Dämon und Lamm

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Ich hoffe, dass ihr treuloser Kerl Karla schwer zu schaffen machen wird. Das ist das Mindeste, was sie verdient für all die Seelenschmerzen, die sie mir zugefügt hat. Karla hat übrigens ihre Lesung in Duisburg abgesagt, wie mir der Inhaber der Rochus-Buchhandlung bedauernd mitteilte. Eine Unpässlichkeit der geschätzten Autorin, wirklich zu schade. Aber die Sache werde am sechzehnten Dezember nachgeholt. Ich dankte dem Buchhändler und bestellte eine Karte auf den Namen Margot Fonteyn (ein bisschen Fantasie kann bestimmt nichts schaden), abzuholen eine halbe Stunde vor Beginn der Lesung.

Siri. Die Lesung zog sich entsetzlich in die Länge, und ich langweilte mich furchtbar. Karlas blecherne Stimme war die reinste Tortur, und nur die Freude darüber, dass ihre Hamsterbacken noch deutlicher hervortraten als früher, hielt mich bei der Stange. Eine Frust-Fresserin, hab ich‘s doch gewusst. Endlich kam Taubenuss zum Ende und hob siegessicher Kopf.

Es waren nur elf Leute in der Buchhandlung. Möglicherweise lag das an dem regnerischen Wetter. Die Temperatur lag nur knapp über Null, und wahrscheinlich hatten die Menschen einfach keine Lust, ihre gemütliche Wohnung zu verlassen. Vielleicht war aber auch Karlas Stern im Sinken begriffen. Möglicherweise hatten die Leute genug von ihrer quäkenden Stimme. Jedenfalls war die Autogrammschlange vor ihrem Lesepult erfreulich kurz. Nur vier Personen.

Ich stellte mich als Vorletzte an, ein Exemplar von Krähen im Nebel, Raben im Geäst in der Hand. Karla schrieb mit raumgreifenden Gesten Autogramme und lächelte huldvoll. Als ich an der Reihe war, überreichte ich ihr das aufgeschlagene Buch. Auf das Vorsatzblatt hatte ich mit großen Lettern gedruckt:

Jetzt bist du dran, du diebisches Miststück!

Du kommst vor Gericht!

Taubenuss erstarrte und zog scharf den Atem ein.

„Stimmt genau“, sagte ich heiter. „Bitte ein Autogramm, Frau Taubnessel.“

Karla riss den Kopf hoch und starrte mir ins Gesicht. Ich war ungeschminkt und sah so sauber und farblos aus, als hätte man mich mit Kernseife geschrubbt. Dazu trug ich eine Nickelbrille mit kreisrundem Gestell, die mir ein eulenhaftes Aussehen verlieh. Ohne Makeup sehe ich ohnehin völlig anders aus, jung und fast ein wenig unscheinbar. Außerdem hätte mich unter dem braven mausfarbenen Topfhaarschnitt noch nicht mal meine eigene Mutter erkannt.

Karla stierte mit leicht geöffnetem Mund zu mir hoch, die Hand mit dem teuren Montblanc unschlüssig in der Luft verharrend, während sie sich zu einer Entscheidung durchzuringen versuchte. Der Mann hinter mir wurde zappelig und begann mit den Füßen zu scharren. Taubenuss klappte den Mund zu und presste die Lippen zusammen. Dann schrieb sie unter meine drohenden Zeilen: „Mit guten Wünschen, Karla Taubnessel.“

Ihre Hand zitterte, und ihr Namenszug geriet leicht verwackelt.

