Zensur im Dienst des Priesterbildes

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2. Das Dissertationsprojekt „Werden und Krise des Priesterberufes“

2.1 Genese des Themas

Jakob Crottogini immatrikulierte sich an der Universität Fribourg zum Wintersemester 1950/51. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon einige Ausbildungserfahrungen auf dem Weg zum Priestertum gesammelt. Er konnte nicht nur auf seine Ausbildungszeit als Seminarist zurückblicken, sondern war seit 1947 als Präfekt am Progymnasium in Rebstein auch schon selbst an der Erziehung möglicher künftiger Priester beteiligt gewesen. Weil die Missionsgesellschaft ihn nach seinem Abschluss als Lehrer und Erzieher wieder am Progymnasium in Rebstein einsetzen wollte, lag es nahe, eine Abschlussarbeit anzufertigen, die ihm dort später von praktischem Nutzen sein würde. Einen ersten Anstoß für eine solche Arbeit gab ihm sein Dozent für Arbeits- und Berufspsychologie, der sich früher schon einmal mit der Berufsmotivation reformierter Pfarrer beschäftigt und aktuell die Motivationen angehender Ordensschwestern untersuchte. Crottogini kam „die Idee, eine ähnliche Untersuchung für Priesteramtskandidaten durchzuführen.“139

Crottogini war der Bereich der Priestererziehung immerhin nicht unvertraut und die Aktualität des Themas – gerade in Zeiten des zunehmenden Priestermangels – war ihm durchaus bewusst.140 Ihn interessierte jedoch nicht nur die faktische Berufsmotivation dieser Männer, vielmehr wollte er auch untersuchen, welche Einflüsse auf die Entstehung eines solchen Berufswunsches einwirkten, so Crottogini später in einem Interview.141 Denn immer wieder hatte er die Erfahrung gemacht, dass „ideal gesinnte junge Menschen, die sich jahrelang mit allem Ernst auf den Priesterberuf einstellten, […] schließlich doch von diesem Vorhaben Abstand nahmen.“142 Auch waren ihm selbst Fälle bekannt, in denen zwar der Berufswunsch umgesetzt wurde, es später aber zu schweren Berufskrisen gekommen war.143 Aus eigener Erfahrung kannte er also die kritischen Punkte, die in einer solchen Arbeit zu untersuchen waren.144

Mit dem 20. Jahrhundert war der Priestermangel zu einem dringenden Problem der katholischen Kirche geworden.145 Der schon vor dem Zweiten Vatikanum erkennbare Rückgang des Priesternachwuchses löste vor allem in den USA eine Welle an Studien über Priester aus, die sich auf der Suche nach den Ursachen immer wieder mit den Berufsmotiven, der charakterlichen Eignung und der Kindheit der Kandidaten beschäftigten. Bereits zu Beginn der 1950er Jahre war die Liste an Priesterstudien deshalb lang und das Interesse daran groß. Allerdings waren diese Arbeiten überwiegend im englisch-amerikanischen Sprachraum entstanden und – wenn überhaupt – dort veröffentlicht worden.146 Deutschsprachige Autoren hatten sich zwar auch mit dem Thema befasst, doch nie im gleichen Umfang und mit gleicher Intensität wie die Amerikaner und ohne die dortigen Forschungen zur Kenntnis zu nehmen.147 Eine umfassende empirische Untersuchung anhand moderner wissenschaftlicher Methoden zu den Motiven der Berufswahl von Seminaristen bzw. Priestern stand für den deutschen Sprachraum noch aus.148

