es geschickte Trittbrettfahrer. Auf der einen Seite waren dies die Italiener, die damals die erste Milliarde für den Süden, den Mezzogiorno, durchsetzten. Was damit konkret geschehen ist, möchte ich auch heute noch gerne wissen. Der andere war Frankreich: „Im Hinblick auf den zu erwartenden Beitritt von Spanien müssen wir etwas für die Region des Languedoc-Roussillon tun.“ Die Franzosen haben 500 Millionen erhalten, damals ebenfalls eine stolze Summe. Ich würde auch insoweit gern sehen, was damit konkret geschehen ist. Haben nicht alle Europäer darauf einen Anspruch? Damals habe ich einiges über Effizienz und Nicht-Effizienz von EG-Geldern gelernt.

„Antici“ und Beitritt Spanien – Portugal

Es kamen bald zwei gewichtige Aufgabenstellungen hinzu, die mich der Politik entscheidend näher bringen sollten: Dies war einerseits die Rolle des sog. Antici, des Koordinators für die Tagungen der Botschafter und der Ministerräte und „Verbindungsmanns“ während der Tagungen des Europäischen Rats der Staats- und Regierungschefs, Aufgaben, die ich schrittweise von Jürgen Trumpf übernahm.

Die „Antici's“, benannt nach ihrem Gründer, einem italienischen Gesandten, tagten ohne Übersetzung nur in französischer Sprache und bereiteten die Tagesordnung der Tagungen der Botschafter, des Ausschusses der Ständigen Vertreter, sowie diejenigen der Ministerräte, vornehmlich des Allgemeinen Rates (auf Ebene der Außenminister), vor. Zugleich sicherten sie während der Tagungen des Europäischen Rates die Verbindung zwischen dem Regierungschef und dem Außenminister im Saal und der sie begleitenden Delegation. Versorgung von Kanzler und Außenminister mit Papieren, Antworten auf Fragen, Stellungnahmen seitens der Delegation. Sie berichteten natürlich dank des laufenden Kontakts zu den anderen Mitgliedern der „Anticis“ auch über Stimmungen, Tendenzen der Beratungen. In doppelter Hinsicht konnte durch diese Aufgabe eine Vertrauensstellung entstehen, zum Regierungschef und Außenminister wie zu den Mitgliedern der Delegation, erfahrungsgemäß aus mehreren Ministerien der Bundesregierung. Ahnen konnte ich nicht, dass ich in den kommenden 15 Jahren – bis 1998 – bei allen Tagungen des Europäischen Rats der Staats- und Regierungschefs dabei sein und diese zu einer Art „rotem Faden“ meiner beruflichen Tätigkeit werden sollten.

 

Andererseits war dies die Führung der Beitrittsverhandlungen mit Spanien und Portugal in der gesamten Schlussphase auf Arbeitsebene quer durch alle wesentlichen EU-Sachbereiche.

Aus der Bearbeitung und Schlussphase der Beitrittsverhandlungen folgten regelmäßige, fast monatliche Begegnungen mit den Spitzen der Bonner Politik, vornehmlich mit dem Außenminister; den ich in der heißen Phase der Verhandlungen auch im „restreint“ der Minister – „Minister plus 1“ begleiten durfte.

Höhepunkt langer, allzu oft nächtlicher Verhandlungen und Marathons war zum Beispiel in einer Nacht der Hinweis des Ministers, „ich lasse Sie jetzt allein, ich muss mich etwas ausruhen. Wenn Sie ein Problem sehen, bitten Sie Roland Dumas, den Vorsitz darauf aufmerksam zu machen. Ich sage Roland Dumas Bescheid, Sie können ihm vertrauen“.

Und so geschah es in den zwei Stunden, aufgrund der Bonner „Handlungsanweisungen“ in den „Sprechzetteln“ für den Minister musste ich in einem konkreten Fall Roland Dumas um Hilfe bitten, er führte ohne jedes Zögern mein Petitum beim Vorsitzenden ein und ich durfte es im Einzelnen vortragen. Die Minister entschieden aber während der Abwesenheit von Genscher nicht gegen ihn! Esprit de corps und zugleich Respekt gegenüber dem erfahrensten Außenminister Europas!

