Wotans Schatten oder Herr Urban und Herr Blumentritt beschimpfen sich

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Die Neuschwabenländer (NSL) sind organisiert und verblüffen. Diese Herren sind Brandstifter und betreiben an ihren Sympathisanten eine systematische Gehirnwäsche. Diesen Leuten ist schwer ihr unseliges Handwerk zu legen, weil sie es gut verstehen, die Lücken des Rechtsstaates für ihre Zwecke zu nutzen. Die Server ihrer Internetseiten befinden sich in der Regel im Ausland und entziehen sich somit geschickt der deutschen Rechtsprechung.

Nachdem der Neuschwabenland-Spuk auf der kleinen reichsdeutschen Insel zwischen Kreuzberg und dem Prenzlauer Berg endlich vorüber ist, schlendere ich die Wallstraße entlang und setze mich ans Ufer der Spree. Keine tausend Meter von hier befanden sich die Zentralen der Gestapo, SS und des Reichssicherheitshauptamtes – jene Gebäude, in denen die Pläne dafür geschmiedet wurden, Millionen Menschen mit unsäglichem Leid zu überziehen und letztlich einen ganzen Kontinent in Schutt und Asche zu legen.

Für Leute wie Schmidt-Zupf, Heise, Weißkopf oder Hofmann und all ihren Jüngern spielt dies natürlich keine Rolle, denn längst, so glauben sie, fliegen die Vril 7 Jäger der Neuschwabenländer jede Nacht von Nord nach Süd oder von Süd nach Nord über Berlin – erkennbar an den Kondensstreifen am Himmel.

Daniel überlegte. Vielleicht ist das Material von Munkelt so gut, dass er es in sein Manuskript einarbeiten konnte. Er sah auf die Uhr und dann kurz aus dem Fenster. Berlin rüstete sich für den Abend. Die Straßenbeleuchtung knipste sich an und der Fernsehturm erstrahlte.

Ach, du liebe Güte, dachte er, ich muss los.

Rasch schloss er alle Dateien, fuhr den Laptop herunter und machte sich auf den Weg zu Ramsch & Plunder im Prenzlauer Berg in der Schönhauser Allee.

Kapitel 14

Eine schier endlose Reihe Laster schleppte sich den Anstieg hinter der Raststätte Teutoburger Wald die A2 hoch. Obwohl sein Caddy von Robben & Wientjes locker an der Karawane hätte vorbeiziehen können, wagte es Benjamin Krause nicht zu überholen.

Stattdessen starrte er unentwegt und immer nervöser werdend abwechselnd in den linken oder in den rechten Außenspiegel seines Autos. Seit ungefähr einer halben Stunde wusste er, dass er verfolgt wurde. Darin bestand für ihn kein Zweifel mehr.

Aufgefallen war ihm der silberfarbene Audi schon kurz hinter Milmersdorf, als er losgefahren war.

Nanu, wo kommt der denn plötzlich her, hatte er gedacht und sich dann nicht weiter darüber gesorgt.

Welche Strecke er Richtung Westen fahren sollte, war ihm nicht angewiesen worden, also fuhr Benjamin Krause zurück die B 109 bis nach Wandlitz, wählte dann den Berliner Ring und schließlich die A2 Berlin-Hannover-Osnabrück. Kurz hinter der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze fiel ihm der silberfarbene Audi das zweite Mal auf.

Woher kommt der denn plötzlich wieder? dachte er und wurde neugierig.

Das Schwierige war, dass es in dem Caddy keinen Innenspiegel gab. Der geschlossene Kasten verhinderte den Blick nach hinten. So war Benjamin Krause gezwungen, die Außenspiegel zu benutzen. Und das bedeutete, um besser sehen zu können, ständig die Spur zu wechseln. Er wechselte die Spur, guckte, wechselte die Spur, guckte. Der Audi folgte.

Kurz hinter Wolfsburg nannte er sich einen hysterischen Depp, weil der Audi verschwunden war. Er blieb verschwunden bis zum Autobahndreieck Porto Westfalica und Benjamin entspannte sich. Und plötzlich war er wieder da. Direkt hinter ihm. Nicht zu übersehen. Benjamin wurde nervös und begann nun zu rauchen, als gelte es eine Meisterschaft im Schnell-Rauchen zu gewinnen.

Er schaltete das Radio aus, schaltete es ein und fixierte mit zusammengekniffenen Augen das winzige Audibild in einem der Seitenspiegel, in der Hoffnung, dass es vielleicht wieder verschwand. Es blieb. Mal überlegte er, so scharf zu bremsen, dass ihm sein Verfolger ins Heck krachte, mal überlegte er, die nächstbeste Abfahrt zu nehmen, das Auto irgendwo abzustellen und davon zu rennen.