Crottoginis Dissertationsthema passte damit nicht nur zu seinen biographischen Seminarerfahrungen und der eigenen Interessenlage, sondern war zugleich hochaktuell. Die kulturellen, politischen, sozialen, pastoralen und zeitbedingten Ursachen für den Priestermangel hatte man schon erkannt149, doch fielen nicht nur ihre Gewichtung und Bewertung unterschiedlich aus, sondern auch die Überlegungen, wie sie zu beheben oder zu überwinden sein könnten. Vor allem dem Priesterseminar sprach man ein großes Potenzial zu, sich positiv auf den Priestermangel auszuwirken. Probleme in der Priesterbildung zu ermitteln und beheben zu können, bot die Aussicht, den Rückgang der Priesterberufe in Teilen zu begrenzen. Eine Reihe von Untersuchungen zum Priestermangel setzte daher bei der Priesterausbildung an und suchte dort schon nach den Gründen und Ursachen, die für ein späteres Austreten aus dem Seminar oder für ein Scheitern als Priester verantwortlich sein könnten, so auch Crottogini. Um seine Arbeit und seine Ansätze allerdings aus heutiger Sicht einordnen zu können, ist es hilfreich, einen Blick auf das zeitgenössische Priesterbild und dessen Bedeutung für die Seminarerziehung zu werfen. Es muss klar sein, was von Seminaristen bzw. Priestern vorausgesetzt und von ihnen erwartet wurde, um Crottoginis Ansätze und Befunde angemessen einordnen zu können. Priesterideal und Seminarerziehung waren notwendig verknüpft, weil das Priesterideal das normative Erziehungsziel implizierte. Welches Priesterbild und welche Seminarerziehung lagen Crottoginis Projekt also zugrunde? Auf welchen zeitgenössischen Grundlagen begann er seine Untersuchung? Was machte im amtlichen Verständnis das Wesen des Priestertums, des Priesters aus? Wie musste er persönlich-charakterlich sein, um seinem Wesensideal zu entsprechen? Konnte man solche erforderlichen Lebens-, Denk- und Verhaltensweisen im Rahmen der Seminarzeit anerziehen? Und wie? Mit welchen Methoden und Erziehungsmaßnahmen wurden Seminaristen in der Ausbildung auf ihr späteres Leben als Priester vorbereitet?

2.1.1 Das Priesterbild

Priesterbild und Priesterbildung waren seit jeher eng miteinander verknüpft und bedingten sich. Gab es Veränderungen im Priesterbild, machte sich das entsprechend in der Priesterausbildung bemerkbar. Gab es wiederum Defizite in der Priesterausbildung, konnte das Ideal des Priesterbilds nicht oder nur schwer erreicht werden. Der Begriff Priesterbild ist jedoch mehrschichtig. Er umfasst sowohl eine Wesens- und Funktionsbeschreibung als auch ein geistlich-aszetisches Ideal, das seit jeher dem Wandel unterliegt. Dem Konzil von Trient (1545–1563) war es zunächst ein Anliegen, dogmatisch die Existenz des Weihepriestertums zu verteidigen und zu sichern.150 Denn die Reformatoren hatten nicht nur die Rechtmäßigkeit eines eigenen klerikalen Standes, sondern auch die des Weihepriestertums verworfen.151 Die Reformatoren lehnten dessen klerikal-juridische Fixierung ab und beharrten auf dem gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen, in dessen Rahmen sie den Dienst an Wort und Sakrament nur als eine Funktion betrachteten.152 Von katholischer Seite wurde daher vorrangig die Sakramentalität der Weihe bekräftigt. Das Konzil definierte in antireformatorischer Verteidigung die ontologischen Unterschiede zwischen Kleriker und Laien.153 Die Weihe bewirkt demnach eine Veränderung im ontologischen Sinne, eine Seinsprägung, einen „unverlierbare[n] ‚Charakter‘“154. Und dieser Weihecharakter „macht aus dem Priester einen zweiten Christus (alter Christus).“155 Dem Wesen nach war ein Kandidat nach der Weihe damit anders. Diese „Zwei-Stände-Gliederung in (übergeordnete) Kleriker und (untergeordnete) Laien“156 war ausgerichtet auf den Kult und insbesondere die Sakramentenspendung.157 Denn an die ontologische Andersartigkeit waren die übernatürlichen Vollmachten gebunden. Es war die Auffassung, der Heilsauftrag der Kirche komme ausschließlich dem Priester zu, der „durch das Sakrament der Priesterweihe mit besonderen, übermenschlichen Befähigungen und Vollmachten“158 ausgestattet sei. Diese Vollmachten befähigten den Priester zum Verwalten und Ausspenden der Sakramente (vgl. 1 Kor 4,1). Durch die Weihe werde er zur eucharistischen Konsekration und damit unmittelbar zur Opferdarbringung befähigt. Der Funktion nach spende und vermittle er die Gnadengüter.159 In diesem Sinn wurde von katholischer Seite ein vor allem gegenreformatorisch bestimmtes Leitbild des Priesters und des Bischofs entwickelt, „das aus der Heiligen Schrift und den Kirchenvätern geschöpft wird, seinen konkreten Inhalt aber aus der seelsorglichen Not der kirchlichen Gegenwart erhält: das Ideal des Guten Hirten.“160 Das Konzil präzisierte das Ziel der Seminarerziehung aber nicht, indem es etwa positiv ein detailliertes geistlich-aszetisches Leitbild des Priesters vorgegeben hätte. Vielmehr begnügte es sich mit einer Abgrenzung der katholischen Lehre über das Priestertum gegen die protestantische Lehre.161