Es folgten aber auch erste flüchtige Begegnungen mit dem Bundeskanzler anlässlich der Tagungen des Europäischen Rats, 1981/82 zunächst mit Helmut Schmidt, dann ab Herbst 1982 mit Helmut Kohl – in der Europäischen Gemeinschaft bzw. Union der 10, später 12 Mitgliedstaaten waren Regierungschef und Außenminister Mitglieder des Europäischen Rats, heute ist es, nicht zuletzt aufgrund der Größe der EU mit 28 bzw. nach dem „Brexit“ 27 Mitgliedstaaten, nur noch der Bundeskanzler selbst.

Bundeskanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl

Meine einzige Begegnung mit Helmut Schmidt in der damaligen Zeit prägte für Jahre mein kritisches Bild dieses Bundeskanzlers. Als ich Jahre zuvor erstmals wählen durfte, hatte ich Willy Brandt gewählt und auch beim zweiten Mal „Ja“ zu seinem Nachfolger Helmut Schmidt gesagt.

Am späten Abend sollte ich ihn in Brüssel zum traditionellen Nachtgespräch des Bundeskanzlers mit den deutschsprachigen Journalisten am Rande einer jeden Tagung des Europäischen Rats abholen. Ich bekam eine, wie mir Kollegen bedeuteten typisch mürrische, ja abschätzige Bemerkung seinerseits, die unterstreichen sollte, er hatte wohl wenig Lust, die gut 100 Brüsseler Korrespondenten noch zu treffen, sie könnten warten.

Ich habe später viele seiner Bücher und Kommentare in der „ZEIT“ mit großem Interesse verschlungen. Aus meiner ursprünglichen Distanz wurde zunehmend Respekt gegenüber Helmut Schmidt, Verständnis für seinen Lebensweg, Respekt für seine grundsätzliche Einstellung, seine klare Haltung in Sachen Verhältnis zu Frankreich und den USA, zu NATO und zur europäische Integration, Hochachtung für seine Haltung gegenüber dem Terrorismus der RAF. Helmut Schmidt stand loyal zu seiner Partei, auch wenn sie ihm in entscheidenden Fragen wie dem NATO-Doppelbeschluss letztlich die Gefolgschaft verweigert und ihn im Stich gelassen hatte – gerade dieses Scheitern hatte meine Haltung zu Anfang geprägt.

Der damalige französische Präsident François Mitterrand hatte 1982 seine persönliche Distanz zu dem Giscard-Freund Helmut Schmidt beiseitegelegt und ihm angeboten, vor dem Bundestag zugunsten der Verwirklichung des NATO-Doppelbeschlusses zu sprechen. Er hielt dieses Angebot auch gegenüber Helmut Kohl aufrecht. Seine Rede am 20. Januar 1983, zugleich zum 20. Jahrestag des Elysée-Vertrages, wurde zu einem Markstein bei der Umsetzung des Doppelbeschlusses.

Bemerkenswert, auch und gerade in der Rückschau, dass Helmut Schmidt sich seine „Sporen“ bei einem Katastrophenfall in seinem Bundesland Hamburg, der großen Sturmflut, verdient hatte – und er danach Verteidigungs- und Finanzminister vor der Übernahme der Kanzlerschaft geworden war. Er betreute zwei große Schlüsselressorts in einer Regierung, deren Bewältigung zugleich dem „großen Befähigungsnachweis“ gleichkamen.

Begegnungen in jüngerer Zeit haben dazu geführt, mich mehr mit Helmut Schmidt und seiner Persönlichkeit auseinander zu setzen. Bezeichnend hierfür war ein intensives Gespräch mit ihm im Jahre 2014 am späten Abend in der Residenz des deutschen Botschafters bei seinem letzten Besuch in Paris, in erster Linie über aktuelle Fragen der Europapolitik. Er wies dabei meinen Gedanken, angesichts der kritischen Entwicklung in Europa wäre es eine gute Sache, wenn die beiden Alt-Kanzler gemeinsam das Wort ergriffen, nicht zurück.