„Verbindlichen Dank“, sagte ich höflich und fügte, schon halb zum Gehen gewandt, über die Schulter hinweg hinzu: „Woher kriegen Sie nur immer diese interessanten Stoffe und die prägnanten Formulierungen?“

„Ich erfinde sie“, schrie Taubenuss meinem sich entfernenden Rücken hinterher. „Ich denke sie mir aus. Es sind alles meine Erfindungen!“

Ich gestattete mir ein teuflisches kleines Lachen und verschwand rasch in der Dunkelheit. Draußen wartete ich nervös in meinem betagten Mercedes. Würde Taubnessel in Begleitung aus der Tür treten oder allein? Karlas Publikum hatte sich bereits davongemacht. Geblieben war nur der einsame Mann, der hinter mir angestanden hatte. Wenn nicht er oder der Buchhändler Karla nach Köln zurückbegleiteten, würde sie allein zurückfahren müssen.

Ich riss mir die mausbraune Perücke vom Kopf und nahm die runde Brille ab. Dann kauerte ich mich auf den Vordersitzen meines Wagens zusammen und überwachte mit Hilfe meines Schminkspiegels den Eingang der Buchhandlung. Übrigens werde ich Karla tatsächlich vor Gericht bringen. Bei meinem Rechtsanwalt liegt eine ausführliche Dokumentation ihrer sämtlichen Plagiate inklusive aller Beweise - Satz für Satz, Figur für Figur, Szene für Szene, Plot für Plot. Weitere Beweismittel lagern bei meinem Notar. Die Einbrüche durch Taubenuss und ihren willigen Kumpan Martin habe ich, wenn auch mit mehrjähriger Verspätung, bei der Polizei angezeigt, wobei ich nicht versäumt habe, der Kripo sämtliche Hintergrundinformationen einschließlich der Namen des sauberen Einbrecherpärchens zu übermitteln. Das wird bei einem Prozess sehr nützlich sein.

Tja, ich kann sie jederzeit verklagen, und da ich so lange nichts von ihren Plagiaten wusste, und Karla fleißig weiterplagiiert hat, ist der Streitwert inzwischen sehr hoch. Wenn Taubenuss den Prozess verliert, wird sie mir ziemlich viel Geld zahlen müssen. Und verlieren wird sie, denn meine Beweise sind eindeutig. Mein Anwalt hat den Streitwert auf insgesamt 185.000 Euro festgesetzt, und ich glaube, das Gericht wird sich dem anschließen. Selbst wenn Taubenuss keine 185.000 Euro hat - von meinen und ihren Prozesskosten, die sie natürlich auch bezahlen muss, ganz zu schweigen -, ist sie doch im Anschluss an den Prozess ruiniert. Kein Hund wird mehr ein Stück Brot von ihr nehmen, und sie ist alles los, was sie sich ergaunert hat: ihren Ruf, ihr Geld und ihren Rhett, den man ihr natürlich wieder aberkennen wird.

Ich seufzte wohlig, während ich unausgesetzt in den Schminkspiegel starrte, und träumte weiter vor mich hin. Taubenuss vor den Schranken des Gerichts, stotternd, gedemütigt und ständig an Boden verlierend, während sich die Stimmung im Saal allmählich immer stärker gegen sie kehrt und schließlich in blanke Empörung umschlägt. Taubenuss, gejagt von den Geiern der Yellow Press, die einen saftigen Skandal wittern. Taubenuss im Blitzlichtgewitter mit einem Schal über dem Kopf, die sich duckt und die Schultern einzieht, während sie in Handschellen durch die Gänge des Gerichts geführt wird. Bei diesen Träumereien wurde mir die Zeit nicht lang, und ich merkte nicht, dass bereits eine dreiviertel Stunde verstrichen war. Inzwischen war es lausig kalt im Wagen, und meine Finger waren klamm, aber ich wollte auf keinen Fall durch einen laufenden Motor die Aufmerksamkeit auf mich lenken.

Ich wollte wie ein rauchfarbener Geist im Finsteren hocken und auf meine Peinigerin warten. Also starrte ich weiter in den Schminkspiegel, während meine Finger allmählich ertaubten. Nach achtundvierzig Minuten kam sie endlich. Offenbar hatte sie verzweifelt versucht, Zeit zu schinden oder vielleicht auch, jemanden zu überreden, sie nach Köln zurückzubegleiten. Aber es hatte nicht funktioniert.