Zwischendurch redete er sich immer wieder ein, dass er einfach nur von seinem Auftraggeber kontrolliert wurde, um seine Zuverlässigkeit zu testen. Schließlich war das sein erster Auftrag. Sollte irgendein Gangster hinter ihm her sein, um ihm das abzujagen, was er transportierte, handelte der Typ jedenfalls grob fahrlässig. Er hatte schon mehrere Möglichkeiten verstreichen lassen, relativ gefahrlos an die vermeintliche Beute zu gelangen. Einmal an der Autobahnraststätte Marienborn und einmal auf dem Parkplatz in der Nähe von Braunschweig während einer Pinkelpause.

Bliebe noch die Möglichkeit, dass die Bullen ihn observierten. Aber das wäre nur dann sinnvoll, wenn er etwas Illegales tat. Nun, das tat er vermutlich. Er war Kurier. Für was auch immer. Sein Auftraggeber war ihm unbekannt. Selbst schuld, dachte er und sein Blick flatterte zum wiederholten Male zum linken Außenspiegel des Caddys.

Er las die Aufschrift auf der Plane des Lkws vor ihm: Wenn Sie Ihren Joghurt oder Ihr Frühstücksmüsli per E-Mail verschicken können, sehen wir uns nie wieder.

Benjamin wurde sentimental. Da er im Moment das Radio ausgeschaltet hatte, begann er zu summen und dann zu singen. „Rape me! Rape me, my Friend.“

Im Grunde hatte er keine Ahnung, was er jetzt machen sollte. Seine Erfahrungen mit Verfolgern waren gleich Null. Der Ex-Freund seiner Ex-Geliebten hatte ihn einmal verfolgt. Der Typ stand tagelang vor seiner Wohnung und tat als wäre er ein gottverdammter Privatdetektiv. Als er dann sogar vor dem Behindertenwohnheim aufkreuzte, platzte Benjamin der Kragen. Er ging geradewegs auf ihn zu und wollte ihn zur Rede stellen.

„Du fickst meine Freundin“, hatte der Typ ihn angeblafft und ohne Vorwarnung zugeschlagen. Benjamin Krause sah daraufhin einen merkwürdigen Sternenhimmel und wollte außer sich vor Wut zurückschlagen, treten oder irgendetwas tun. Aber der Typ war schon davon gerannt. Gesehen hatte er ihn seitdem nicht wieder.

Vielleicht wäre das eine Idee, dachte er. Anhalten, aussteigen und den Verfolger zur Rede stellen. Und was, wenn der einfach das Gaspedal durchtrat? Schon sah er sich mit gebrochenen Gliedmaßen durch die Luft wirbeln. Nur, wie sollte er sich jetzt verhalten?

Einen Moment dachte er daran, jene Handynummer zu wählen, um dem unbekannten Auftraggeber seine Situation zu erklären. Was aber, wenn der tatsächlich jemanden damit beauftragt hatte, ihn zu überwachen. Bis auf die Knochen würde er sich blamieren, möglicherweise das erste und das letzte Mal gefahren sein und die neue Wohnungseinrichtung vergessen können. Diese Möglichkeit wollte er auf gar keinen Fall riskieren.

Da ihm die Erklärung, dass sein Auftraggeber ihn vermutlich überwachte, am vernünftigsten erschien, beschloss Benjamin den silberfarbenen Audi zu ignorieren. Vor ihm wälzte sich noch immer die LKW-Karawane. Er setzte den Blinker und beschleunigte. Der Caddy von Robben & Wientjes flog an den Lastern vorbei und der silberfarbene Audi folgte. Leck mich doch, dachte Benjamin Krause und erneuerte seine Ignorier-Taktik.

Er ärgerte sich darüber, dass er es versäumt hatte, wenigstens eine CD seiner Lieblingsmusik mitgenommen zu haben, dann fiel ihm ein, dass er ja bestohlen worden war. Die kleinen Schweißperlen, die sich mittlerweile auf seiner Stirn gebildet hatten, ignorierte er.

Benjamin murmelte leise seine Zieladresse und betrachtete die vor ihm ausgebreitete Landschaft. Die Autobahn schlängelte sich durch saftige Wiesen und Felder, in denen die kleinen Ortschaften wie hinein gemalt wirkten. Schön ist es hier, dachte er. Vielleicht sollte ich meinen nächsten Urlaub im Münsterland verbringen. Sofort sah er sich mit Anja die Radwege zwischen den Feldern entlang radeln. Und bis dahin besäße er auch genügend Kleingeld, träumte Benjamin, nun schon fast wieder beruhigt.