Der Umgang mit den Seminaristen orientierte sich deshalb zunächst auch nur an diesen Lehren: „Der Betonung des ‚sichtbaren‘ und ‚hierarchischen‘ Priestertums entspricht die Heraushebung der Kandidaten aus ihrer normalen Umgebung (Tonsur, Erziehung im Kolleg). Aus der Sakramentalität der Weihe ergibt sich die Erziehung zu einem religiösen und frommen Dasein“162. Das Konzil von Trient beabsichtigte, durch Reformgesetze jene Missstände zu beheben, die einer solchen Heraushebung entgegenstanden.163 Helfen sollte dabei die Hirten-Metapher.

Aus der besonderen ontologischen Qualifizierung des Priesters als Verwalter und Ausspender der Sakramente folgten besondere Anforderungen an seine Lebensführung164 und zwangsläufig entwickelten sich geistlich-aszetische Ansprüche, die „übermenschlich“ anmuteten.165 Priester sollten immerzu nach Vollkommenheit streben und ein Standesbewusstsein fördern.166 Durch ihr Beispiel sollten sie so auch als ein „Instrument der Rekatholisierung“167 fungieren. Dem Vorbild des Priesters kam damit eine besondere Rolle für die Seelsorge zu, indem er durch sein Beispiel die Frömmigkeit des Volkes fördern oder ihr schaden konnte. Die Beschreibung des ontologischen Wesenskerns blieb seitdem konstant und doch gab es nie das fixe und endgültige Priesterbild.168 Aufgrund unterschiedlicher seelsorglicher und gesellschaftlicher Situationen wurden immer wieder unterschiedliche Anforderungen aus demselben Wesensverständnis abgeleitet. Immer wieder äußerten sich die Päpste zum Bild des Priesters, wenn auch aus verschiedenen Anlässen oder mit unterschiedlichen Akzenten.169 Es gab „verschiedene Züge und Schattierungen am Priesterbild, die einzeln betrachtet werden können“170, die aber schließlich aufeinander aufbauten, sich ergänzten und/ oder aufeinander verwiesen.

 

Im 16. Jahrhundert war es z. B. aufgrund der Reformation dringend nötig, das Realbild des Priesters zu heben. Im 18. Jahrhundert wurde stattdessen das Bild des aufgeklärten Priesters zum Ideal. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es Johann Michael Sailer, der einer bibeltheologisch und ekklesiologisch ausgerichteten Priesterbildung und der Pastoraltheologie zu einem neuen Stellenwert verhalf,171 obwohl das „dynamische, lebensbezogene Priesterbild Sailers […] bald verflacht [wurde] zu einem kirchenamtlich überbetonten, uniformen aszetisch-strengen Erziehungs- und Tätigkeits-Leitbild.“172 Dies war der theologisch-kirchlichen restaurativen Tendenz im 19. Jahrhundert geschuldet. Vor allem seit dem Ersten Vatikanischen Konzil war das Priesterbild von „einer straffen Einheitlichkeit und Geschlossenheit, vor allem auch im Lebensstil und Erscheinungsbild bestimmt“173. Das Ziel war ein homogener Klerus.