Taubenuss witterte nach allen Seiten wie ein gehetztes Tier. Inzwischen fiel ein leichter Nieselregen vom Himmel. Karla hastete zu ihrem Auto des Tages, einem knallroten Porsche Carrera, und schmetterte die Autotür zu. Sie stellte ihre Musik, ein übles Technogedröhn, dessen wummernde Bässe durch meine geschlossenen Autofenster drangen, auf brüllende Lautstärke. Mir drehte es den Magen um vor Abscheu. Taubenuss warf noch ein paar sichernde Blicke um sich, bevor sie mit Bleifuß und kreischenden Reifen davonschoss.

Ich wartete, bis Taubnessel um die Ecke war, ehe ich die Lichter einschaltete. Mein Wagen ist alt, aber er fährt noch locker hundertachtzig, denn ich habe ihn immer gut in Schuss gehalten. Und mehr ist auf den meist stark befahrenen Autobahnen zwischen der Kölner Senke und dem Ruhrgebiet ohnehin nicht drin. Dann fuhr ich ihr gemächlich hinterher. Ich kenne die Strecke zur Autobahn wie meine Westentasche, denn ein ehemaliger Liebhaber von mir wohnt in Duisburg. Ich kenne auch ein paar raffinierte Abkürzungen zur Autobahn. Taubenuss konnte mir nicht entwischen.

Wenige Kilometer nach der Autobahnauffahrt sah ich ihre Rücklichter. Taubenuss fuhr inzwischen langsamer, offenbar überzeugt, dass niemand hinter ihr her war. Auf der Bahn war nur geringfügiger Verkehr. Es regnete jetzt stärker, und aus einem Riss im wolkenverhangenen Himmel trat eine schmale Mondsichel hervor und warf ein fahles Licht auf die nasse Fahrbahn.

Jetzt! Ich atmete tief durch und beschleunigte den Wagen. Dann setzte ich mich genau hinter Karlas Auto auf die rechte Spur. Damit sie mich auch erkannte, hupte ich ein paar Mal in Stentorlautstärke.

Taubnessel sah in den Rückspiegel, und ihr hübscher Porsche machte einen Satz.

Sie wechselte auf die linke Spur, und ich folgte ihr auf dem Fuß. So brausten wir auf Gedeih und Verderb aneinander gekettet mit Höchstgeschwindigkeit über die Autobahn, während Taubnessel alarmierte Blicke in den Rückspiegel warf. Der Mond hatte sich wieder verfinstert und der kalte Regen, der vom Himmel fiel, begann in Schnee überzugehen. Der Schnee war nass und pappig und schmolz sofort wieder, aber die Sicht wurde schlechter und die Fahrbahn ein bisschen rutschig. Ich ging leicht vom Gas und ließ mich ein paar Meter zurückfallen.

Dann wurden die Flocken größer und taumelten mir in einem wahren Schneegestöber vor die nachtschwarze Windschutzscheibe. Binnen kürzester Zeit fiel der Schnee so dicht, dass ich kaum mehr die Hand vor Augen sah. Ich wechselte auf die rechte Fahrbahn und fuhr noch vorsichtiger. Kein Grund, sich wegen Taubnessel den Hals zu brechen. Kurz hinter Neuss war es dann ganz plötzlich vorüber. Der Himmel klarte auf, und ein paar Sterne funkelten wie geschliffene Kristalle. Die Fahrbahn trocknete rasch, und ich trat das Gaspedal bis zum Anschlag nieder. Doch obwohl ich raste wie der Teufel, konnte ich Taubnessels Porsche nicht mehr einholen.

„Verdammte Axt!“, sagte ich frustriert in den dunklen Wagen und zog enttäuscht meine Bahn heimwärts.