Da er inzwischen einen kleinen Hunger verspürte, überlegte er, die nächste Raststätte anzusteuern, um sich vielleicht Pommes oder eine Boulette zu kaufen. Gleichzeitig dachte er, dass der Bericht des engagierten Aufpassers vermutlich besser ausfallen würde, wenn er die Strecke ohne weitere Pausen bewältigte. Den unbekannten Auftraggeber würde es freuen. Also bekämpfte Benjamin Krause den kleinen Hunger mit einer Zigarette, straffte seine Schultern und fuhr weiter.

Kurz vor der niederländischen Grenze war seine Ignorier-Taktik endgültig Essig.

Kapitel 15

„Wer kommt denn auf solche verrückte Ideen?“, stöhnte Daniel Winterstein und rieb sich die Schläfen. Ihm war übel.

„Was glauben Sie, wie mir zumute war, als ich den Koffer geöffnet habe“, antwortete Karl und drückte die Fernbedienung seines Videorekorders. Die Bilder verschwanden. Beide schauten weiter auf die erloschene Mattscheibe des Fernsehers. „Nichts für leichte Gemüter, nicht wahr? Möchten Sie vielleicht etwas zu trinken?“

Daniel Winterstein stand auf, atmete tief durch und strich sich durchs Haar. „Ja, danke. Ein Glas Wasser könnte ich gebrauchen. Aber ich müsste erst mal zur Toilette.“

„Den Flur runter. Letzte Tür rechts.“

„Danke.“

Im Badezimmer angekommen, wusch sich Winterstein die Hände und betrachtete dabei im Spiegel über der Konsole sein Gesicht. Ich sehe erschöpft aus, stellte er fest. Die eben gesehenen Bilder zogen noch einmal an ihm vorüber, und er erschauerte.

Was ist denn das für eine ekelhafte Scheiße? dachte er und spülte sein Gesicht mit Wasser. Entsetzen rang mit Neugier.

Wenn dieses Video echt war, so dachte er, und es mir irgendwie gelingt, die vermummten Gestalten darauf zu identifizieren, dann wird das vermutlich die Story meines Lebens. Eine Sekunde lang dachte er an sein Skript und den SPIEGEL. Vielleicht würde dies sogar für eine Titelgeschichte reichen. Nun, ich werde sehen.

 

Winterstein drückte gedankenversunken die Klospülung, obwohl er weder gepinkelt noch gekotzt hatte und fixierte abermals sein Spiegelbild. Es war eine fixe Idee. Bis jetzt. Ein Name fiel ihm ein. Und dieser Name schob sich vor all seine anderen Gedanken. Er wusste nicht genau, warum, aber er wusste, dass dieser Name im Zusammenhang mit dem Video keineswegs absurd war. Im Gegenteil. Er glaubte ganz deutlich sich an eine dieser vermummten Gestalten erinnern zu können. Wenngleich natürlich nur die Silhouette der Gestalt deutlich geworden war, war sie dennoch unverwechselbar. Natürlich. Dieser kleine spindeldürre Kerl war möglicherweise Hermann Heise, der bei dem NSL-Treffen von seinem Ausflug zu den Externsteinen geschwärmt hatte. Einer war Hofmann, der andere vermutlich Heise. Aber wer waren die anderen? Sollte er mit seinen Ahnungen richtig liegen, bedeutete dies nicht nur ein Skandal von unüberschaubaren Auswirkungen, sondern auch, dass er vermutlich direkt in ein Hornissennest stach. Und zwar mit allen Konsequenzen.

Daniel zögerte. Schon einmal hatte die Berliner rechte Szene versucht, ihn einzuschüchtern. Wer wusste, wozu die fähig wären, wenn er erst einmal diese Schweinerei aufdeckte. Nein, dachte er, ich werde mich nicht einschüchtern lassen. Niemals. Ich werde nicht eher ruhen, schwor er sich, bis ich herausgefunden habe, wer diese Dreckskerle waren.

Noch einmal betrachtete er sich im Spiegel. Sein Blick war nun entschlossen und seine Augen funkelten.

Als er zurück ins Wohnzimmer kam, saß Munkelt bereits wieder vor dem Fernseher und begutachtete die leere Mattscheibe. Auf dem Tisch vor ihm stand eine Flasche Wasser und ein Glas.