Zu meiner Überraschung bekundete er dabei durchaus Respekt vor der politischen Leistung Helmut Kohls und bedeutete mir fast beiläufig, er habe vor einiger Zeit seine Auffassung über den Menschen Helmut Kohl revidieren müssen: Helmut Kohl habe ihm – seiner Erinnerung war es nach dem Tod seiner Frau – in Hamburg überraschend einen sehr menschlichen, einfühlsamen Besuch gemacht. Er habe den Eindruck gehabt, Kohl wollte sein Verhältnis zu ihm bereinigen. An jenem Abend spürte ich erstmals, wie sehr auch jener Mann im kleinen Kreis nicht nur Zustimmung suchte, sondern auch für die Diskussion durchaus offen war. Ich spürte nachdrücklich das, was Michael Stürmer in seinem Nachruf auf Helmut Schmidt „Klugheit durch Erfahrung“ nennen sollte.

Helmut Kohl nahm erstmals im Dezember 1982 in Kopenhagen an einer Tagung des Europäischen Rats teil. Einarbeitungs- oder Schonzeit wurden ihm nicht gewährt, im anschließenden ersten Halbjahr 1983 stand die EG unter deutschem Vorsitz: Er musste bereits im Frühjahr 1983 in Brüssel und im Juni 1983 bei dem „eigentlichen“ Europäischen Rat unter deutscher Präsidentschaft den Vorsitz führen.

Er wollte und konnte aus seinen europäischen Überzeugungen heraus einfach die europäische innere Krise der Jahre 1981/82 nicht akzeptieren. Für ihn war es einfach inakzeptabel und unbegreiflich, die europäische Integration mit „Eurosklerose“, einer schlimmen Krankheit, dem Stichwort der damaligen Zeit, zu umschreiben!

Dies waren die einleitenden Worte bei der ersten Pressekonferenz Helmut Kohls, die ich miterlebte – ich konnte damals nicht ahnen, dass ich gut ein Jahrzehnt später zum Abschluss der Tagung des Europäischen Rats wie auch bei anderen europäischen und internationalen Begegnungen regelmäßig neben ihm auf dem Podium sitzen sollte.

Neben dem auf europäischem Parkett souveränen Genscher stand er als der „Neue“ naturgemäß unter penibler Beobachtung seiner Kollegen – zu Anfang mit etwas weniger esprit de corps oder Rücksicht. Und doch, auch er fand bald den Respekt seiner Kollegen – abgesehen von einigen auch in der Politik typischen Sonderverhältnissen wie zum Beispiel mit Margret Thatcher. Spätestens im Frühjahr 1988 bis zu seinem Ausscheiden aus dem Amt zehn Jahre später wurde Helmut Kohl zur führenden, ja beherrschenden Persönlichkeit des Europäischen Rats, zusammen mit Jacques Delors der Europäischen Union insgesamt.

4. Politische Lehrjahre unter Hans-Dietrich Genscher, 1985–87

In der Schlussphase der Beitrittsverhandlungen mit Spanien und Portugal kündigte sich – wieder unerwartet – der nächste Schritt Richtung Politik an. Hans-Dietrich Genscher fragte mich, ob ich im nächsten Jahre in sein Büro nach Bonn wechseln wolle, dies sei jedenfalls sein Wunsch.

Es war klar, dass die Antwort nur ein „ja“ sein konnte. Es sollten meine Lehrjahre unter dem langjährigen Außenminister Hans-Dietrich Genscher folgen, dem professionellsten aller Politiker, die ich in all den Jahren kennenlernte, und seinem Kabinettchef Michael Jansen. Hinzu kam die enge Arbeit mit den Staatssekretären Hans-Werner Lautenschlager und Jürgen Ruhfus, auch er wurde wie Hans-Werner Lautenschlager in ganz unterschiedlicher Weise zum Vorbild und zu einem „älteren Freund“.

Und die europäische Politik blieb im „Ministerbüro“ mein Betätigungsfeld, damit auch der permanente Kontakt zur Brüsseler Szene und zu den Ministern bzw. ihren Mitarbeitern, mit denen Hans-Dietrich Genscher in erster Linie den Kontakt hielt. Daneben lernte ich einen Bereich „politisch“ kennen, den ich zuvor in Algier als junger Diplomat betreut hatte: die Auswärtige Kulturpolitik und eine ihrer wichtigsten „Waffen“, das Goethe-Institut. Ich musste lernen, dass der politische Stellenwert der „Auswärtigen Kulturpolitik“ für Genscher weitaus höher war, als die Mehrheit der Diplomaten dies verstand.