Ich durchfuhr gerade eine langgezogene Kurve, als am rechten Fahrbahnrand das blinkende Blaulicht eines Polizeiautos auftauchte. Ein Notarztwagen mit offener Tür stand direkt daneben. Ich drosselte das Tempo und folgte den Signalzeichen des Polizisten in Warnschutzweste, der alle Fahrer auf die linke Fahrspur winkte. Dann fuhr ich in mäßigem Tempo an der Unfallstelle vorbei und gähnte ermattet. Die Müdigkeit, die meiner stundenlangen Anspannung gefolgt war, wurde plötzlich übermächtig.

 

Auf dem Asphalt lag eine Person, die meinen Blicken verborgen blieb, flankiert von den gekrümmten Silhouetten zweier Rettungssanitäter. Zwischen drei Birken am rechten Fahrbahnrand hing Karlas roter Porsche. Die Vorderseite war eingedrückt, die Hinterräder verkeilt. Zwei junge Bäume vor der Unfallstelle waren in halber Höhe abrasiert. Die Schnauze des Porsches war von stumpfer, schwärzlich grauer Farbe. Offenbar hatte die Karosserie gebrannt.

Obwohl es relativ dunkel war, sah ich all das mit überirdischer Klarheit – ganz so, als hätte eine himmlische Hand Licht über die Szenerie ausgegossen. Mein Blutdruck ging steil nach oben, und mein Herz klopfte zum Zerspringen. Dann, genauso plötzlich, wie mein Herz zu rasen begonnen hatte, beruhigte es sich wieder. Eine frostige Klarheit überkam mich, und in mir breitete sich Lautlosigkeit aus. Ich wechselte zur rechten Fahrbahn, verringerte das Tempo noch weiter und zuckelte gemächlich heim.

Am nächsten Tag ließ ich es ruhig angehen. Ich nahm warme Lavendelbäder und legte mir Pfirsichmasken aufs Gesicht. Kalamaki spazierte auf dem Wannenrand auf und ab, wie er es immer tut, wenn ich bade. Von Zeit zu Zeit streckte er eine grau bepelzte Pfote ins Badewasser, als wolle er die Temperatur prüfen, und schüttelte die Pfote anschließend mit angewiderter Miene. Doch nach einer Weile stippte er sie wieder hinein. Derweil sann ich im warmen Wasser vor mich hin. Wollte ich, dass Taubnessel tot war? Nun, nicht um jeden Preis, aber heiße Tränen würde ich ihr bestimmt nicht hinterherweinen. Immerhin wäre dann endlich Schluss mit ihren Plagiaten. Doch über Taubnessels weiteres Schicksal hatte nicht ich zu entscheiden.

Abends lud ich meinen alten Malerfreund Dietmar ins Boccaccio ein und aß ein Filet Mignon mit Strohkartoffeln und grüner Soße, für die ich mein Konto überziehen musste. Dietmar aß gebräunte Forelle an Meerrettichschaum, und wir teilten uns eine große Schüssel Salat Nicoise. Dietmar war aufgekratzt, weil er demnächst bei einer der bekanntesten Kölner Galerien ausstellt, und auch ich war guter Laune. Ich trug ein mintgrünes Kleid mit kleinen schwarzen Tupfen und aß mit gesegnetem Appetit. Ganz egal, ob Taubenuss nun tot war oder bloß verwundet - es war auf jedem Fall eine erfreuliche Nachricht.

Dietmar machte mir Komplimente, während wir aßen. „Heute siehst du wirklich reizend aus!“, sagte er aufgeräumt und säbelte seiner Forelle den Kopf ab. „Ist dein Filet Mignon gut?“

„Himmlisch! Die grüne Soße ist ein Gedicht“, erwiderte ich kauend.