Winterstein goss sich ein und nahm einen kräftigen Schluck.

„Glauben Sie, dass diese Filmaufnahmen echt sind? Ich meine...“ Er schwieg. Karl Munkelt beugte sich nach vorn, schob die Fingerspitzen aufeinander und kniff die Augen zusammen. Statt zu antworten, stellte er eine Gegenfrage. „Haben Sie den Mann erkannt?“

„Ja“, Winterstein nickte, „das war Doktor Rudolph Hofmann, angeblich Physiker. Er hat bei diesem Treffen die VRIL-Antriebe erklärt.“

„Die, mit denen die Neuschwabenlandnazis ihre fliegenden Untertassen durch die Hohle Erde jagen?“

„Ja… und über Berlin patrouillieren.“

„Ziemlich irre diese Typen, oder?“

„Ja, ziemlich. Aber offenbar zu Einigem fähig.“ Daniel Winterstein machte eine Kopfbewegung in Richtung des Fernsehers.

„Mich hätten diese Videobänder beinahe umgebracht.“ Karl Munkelt stand auf und ging in die Küche. Zurück kam er mit einer halb vollen Flasche Lafroaigh und zwei Gläsern. Er stellte die Flasche auf den Tisch und goss sich ein.

„Möchten Sie auch einen?“

„Gerne. Vielen Dank.“

Munkelt füllte das Glas von Winterstein und hob sein Glas. „Auf das Leben!“

„Auf das Leben. Erzählen Sie.“

„Ich weiß nicht, ob Sie mir glauben werden. Diese Geschichte klingt ein bisschen wie das Drehbuch eines ziemlich billigen Krimis.“

Daniel Winterstein schlug Beine übereinander und sah zu Munkelt. Karl Munkelt war ihm auf Anhieb sympathisch gewesen. Dieser Mann strahlte eine Ruhe aus, die Daniel fast ein wenig beneidete. Und offensichtlich besaß er Humor. Sehr verwundert war er darüber, dass Munkelt bislang nicht ein einziges Mal über den Preis des Materials gesprochen hatte. So, als hätte er völlig vergessen, dass er der Verkäufer war. Winterstein lächelte.

„Erzählen Sie sie mir?“

Und Karl Munkelt erzählte. Er ließ nicht einmal die Szene mit dem American Stafford aus, der ihm ohne seinen rettenden Turnschuh beinahe seinen Fuß zerfleischt hätte. Während Karl erzählte und merkte, wie ihn immer noch ab und an der kalte Schweiß ausbrach, starrten sie beide wie gebannt zur leeren Mattscheibe des Fernsehers. Oh, mein Gott, sagte Daniel manchmal oder: Ach, du meine Güte! Als Karl Munkelt mit seinen Erlebnissen fertig war, stießen sie miteinander an.

„Auf das Leben!“

„Auf das Leben.“

Eine Weile hingen sie ihren Gedanken nach und schließlich fragte Winterstein: „Haben Sie sich ein bisschen mit diesem Neuschwabenland-Schwachsinn beschäftigt?“

„Ja.“ Karl Munkelt kratzte sich an der Stirn, bevor er weitersprach. „Die Herrenrasse lässt grüßen. Ziemlich übel.“

Daniel Winterstein musste unwillkürlich schlucken. Plötzlich fröstelte ihm. Er dachte an dieses entsetzlich grausige Video; doch über die gesehenen Bilder wagte er im Moment mit Munkelt nicht zu sprechen. Er überlegte. „Ist Ihnen aufgefallen, dass die Aufnahmen von unterschiedlicher Qualität waren?“

Ohne eine Sekunde zu zögern, sagte Munkelt: „Ist mir! Zwischen dem Geständnis des Doktor Hofmann… und der Schweinerei liegen vielleicht fünf, wenn nicht sogar zehn Jahre. Die Aufnahmen sind von solch unterschiedlicher Qualität, weil die Leistungen der Camcorder extrem verschieden sind. Da gab es in den letzten Jahren eine gewaltige Entwicklung. Die Kamera, in die Hofmann spricht, ist ein ziemlich neues Modell. Gestochen scharfe Bilder, hochauflösend, wahrscheinlich mit allerlei Schnickschnack ausgestattet“, Munkelt drehte sein Glas in der Hand, „und dabei so winzig wie ein Whiskyglas. Die anderen Bilder stammen, denke ich, von einer Videokamera der ersten Generation. Damals kosteten die noch ein kleines Vermögen.“

Winterstein war verblüfft, aber die Erklärung erschien ihm logisch. Sein Blick wanderte durch den Raum und blieb an einem riesigen Stapel LPs hängen. „Wieso sind Sie technisch so versiert? Ich sehe hier bei Ihnen nicht einmal einen DVD-Player.“

Munkelt grinste.