Für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich zunächst die Heiligkeit des Priesterstandes bzw. die Selbstheiligung der Priester als Herzensangelegenheit der Päpste ausmachen. Die Selbstheiligung sollte das priesterliche Streben nach Heiligkeit sein, wenngleich sie manchmal mit einer „anthropozentrische[n] Selbstvervollkommnungsethik“174 verwechselt wurde. Tatsächlich bedeute Selbstheiligung immer „das Eingehen des Menschen auf das heiligende Tun Gottes, als bewußte Hinordnung des gesamten Lebens auf die Anbetung des Allheiligen.“175 Grundsätzlich habe sich der Mensch seiner Sündhaftigkeit vor Gott bewusst zu sein176 und deshalb stets nach Vollkommenheit streben.177

In einem Mahnwort von 1908 bestätigte Papst Pius X. die besondere Wichtigkeit der Vorbildfunktion des Priesters.178 Das Verhalten des Priesters und auch seine Lebensführung könnten folgenschwere Auswirkungen auf das Leben der Gläubigen haben. Der Priester sei das Licht der Welt und das Salz der Erde.179 Er verwies auf die Lehre, nach der zwischen einem Priester und einem gewöhnlichen rechtschaffenen Menschen ein Unterschied wie zwischen Himmel und Erde bestehe.180 Der Klerus müsse sich „heute mehr denn je […] durch ungewöhnliche Tugend auszeichnen, die schlechthin vorbildlich, tatkräftig und regsam ist, und schließlich restlos bereit, für Christus Heldenhaftes zu leisten und zu erdulden.“181 Schließlich mache der Glanz der Keuschheit den Priester den Engeln ähnlich, sichere ihm die Hochachtung der Gläubigen und verleihe auch seinem Wirken eine übernatürliche Segenskraft.182

Papst Pius XI. betonte in seiner Priesterenzyklika Ad catholici sacerdotii 1935, der Priester nehme die Mittlerrolle zwischen Mensch und Gott ein. Als „ein zweiter Christus“183 müsse der Priester möglichst nahe an die Vollkommenheit Christi kommen und sich durch die Heiligkeit seines Lebens und seines Wirkens Gott immer wohlgefälliger machen.184 Vor allem der Gehorsam war ihm ein besonderes Anliegen.185 Neben Frömmigkeit und Keuschheit sei aber auch die Kenntnis der katholischen Glaubens- und Sittenlehre zu erwarten. Zum einen müsse er sie vortragen können, zum anderen müsse er in der Lage sein, über Dogmen, Gesetze und den Kult, deren Diener er sei, Rede und Antwort zu stehen.186

Papst Pius XII. bekräftigte 1939 in einer Ansprache an junge Kleriker „das Programm des katholischen Priestertums“ als „übernatürliche Sonne[,] […] die mit der Wahrheit Christi den Geist der Menschen erleuchtet und ihr Herz mit der Liebe Christi entflammt. Diesem Ziel, diesem Programm muß daher die gesamte Vorbereitung und Ausbildung des angehenden Priesters entsprechen.“187 1950 – und damit hochaktuell für Crottogini – sah Papst Pius XII. nach dem Krieg infolge der materiellen Not, der Verwirrung der Geister und der daraus folgenden Abwendung von Christus die Notwendigkeit zu einem Mahnwort über die Heiligkeit des Priesterlebens.188 U. a. empfahl er den Priestern die Selbstverleugnung zur Einübung der Demut, das Gebet, die regelmäßige Beichte, die Verehrung der Gottesmutter und Exerzitien.189 Ausdrucksformen solcher Selbstverleugnung seien Gehorsam, Zölibat und Armut.190 Von besonderer Bedeutung für diese persönliche Heiligung sei der Zölibat, waren sich die Päpste einig. Papst Pius X. bezeichnete die Keuschheit etwa als eine „auserlesene Zierde unseres Standes“191. Und Papst Pius XII. fügte 1950 in dem Mahnwort Menti nostrae hinzu, „[j]e heller die priesterliche Keuschheit erstrahlt, desto mehr wird der Priester mit Christus zusammen ‚ein reines, ein heiliges, ein makelloses Opfer‘.“192 Er sprach zudem von Tugenden, „durch die der Priester das göttliche Beispiel Jesu Christi, so sehr es in seinen Kräften steht, in sich verkörpern soll“193. In der Enzyklika Sacra Virginitas betonte Papst Pius XII. 1954 noch einmal den ganz besonderen Wert der Jungfräulichkeit und Keuschheit und dass der junge Klerus zur Vollkommenheit des Priesters zu erziehen sei.194