Früh am nächsten Morgen besorgte ich mir sämtliche Regionalzeitungen Kölns. Ich erfuhr, dass die bekannte Autorin Karla Taubnessel einen schweren Autounfall erlitten hatte. Ihr kirschroter Porsche Carrera hatte sich überschlagen, und Taubnessel lag im künstlichen Koma. Natürlich gab es durchaus Hoffnung, doch die Ärzte hatten leider Grund, anzunehmen, dass Taubnessel künftig vom zweiten Brustwirbel an gelähmt sein würde. Weil ihr Wagen in Brand geraten war, und die Rettungskräfte sie nicht rechtzeitig aus dem Wrack befreien konnten, hatte die Ärmste überdies schwere Brandwunden auf der der linken Gesichtshälfte, der Brust und den Oberarmen erlitten. Ihre Haare waren komplett verbrannt und würden auch nicht wieder wachsen. Aber das war nicht so schlimm, denn es gab ja sehr hübsche Damenperücken.

Ich lächelte still vor mich hin. Welch grausamer Schicksalsschlag hatte Taubnessel, die sich doch in ihren Büchern so engagiert für misshandelte Kinder und geschlagene Frauen einsetzt, da bloß getroffen? Diese feine Seele würde ihr weiteres Leben nun vermutlich an den Rollstuhl gefesselt verbringen. Es traf doch immer die Falschen. Armes Ding.

Siri, drei Jahre später. Nach so vielen Nöten und Seelenschmerzen hat sich mein Leben überraschend aufs Wunderbarste gewandelt. Gestern habe ich die Nachricht bekommen, dass mein Roman Archaische Rhapsodie, der die dramatischen Schicksale bei einer Überschwemmung in Mumbai schildert, mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wird. Mit dem Pulitzerpreis, Taubenuss! Das ist was anderes als ein Rhett, nicht wahr? Und mein jüngster Roman Feuriges Grenada über eine Umweltkatastrophe durch einen unterseeischen Vulkanausbruch wird vom renommierten Braveheart Verlag herausgebracht. Feuriges Grenada erscheint zur Buchmesse im Herbst als Hardcover mit einem wirklich großartigen Titelbild, und ich habe einen sehr erfreulichen Vorschuss kassiert. Dazu kommen noch die zehntausend Dollar, mit denen der Pulitzerpreis dotiert ist, sodass auch meine langjährigen Geldsorgen Geschichte sind.

Vorbei die Zeiten, in denen ich zerrissene Unterwäsche tragen und meine alten Pantoffeln mit Teppichklebeband flicken musste. Vorbei die Zeiten, in denen ich mir überlegen musste, ob ich mir eine Straßenbahnkarte leisten könnte oder ob ich zu Fuß ins Stadtzentrum laufen musste. Mein betagter Mercedes hat vor zwei Jahren den Geist aufgegeben, doch jetzt kann ich mir ein hübsches umweltfreundliches Elektroauto leisten. Und ich kann mir ein paar hinreißende Kleider in meiner Lieblingsboutique Nanettes Frühling aussuchen, die ich seit zehn Jahren strikt gemieden habe, da ich ohnehin nichts hätte kaufen können. Übrigens habe ich beschlossen, Karla Taubnessel im Moment noch nicht zu verklagen. Es würde mir zwar eine stolze Summe einbringen, aber Urheberrechtsprozesse sind zeitaufwändig. Stattdessen schreibe ich lieber meinen neuen Roman über einen achtundsechzigjährigen Prokuristen, der den Fotografen in sich entdeckt und auf seine alten Tage weltberühmt wird, zu Ende. Aufgeschoben ist schließlich nicht aufgehoben.

Wenn man der Klatschpresse glauben darf, ist Taubenuss ohnehin am Ende.

Seit zwei Jahren ist es nämlich totenstill um sie geworden. Karla lebt in einer Rehaklinik für Brandverletzte im Allgäu und wird vom Klinikpersonal hermetisch abgeschirmt. Trotzdem ist es irgendeinem Paparazzo mit Teleobjektiv gelungen, sie im klinikeigenen Park abzuschießen. Das Bild ging durch sämtliche Gazetten der Yellow Press, und auch ich sah es mir aufmerksam an.