„Seien Sie froh, sonst hätte ich Ihnen das Band gar nicht zeigen können. Ist einfach ´ne Marotte von mir. Das gute alte Vinyl oder Videobänder – auf so was steh´ ich halt. Denke sogar, dass die Daten darauf länger der Nachwelt erhalten bleiben, als auf CD, DVD oder MP3. Niemand kann vorhersagen, wie lange elektronisch gespeicherte Daten wirklich abrufbar sind. Zwanzig Jahre? Hundert? Fünfhundert? Dazu fehlt es uns schlicht an Erfahrung. Stellen Sie sich vor, eines Tages würde das Papier abgeschafft. Das wäre doch nun wirklich ein Jammer. E-Books, IPhones, IPod und weiß der Kuckuck nicht noch alles. Unser Leben wird immer elektronischer und eines Tages macht es wupps – und alles ist verloren, weil irgendein genialer Hacker zugeschlagen hat. Oder ein riesiger Crash die Stromzufuhr kappt. Man weiß ja nie.“ Munkelt zwinkert. „Aber deswegen verschließe ich noch lange nicht die Augen vor allem, was es auf dieser Welt so gibt. Schließlich betreibe ich einen Laden.“

„Ramsch und Plunder. Klingt nicht gerade nach High-Tech-Angeboten.“

„Muss es auch nicht.“

Daniel Winterstein merkte, wie ihm Karl Munkelt immer sympathischer wurde. Er betrachtete ihn. Munkelt schaute mit nun ernstem Gesicht aus dem Fenster und presste die Lippen aufeinander. Dann sagte er leise: „Dieser Neonaziphysiker-Doktor hat bei Dingen mitgemacht, für die er sich wahrscheinlich mittlerweile schämt oder so wie es scheint, geschämt hat. Aber vielleicht sind das auch alles nur Schauspieler. Ganz harmlos. Ähnlich wie bei diesem Stanley Kubrick Streifen: Eyes Wide Shut. Oder die sind echt durchgedreht. Und dann fragt man sich natürlich, was das soll. Wieso machen die so was? Ist dieser Typ jetzt wirklich tot oder ist das vielleicht auch nur inszeniert? Und wenn nicht, warum hat er dann diese Bänder auf dem Sperrmüll geworfen und mit dieser Drecksdynamitstange gesichert? Wenn ihn ernsthaft sein Gewissen so plagte, wäre es für mein Verständnis viel logischer gewesen, diesen ganzen Mist der Polizei zu übergegeben, ohne irgendwelche Kurzzeitwecker.“

„Ja. Das ist ein bisschen merkwürdig.“ Winterstein überlegte. „Vielleicht hatte er die Befürchtung, dass sein Selbstmord missglücken könnte, und er die große Rache der Protagonisten zu spüren bekäme. Einem Verräter schicken die eigenen Leute meistens kein Dankesschreiben.“

Munkelt nickte gedankenversunken. „Hm, das könnte gut sein. Trotzdem ist das alles doch völlig durchgeknallter Blödmist.“ Er atmete tief durch und rieb sich die Augen. „Kennen Sie übrigens die Wewelsburg?“

„Natürlich.“ Daniel Winterstein strahlte ein bisschen. Es gab nicht viele Leute, mit denen er sich über dieses Thema unterhalten konnte. Genau genommen war Nina die Einzige. „Wer sich mit Neuschwabenland beschäftigt, stößt fast automatisch irgendwann auf die Wewelsburg. Himmler hat dort mit hochrangigen SS-Leuten während des Dritten Reiches regelmäßig irgendwelche germanischen Rituale zelebriert, um ihrer Sache eine gewisse Spiritualität zu verleihen. Die Wewelsburg sollte das Zentrum einer neuen rassegemäßen Religion werden und nach dem Endsieg der Nazis sogar der Mittelpunkt der Welt. Unsere Neuschwabenländer pilgern dort regelmäßig hin. Ebenso, wie sie regelmäßig zu den Exzernsteinen pilgern.“

„Wissen Sie auch, dass sich unmittelbar bei der Wewelsburg ein KZ befand?“

„Ja. Das KZ Niederhagen.“

„Im KZ Niederhagen sind beim Umbau der Wewelsburg ungefähr 1200 Menschen umgekommen.“

„In den meisten KZs sind Menschen gestorben, Herr Munkelt.“

„Eben, da kommt es doch auf eine Tote mehr oder weniger nicht an. Oder?“

Eine kurze Zeit herrschte Stille im Raum.