Diesen Idealen war die Priesterbildung verpflichtet. Als Ziel jeder Seminarerziehung waren diese priesterlichen Pflichten damit schon im Seminar präsent.195 Alles in der Seminarerziehung sollte darauf ausgerichtet sein, das Erziehungsziel – die Selbstheiligung – zu erreichen. Das begann bereits mit der Auswahl der Priesterkandidaten. Schon der künftige Seminarist musste eine religiös-sittliche Eignung vorweisen. Konkret bedeutete das „gediegene Frömmigkeit, erprobte Reinheit des Lebens, Unterwürfigkeit und Lenksamkeit, Liebe zur Arbeit, Seeleneifer und endlich Anspruchslosigkeit.“196 Interessenten, bei denen kein Grund zur Annahme bestand, dass sie dem gerecht werden könnten, sollten schon frühzeitig abgewiesen bzw. aus dem Seminar entlassen werden.

2.1.2 Die Priesterausbildung

Das Erziehungsziel zu erreichen, war dennoch auch von einem Erziehungsweg bestimmt. Wie sah dieser Weg positiv-praktisch aus? Wie und mit welchen Mitteln sollten die vorgegebenen Ziele und Ideale erreicht werden? Auf welche Eigenschaften und Verhaltensweisen wurde bei Seminaristen besonders geachtet? Wie wurden Werte vermittelt, die die Seminaristen zu heiligen Priestern machen sollten? Wie sollten Seminaristen lernen, tugendhaft zu sein?197

2.1.2.1 Die Priesterausbildung nach dem Dekret des Konzils von Trient

In Grundlagen und -zügen ging die Priesterausbildung auch noch im 20. Jahrhundert auf das Konzil von Trient zurück. Auch und gerade die vorkonziliaren198 Priesterseminare, die Crottogini im Rahmen seines Promotionsprojekts untersuchte, wurzelten im sogenannten Tridentinischen Seminar.199 Die strikten Vorgaben, die die Seminarausbildung während Crottoginis eigener Seminarzeit und auch während seiner Arbeiten ausmachten, waren das Ergebnis von Entwicklungen des Seminargedankens über mehrere Jahrhunderte hindurch.200 Um die Eigenart der Seminaridee – auch mit möglichen Defiziten Mitte des 20. Jahrhunderts – verstehen zu können, ist deshalb ein Blick auf ihren Ursprung und ihre Entwicklung unerlässlich.201

Die Ausbildung und die Erziehung der angehenden Priester waren für das Tridentinische Konzil ein zentrales kirchliches Anliegen geworden, weil man auch die mangelnde Bildung des Klerus für die Glaubensspaltung verantwortlich machte.

„Der Typ des unwissenden, geistlich kaum gebildeten, aszetisch unterentwickelten, von zeitlichen Sorgen geplagten […] Klerikers […] war in weitem Ausmaß an jener religiösen Unwissenheit und Unentschiedenheit […] des Volkes […] mitschuldig, die das fast unbewußte Hinüberschlittern der Masse […] in die Kirche der Reformation zur Folge hatte.“202