Taubnessel hockt zusammengesunken in ihrem Rollstuhl, und ihre Schultern hängen mutlos herab. Sie ist mit soliden Gurten an der Rückenlehne festgeschnallt, damit sie nicht vornüberkippt, und starrt mit wütenden Augen in die Kamera. Die linke Seite ihres Gesichts ist von schweren Brandwunden entstellt, die Haut reptilartig vernarbt. Sie trägt ein farbenfrohes Kopftuch, und ihr Mund ist und schief und verzerrt.

Taubnessels Foto berührte mich eigenartig, doch ich konnte die Empfindungen, die flüchtig durch meine Seele geisterten, nicht greifen. War es Fassungslosigkeit? Erbarmen? Grauen? Genugtuung? Ich überlegte, ob ich Taubenuss dazu getrieben hatte, die Kontrolle über ihren Angeberschlitten zu verlieren.

Ich muss zugeben, es hat Zeiten gegeben, in denen ich Taubenuss am liebsten mit bloßen Händen erwürgt hätte. Nicht ohne ihr vorher die Zähne einzuschlagen, wohlgemerkt. Bestimmt hat es ein gewisses Entsetzen in ihr ausgelöst, als ich sie auf der ersten Buchseite darüber informierte, dass ich sie verklagen werde, denn sie wusste ja, dass sie schuldig war wie Kain. Andrerseits – wäre sie nicht mehrfach in meine Wohnung eingebrochen und würde seitdem meine Texte, Stoffe und Plots in übelster Form ausbeuten, würde ich sie doch auch nicht verklagen wollen. Für solche Fälle hat unser Rechtssystem die Urheberrechtsklage vorgesehen, von einer strafrechtlichen Verfolgung ihrer Einbrüche und Diebstähle gar nicht zu reden. Ihr geschieht also Recht.

Habe ich Taubnessel in Panik versetzt, als ich sie mit meinem Wagen die Autobahn entlanghetzte? Höchstwahrscheinlich. Obwohl ich das Resultat überraschend fand. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass sich Taubenuss so rasch in Panik versetzen ließe. Allerdings weiß ich, dass es beträchtliche Angst erzeugt, wenn einem auf der linken Spur ein Auto hinterherjagt, selbst bei dem relativ moderaten Tempo von Hundertzwanzig. Genau das ist mir nämlich selbst passiert, als ich noch jung und leicht zu beeindrucken war.

Ein schlammfarbener Ford, vollgepackt mit vier brutal aussehenden Kerlen, setzte sich auf der Autobahn nach Würzburg direkt hinter meinen klapprigen Volkswagen und trieb mich die linke Fahrbahn entlang. Die Bahn war gestopft voll; es gab einfach keine Lücke auf der rechten Seite, in die ich mich hätte hineinretten können. Weiter beschleunigen war auch nicht möglich, mein altes Auto fuhr bereits Spitzengeschwindigkeit. Im Rückspiegel konnte ich sehen, dass die Schweine über die ganzen viehischen Gesichter lachten, während ich Blut und Wasser schwitzte und mir vor Angst fast in die Hosen machte. Der Abstand zwischen uns betrug gerade mal eineinhalb Meter, und obwohl sie bei einem Crash ebenfalls draufgegangen wären, war das für diese Kerle anscheinend ein Mordsspaß. Endlich erspähte ich eine Lücke auf der rechten Fahrbahn und konnte ihnen entwischen. Von daher weiß ich genau, wie leicht man bei einer solchen Hetzjagd Todesängste aussteht.