„Nun denken Sie, dass die SS dort…“ Winterstein war der Erste, der seine Sprache wiederfand.

„Offen gestanden, nach diesem kleinen Streifen hier“, Munkelt tippte auf die Hülle der Videokassette, „würde es mich eher wundern, wenn die diese Scheiße nicht schon damals gemacht hätten. Das Zeichen der Schwarzen Sonne. Ist Ihnen das aufgefallen?“

Winterstein hob eine Augenbraue. „Ehrlich gesagt, ich habe nicht so genau auf die Details geachtet.“

„Verständlich, deshalb sollten Sie sich diesen Streifen auch noch einmal ansehen. Sie werden staunen. In Ihrem Artikel über das Neuschwabenlandtreffen beschreiben Sie dieses Zeichen ebenfalls.“

„Stimmt. Das Symbol der Schwarzen Sonne war dort auf eine Art Bettlaken geschmiert. Danke, dass Sie meinen Artikel so genau gelesen haben.“

„Wenn ich schon einmal Zeitung lese, dann richtig. Und wissen Sie, wo Sie dieses Zeichen ebenfalls finden?“

„Sagen Sie es mir.“

„Im Erdgeschoss des Nordturms der Wewelsburg. Es ist als Mosaik in den Fußboden eingelassen worden. Der Raum blieb erhalten. Sie können es noch heute besichtigen.“

Winterstein war verblüfft. „Glauben Sie, dass dieses… dieses Ritual schon damals praktiziert wurde… und bis heute?“

„… diese Schweinereien. Fragen Sie Ihre Neuschwabenland-Nazis.“

„Aber das hier ist eine Art Satanskult mit geschmacklosen sexuellen Exzessen. Ich meine, gerade die SS waren doch besonders scharf auf ihre reine Rasse. Wäre das in Ihren Augen nicht so etwas wie Rassenschande?“

„Im KZ Niederhagen gab es keine Juden, wenn Sie darauf hinaus wollen. Soweit ich weiß, waren dort in erster Linie Zeugen Jehovas. Deutsche.“ Karl Munkelt krauste seine Stirn. „Jeder Gott fordert irgendwelche Opferungen, oder?“

Daniel Winterstein schnappte unwillkürlich nach Luft. „Mein Gott.“

„In diesem Fall ist das wohl eher nicht Ihrer. Möchten Sie vielleicht noch einen Whisky?“

„Ja, bitte.“

Sie stießen miteinander an.

„Trotzdem ist das alles ein bisschen kranker Bockmist“, sagte Munkelt und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.

„Esoterischer Hitlerismus“, antwortete Daniel nur. „Aber inwiefern dort solche Rituale eine Rolle spielen, weiß ich nicht.“

„Esoterischer Hitlerismus? Was ist das?“

„Sagen wir, so etwas wie eine Verschwörungstheorie. Haben Sie schon einmal von Hyperborea gehört?“

„Hyper… was?“

Daniel lächelte. „Hyperborea. Unsere Neuschwabenlandfreaks glauben, dass im Reich der schwarzen Sonne die Nachkommen der Hyperboreer leben. Hellhäutige Riesen. Superintelligent. Und sie verfügen über die sogenannten Vril-Kräfte. Ihr Reich befindet sich zwischen Nord- und Südpol.“

Karl Munkelt runzelte abermals seine Stirn. „Hm, darüber stand auch etwas in ihrem Artikel. Jules Verne.“

„Unter anderem. Im esoterischen Hitlerismus wird einiges miteinander vermischt. Ein bisschen griechische Mythologie, ein bisschen Hinduismus, ein bisschen germanische und skandinavische Sagen, ein bisschen geheimes Wissen und dergleichen. Letztendlich läuft es auf eine große Weltverschwörung hinaus, angezettelt von den Juden und Christen, die natürlich den falschen Gott anbeten. Und alles beginnt mit dem Mythos von Hyperborea.“

 

„Erzählen Sie.“

Daniel kratzte sich an der Stirn.

„Ehrlich gesagt, ganz so einfach ist das gar nicht. Aber gut, ich will es versuchen. Wenn ich sie zu langweilen beginne, sagen Sie Bescheid. Also: In der griechischen Antike kannte man natürlich nicht den gesamten Globus. Die Reisen des Odysseus von Homer beispielsweise spielen sich ja in erster Linie im Mittelmeerraum ab. Aber es gab natürlich nicht nur Homer, auch andere machten sich so ihre Gedanken.“

„Natürlich“, sagte Munkelt grinsend.