Doch zurück zu Hans-Dietrich Genscher, der trotz wiederkehrender gesundheitlicher Probleme ein Arbeitspensum vorlegte, das selbst für den jungen Mitarbeiter oft im Grunde fast zu hoch war, und auch sie zu gleicher Höchstleistung antrieb. Man musste sich oft fragen, wie er die Dreifachbelastung durchhalten konnte: Führer einer von der 5%-Klausel bedrohten Partei, Vizekanzler einer Koalitionsregierung, der ein gutes Drittel seiner eigenen Partei kritisch gegenüberstand, und zugleich Außenminister Deutschlands – eines Landes, von dem die Europäer und die Welt eine mehr und mehr aktive Rolle erwarteten.

Hinzu kam, es waren Genscher und Graf Lambsdorff, die 1982 nach der sozialliberalen Ära die Wende hin zu einer Koalition mit der CDU/CSU und Helmut Kohl vollzogen hatten, mit allen Risiken für die FDP. Genscher führte die FDP 1990 zu einem Traumergebnis von 11% bei den Wahlen zum Bundestag, Guido Westerwelle sollte es 2009 mit 14,6% noch übertreffen. Allerdings war dies keine Überlebensgarantie, wie es sich 2013 erweisen sollte.

Genscher schien oft getrieben, besser noch als einer, der permanent nach Ideen suchte, die einerseits hilfreich für Deutschland, aber zugleich für seine Partei und ihn waren. Naturgemäß war diese Strategie nicht frei von – begrenzten – Konflikten mit dem Koalitionspartner und dem Bundeskanzler. Europa- und Außenpolitik stand daher naturgemäß stark unter kurzfristigen Effekten, aber Genscher stand auch zugleich für eine längerfristige Strategie, in erster Linie in Bezug auf die europäische Politik, der er versuchte, in Deutschland mit seinem Markenzeichen, das der FDP, zu versehen.

Gegenüber dem „Hause“ verließ sich Genscher auf den Leiter seines Büros, Michael Jansen, und die Staatssekretäre als ruhende Pole – ich denke an Jürgen Sudhoff, dem das Haus viel an Fairness und politischem Gespür verdankt, oder an Jürgen Ruhfus, dann vor allem an Hanns-Werner Lautenschlager. Ihm versicherte Helmut Kohl bei seinem schon verspäteten Eintritt in den Ruhestand im Kabinett mit allem Ernst, er könne – von ihm aus – so lange Staatssekretär bleiben, wie er dies wünsche! Er war in seiner unnachahmlichen, bedächtigen, abwägenden Art der respektierteste Vertreter, den das Auswärtige Amt über viele Jahre hatte.

Genscher war selbst ein harter Arbeiter, der sich nichts schenkte, aber auch uns kleiner Mannschaft nichts. Er war gleichzeitig vor allem ein begnadeter Netzwerker, ein politisches Schlitzohr, untypisch deutsch in gewisser Weise und gehörte schon damals zu den anerkannten politischen Strippenziehern in Europa, was Helmut Kohl noch werden sollte.

Genscher hatte politisches Feingefühl, er roch Probleme sehr früh, früher als andere. Bei ihm funktionierte ein Frühwarnsystem glänzend und viel besser als bei vielen anderen. Ich lernte damals seine wichtigsten „Informanten“ und Vertrauenspersonen aus den Ländern und der FDP kennen, einige wie den Freiherrn von Gumppenberg im niederbayerischen Bayerbach besonders schätzen. Genscher war Parteivorsitzender und Minister, die FDP war nach der Wende 1982 in einer schwierigen, zuweilen prekären Lage. Er hat die Übernehme von Verantwortung nie gescheut. Und es kam sein geschicktes Zusammenspiel mit dem Kanzler hinzu, der mehr und mehr in eine europäische Rolle hineinwuchs. Genscher hat immer wieder die Nischen, die er nehmen konnte, erkannt. Er hat es auch regelmäßig geschafft, damit die Politik der Regierung in eine Richtung zu lenken, die ihm vorschwebte. Manchmal ging das bis zur Grenze, wo die CDU/CSU oder Helmut Kohl mitspielen konnten und wollten.