Doch als der Unfall geschah, fuhr ich schon eine ganze Weile nicht mehr hinter Karla her. Zwischen dem Schneegestöber, das mich mein Tempo vermindern und zurückbleiben ließ, und Karlas Crash in den Birken lagen bestimmt zehn Minuten, in denen wir kilometerweit voneinander entfernt dahinfuhren. Sie ist also letztlich durch ihre blinde Panik und ihre unsinnige Raserei verunglückt. Habe ich Taubenuss also in den Unfall getrieben? Nein. Hätte ich es getan, wenn das Schneegestöber nicht gekommen wäre? Vielleicht. Unter Umständen.

Ja! Ich hatte es für einige Zeit ausgeblendet, aber jetzt erinnere ich mich wieder genau an die wenigen Minuten, die wir fast Stoßstange an Stoßstange zurücklegten, während wir mit hundertachtzig Sachen über die Autobahn brausten. Eine flammende atavistische Wut raste durch meinen Körper, und ich fühlte mich wie mit flüssigem Feuer gefüllt. Ich trat aufs Gas wie eine Besessene und hätte Taubnessel gerammt, wenn ich es nur gekonnt hätte, ich wollte sie rammen, ihr das Hirn aus dem Schädel rammen, mein Herz schrie nach Rache, nach Blut, und ein roter Nebel senkte sich über meine Augen, während ich ein rasselndes Fauchen ausstieß wie ein tollwütiges Raubtier…

Nur die Tatsache, dass die linke Spur vor Taubnessel plötzlich frei wurde, und sie davonraste, rettete sie und mich vor dem Zusammenstoß, auf den ich es mit jeder Faser meiner Seele angelegt hatte. Dies und das plötzlich einsetzende Schneegestöber, das den blutigen Nebel vor meinen Augen lichtete und mich wieder halbwegs zur Besinnung kommen ließ.

Mit dem Artikel über Karla in der Hand ging ich zum Fenster und zog beide Flügel weit auf. Die hereinströmende eiskalte Winterluft kühlte den glühenden Hass, den ich für einige Minuten erneut empfunden hatte. Ich ließ mich in einen Sessel sinken, hob die Zeitschrift vors Gesicht und las den Text unter dem scheußlichen Foto. Taubnessels Mann war im Begriff, sich von ihr scheiden zu lassen, um Mara Yesudian zu heiraten, was man ihm nicht verdenken konnte, denn Mara war achtundzwanzig Jahre jünger als Taubenuss und entschieden hübscher. Möglicherweise hatte sie sogar einen besseren Charakter, obwohl der diebische Martin das eigentlich nicht verdiente.

Ich blickte auf die dicht herabrieselnden Schneeflocken, die durch die sperrangelweit offenstehenden Fenster ins Zimmer trudelten. Das warme Licht der Stehlampe warf eine goldene Lichtinsel auf die Schneedecke des Gartens.

Tja, du bist eine Nachricht von gestern, Taubenuss.

Ich glaube, ich werde dir ein signiertes Exemplar meines Romans Archaische Rhapsodie schicken. Für Karla Taubnessel, mit freundlichen Genesungswünschen von Siri Hertog. Du wirst darin viele Texte finden, die dir von der gestohlenen Festplatte her bestens bekannt sind. Ich vermarkte meine Inhalte jetzt wieder selbst, Taubnessel. Archaische Rhapsodie wird dir die Zeit vertreiben. Mehr bleibt dir ohnehin nicht mehr, denn wir wissen beide, dass Querschnittslähmung beim derzeitigen Stand der Medizin nicht heilbar ist. Du kannst eine Schwester bitten, dir eine Lesevorrichtung an deinen Rollstuhl zu montieren, falls du das nicht schon getan hast. Ich hoffe doch sehr, dass du noch lesen kannst, Taubenuss. Aber nach dem, was die Yellow Press schreibt, bist du geistig noch absolut klar, wenn auch immer sehr rasch entkräftet.

 

Nun, Taubnessel, ich würde sagen: Gott hat mich gerächt.

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