„So auch Herodot. Herodot von Halikarnassos war Historiograf, Geograf und Völkerkundler. Er lebte im 5. Jahrhundert vor Christus und behauptete, zahlreiche Reisen unternommen zu haben, was allerdings einige Forscher bezweifeln und in ihm eher einen Schreibtischgelehrten sehen. Damit fängt der Mythos auch schon an… Nun gut, ich schweife ab. Jedenfalls erzählt Herodot in seinen Werken von einem sagenhaften Kontinent ganz im Norden der damals bekannten Welt, am äußersten Rand des Erdkreises mit dem Namen Hyperborea. Seine Bewohner, die Hyperboreer, waren hellhäutige blonde Riesen – ein gesegnetes Volk, das weder Alter noch Krankheit kannte.“

„So etwas wie unsterbliche Zyklopen?“

„Nicht ganz.“ Diesmal grinste Daniel Winterstein. „Dieser sagenhafte Kontinent Hyperborea erscheint auch in anderen Zusammenhängen in der griechischen Mythologie. Darauf will ich jetzt aber nicht weiter eingehen. Jedenfalls steht für die Anhänger des esoterischen Hitlerismus fest, dass jene sagenhaften hellhäutigen blonden Riesen entweder Götter waren oder Außerirdische.“

„Erich von Däniken lässt grüßen.“

„Ein bisschen… Und letztlich unsere Vorfahren.“

„Ach, ich dachte, wir kämen aus Afrika“, bemerkte Munkelt.

„Um Himmelswillen, lassen Sie die das bloß nicht hören. Hellhäutige blonde Riesen, was sagt Ihnen das?“

„Arisch. Die Arier oder wie haben Sie sie in Ihrem Artikel genannt: die Arianni. Richtig?“

„Genau. Die Arier als göttliche oder gottgleiche Übermenschen.“

„Und wann beginnt die Verschwörung?“

„Keine Sorge, es geht gleich los. Hyperborea ging aufgrund einer Naturkatastrophe apokalyptischen Ausmaßes unter. Übrigens vermuteten einige Forscher im 19. Jahrhundert, dass Hyperborea möglicherweise auch Atlantis gewesen sein könnte, Atlantis oder auch Thule, aber das nur nebenbei. Die überlebenden Hyperboreer oder Arianni zogen in zwei Gruppen in unterschiedliche Richtungen in die Welt und tauchten fortan sozusagen als Fußnoten in verschiedenen Kulturen und Überlieferungen auf. So beispielsweise glaubten die Mayas, dass ihre Vorfahren hellhäutige Riesen gewesen wären. In alten vedischen Schriften – die Veden sind die Vorfahren der Inder – ist von ihnen die Rede. Und sie tauchen ebenfalls in tibetischen Überlieferungen auf.“

„Woher weiß man von dieser Wanderung?“, unterbrach Munkelt Winterstein.

„Diese Informationen wiederum haben wir einigen esoterischen Geheimnisforschern zum Ende des 19. Jahrhunderts zu verdanken. Saint-Yves d´Alveydre zum Beispiel oder Jean-Claude Freré.“

„Ach.“

„Spiritistische Sitzungen, wenn Sie verstehen. D´Alveydre erklärte, dass er im Jahre 1885 von einer Gruppe Eingeweihter besucht wurde und mehrmals im telepathischen Kontakt zu den Arianni gestanden hätte. Aber dazu komme ich gleich.“

„Ein bisschen Gaga und literweise Absinth wahrscheinlich.“

„Möglicherweise.“ Daniel hielt kurz inne, „langweile ich Sie schon?“

„Nein, überhaupt nicht.“ Karl Munkelt schüttelte den Kopf und lehnte sich entspannt zurück. „Geschichten hören ist allemal besser, als Dynamitstangen an Kurzzeitweckern zu entschärfen.“

„Die Geheimnisforscher wussten noch mehr zu erzählen. Die Arianni errichteten zwei große geistige Zentren, um dort ihr Wissen von den Ursprüngen des Seins und ihrer geheimen Vril-Kräfte zu bewahren. Shamballa und Agarthi.“

„Was sind diese Vril-Kräfte, von denen Sie dauernd reden? Vril-Antriebe, Vril-Kräfte.“