Schien es ihm selbst zu riskant, so schickte er einen „Minenhund“ voran, oft war dies der damalige Staatsminister im Auswärtigen Amt, Jürgen Möllemann, oder auch ein Dritter. Genscher nahm es aber in den Jahren auch dann hin, vom Koalitionspartner oder vom Bundeskanzler selbst direkt oder indirekt „zurückgepfiffen“ zu werden.

 

Ihm war es wichtig, er hatte seine politische „Duftmarke“ hinterlassen. Er setzte dabei – auch um seine Partei im Gespräch zu halten – auf eine intensive und vor allem effiziente Pressearbeit. Er lancierte oft morgens früh durch ein Interview Nachrichten und setzte darauf, dass diese im Laufe des Tages, gegebenenfalls in Variationen, immer wieder wiederholt wurden.

Einer der politischen Weggefährten jener Jahre, der frühere Arbeitsminister Norbert Blüm, stellte in einem Nachruf zu Recht fest „Hans-Dietrich Genscher war immerzu online, schon lange bevor es das Internet gab ... Vielleicht war er deshalb oft seiner Zeit voraus, er hatte einen Riecher für das, was kommt“. Hans-Dietrich Genscher war halt ein Politprofi in jeder Hinsicht.

Ich hatte bei ihm enorm dazu gelernt, vor allem politische Professionalität. Was mich mit ihm auch nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik verbunden hat– und dafür hat er meinen uneingeschränkten Respekt, sind seine Verlässlichkeit, seine knallharte Professionalität sowie das Arbeiten unter höchstem Druck.

Nach seinem Rücktritt im Jahre 1992 begegneten wir uns mehr oder minder regelmäßig in Bonn, später in Berlin bei Anlässen verschiedenster Art. Und immer wieder tauschten wir uns in einer sehr offenen, direkten Weise über aktuelle Entwicklungen in der Europa- und Außenpolitik aus. Er stellte mir oft konkrete Fragen, auch zum Auswärtigen Amt, und ich hörte seinen kritischen Anmerkungen gerne zu. Letztere galten in den letzten Jahren vor allem der Entwicklung der europäischen Integration wie der Sorge um das Verhältnis zu Russland, wo Europa in gewisser Weise den „Kompass“ verloren habe! Wir waren nicht immer der gleichen politischen Auffassung, aber das störte weder ihn noch mich. Und er hatte über die Jahre nichts von seinem politischen Gespür verloren!

Bei unserem letzten Gespräch in Berlin im Jahre 2015 wirkte er gesundheitlich geschwächt, aber durchaus engagiert und alert. Die Nachricht von seinem Tode am 31. März 2016 im Alter von 89 Jahren hat mich getroffen. Auch wenn ich „nur“ zwei Jahre mit ihm direkt gearbeitet habe und ihn und seine Politik über zehn Jahre als Angehöriger des Auswärtigen Dienstes von den Vertretungen in Algier und Brüssel, dann aus dem Kanzleramt mitverfolgte, so fühlte ich mich mit ihm doch besonders verbunden, er war einer meiner „Mentoren“, mein erster „Lehrmeister“, der mich in gewisser Weise begonnen hat zu formen, herauszufordern und der mich gefördert hat.

Bundespräsident Joachim Gauck hat Hans-Dietrich Genscher im Rahmen der Würdigung seines politischen Wirkens beim Staatsakt am 17. April 2016 zu Recht als einen „deutschen Patrioten und überzeugten Europäer“ bezeichnet. Er stellte zudem fest, dass „die Verbindung aus Prinzipientreue und Pragmatismus, langfristiger Strategie und Erkennen des kurzfristig Gebotenen“ das Wirken Genschers gekennzeichnet habe. Genscher war in all den Jahren auch bei den Verbündeten nicht unumstritten, dies galt vor allem für sein unerschütterliches Eintreten für den Ausbau der KSZE, die eines Tages die militärischen Bündnisse in Europa ablösen könnte. Darauf wird noch an anderer Stelle einzugehen sein.

Genschers Persönlichkeit, seine Stärken, Ecken und Kanten wurden mir nach seinem Tode noch einmal vor Augen geführt, als mich die Herausgeber der „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“ des Jahres 1986 dazu einluden, die wesentlichen politischen Elemente dieser Zeit vorzustellen.