„Dieser Begriff stammt übrigens aus einem Roman von Edward Bulwer-Lytton. Sein Roman: The Coming Race – Das kommende Geschlecht, erschien 1871 und erzählt von einem Mann, der einer unter der Erde lebenden Überrasse, den Vril-ya, begegnete. Die Vril-ya geboten über eine geheimnisvolle Kraft namens Vril. Diese Urenergie verlieh ihnen Macht über jede Form belebter oder unbelebter Materie und konnte zur Heilung, zur Erweckung Toter und zur Zerstörung eingesetzt werden. Am Ende des Romans gelingt dem Erzähler die Flucht aus dem Reich der Vril-ya, und er warnte seine Leser vor der Gefahr, die von den Vril-ya ausginge, sollten sie jemals an die Oberfläche zurückkehren. Also nicht nur Jules Verne, sondern auch Edward Bulwer-Lytton.“

„Ach, du meine Güte, das Geschwafel unserer Neuschwabenlandspinner geht also auf einen Roman zurück.“

„Möglicherweise, ich sagte ja, von allem etwas. Aber schon damals glaubten einige der esoterischen Zirkel, dass Edward Bulwer-Lytton von wahrhaftigen Dingen sprach, dass er sozusagen in seinem Roman geheimes Wissen preisgab. Helena Blavatsky, die Begründerin der Theosophie zum Beispiel behauptete schon kurz nach Erscheinen des Buches, dass diese Vril-Kräfte – eine Art kosmische Urkraft – auch indianischen Schamanen oder indischen Gurus bekannt wären. Es gab nicht nur in Deutschland Vril-Gesellschaften. Das Wort Vril war im englischen Sprachraum so bekannt, dass es Aufnahme in die Wörterbücher fand. 1886 kam ein Rindfleischextrakt unter dem Namen Bo-vril auf den Markt, dass Bezug auf die Vril-Kräften nahm. Dies diente natürlich ausschließlich Vermarktungsgründen. In der Zeit, als mit Einsteins Relativitätstheorie, der Quantenphysik oder der Entdeckung der Röntgenstrahlen – selbst für die damaligen Intellektuellen nur schwer nachvollziehbaren Theorien – die Menschen ein wenig in ihrem bis dahin vorhandenen Weltbild verunsichert wurden, gab es geradezu eine Blüte okkultistischer Gegenentwürfe zur Naturwissenschaft und man bemühte sich sogar ernsthaft, gemeinsame thematische Berührungspunkte zu finden. Vril war so etwas wie eine metaphysische Antwort, verstehen Sie. Die Urenergie, aus der das Universum hervorging.

Doch zurück zu Shamballa und Agharthi. Als auch diese beiden Zentren durch irgendetwas oder irgendwen zerstört wurden, verlegten die Arianni diese kurzerhand unter die Erde. In das Reich der schwarzen Sonne. Und von dort nahmen sie hin und wieder Kontakt zu einigen Auserwählten an der Erdoberfläche auf.“

„Lassen Sie mich raten. Blond mussten diejenigen schon sein oder?“

„Da liegen Sie nicht ganz falsch. In den 1920er wurde eine andere Geheimgesellschaft gegründet. Die Thule-Gesellschaft. Die rechten Esoteriker behaupten, dass die Thule-Gesellschaft maßgeblichen Einfluss auf die Herrschenden des Dritten Reiches genommen hat. Aber das ist nicht wirklich belegt. Heinrich Himmler, der spätere Reichsführer SS und einer der Hauptverantwortlichen des Holocaust soll jedenfalls ein Mitglied gewesen sein. Himmler hat an seinem großen Interesse an allem Germanischen keinen Hehl gemacht, und ich denke, er hätte seiner Herrenrasse auch gern eine neue Religion verordnet. Wewelsburg und so weiter. Auch der Thule-Gesellschaft haften einige Mysterien an. Vielleicht sind diese Mysterien, wie vieles andere auch, einfach nur Hirngespinste. Fakt ist jedenfalls, dass sich Himmlers SS als schwarze Bruderschaft verstand. Sie haben mir vom Zeichen der schwarzen Sonne auf dem Boden der Wewelsburg erzählt. Ich denke, das könnte durchaus ein direkter Bezug zu den Arianni und ihren Vril-Kräften sein, den Nachkommen der Hyperboreer, die unter der Erde leben und auf ihre Stunde warten. Die Anhänger des esoterischen Hitlerismus und damit unsere Neuschwabenländer sind jedenfalls davon überzeugt, dass jene Thule-Gesellschaft eine Art Geheimloge darstellte, eine Gegenkraft zur Herrschaft des Weltjudentums bildete.“

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