Vor dem Tridentinum hatte, wer das Sakrament der Weihe empfangen wollte, lediglich an den Quatembertagen203, bestimmte durch Fasten gekennzeichnete Wochentage, vor der bischöflichen Kommission der jeweiligen Diözese eine Prüfung abzulegen.204 Diese Prüfung beschränkte sich meist auf die nötigsten Lateinkenntnisse, um die Messe lesen und die Sakramente spenden zu können.205 Nachzuweisen waren die technischen Voraussetzungen für den korrekten Vollzug der Liturgie, wie z. B. die Gesangs- und Predigtfähigkeit. „Das Zurechtfinden im Missale und Brevier mit Hilfe des Kalenders war ebenfalls Voraussetzung. Diese Kenntnisse hatten sich die Kandidaten in der Grammatikschule oder durch die Teilnahme am täglichen seelsorgerlichen Wirken eines Pfarrers erworben.“206 Exklusive Einrichtungen für die Ausbildung zukünftiger Priester waren noch nicht vorgesehen.207 Die Praxis, es den angehenden Priestern selbst zu überlassen, sich die liturgischen und praktischen Kenntnisse für die Weihe anzueignen, hatte jedoch zwei bedeutende Nachteile.208 Zum einen lag ein Mangel an Priestern oft darin begründet, dass den Priesteranwärtern die finanziellen Voraussetzungen für den Erwerb der nötigen Bildung fehlten.209 Zum anderen wurden Männer zu Priestern geweiht, die schließlich für die Aufgaben des Seelsorgers nicht (aus-)gebildet genug waren. Hier setzte das Konzil von Trient an.

Auf seiner 23. Sitzung befasste es sich mit dem Sakrament der Priesterweihe. Das in diesem Rahmen erarbeitete und verabschiedete Seminardekret Cum adolescentium aetas war das letzte der Dekrete, die den Missbrauch des Weihesakramentes behandelten.210 Mit diesem Seminardekret trug das Konzil jedem Diözesanbischof auf, ein Seminar211 in seiner Diözese zu errichten – daher der Name Tridentinisches Seminar.212 Erstmalig gab es damit Normen auf gesamtkirchlicher Ebene für die Ausbildungsstätten von Priestern. Für schlechter situierte Familien, die das Geld für die Ausbildung des Sohnes nicht aufbringen konnten, war mit dem Dekret die Möglichkeit geschaffen worden, den Sohn in einem Seminar kostenfrei ausbilden und erziehen zu lassen.213 Beim Tridentinischen Seminar handelte es sich deshalb um eine Ausbildungsmöglichkeit214 für Jungen aus einfachen Verhältnissen ab dem 12. Lebensjahr, die bereits lesen und schreiben konnten und als Priesternachwuchs in Frage kamen.215 Die Jungen sollten dort unter einem Dach gemeinsam ausgebildet werden und unter gleicher Leitung stehen. Das Seminar war so aus der Not geschaffen worden und sollte zunächst allen bedürftigen Kandidaten die Ausbildung sichern. Von einer Verpflichtung der Kandidaten zum Eintritt in das Seminar oder gar einer Monopolisierung des Tridentinischen Seminars war zu diesem Zeitpunkt nicht die Rede.216

Auch detaillierte inhaltliche Vorgaben enthielt das Seminardekret nicht. Es beschränkte sich auf eine Auflistung der Studienfächer: „Grammatik, Kirchengesang, Heilige Schrift, Führung der Kirchenbücher, Homilien von Heiligen, Einführung in die Sakramentenspendung und ‚andere nützliche Künste‘.“217 Es schloss mit kurzen Ausführungen zur aszetischen Schulung der Kandidaten: täglicher Besuch der hl. Messe, monatliche Beichte, Kommuniongang gemäß dem Urteil des Beichtvaters und Dienst in den Kirchen an Feiertagen. Die Ausbildung war bewusst auf die seelsorgliche Praxis ausgerichtet und auf keine wissenschaftliche Tätigkeit.218 Gegenüber den vergangenen Jahrhunderten war es aber eine Ausbildung „auf einer soliden und […] erstaunlich breiten Grundlage, die weit über das Singen und Lesen als Mindestanforderung hinausgeht.“219 Das Konzil beschränkte sich auf minimale Vorgaben.220 Den Bischöfen kam somit ein großer Spielraum bei der inhaltlichen wie organisatorischen Ausgestaltung der Priestererziehung zu.221 Insgesamt handelte es sich bei dieser Einführung von Seminaren nicht so sehr um „eine pädagogische Schöpfung“ als um „eine organisatorische Tat großen Stiles zur Sicherung des klerikalen Nachwuchses.“222 Das Realbild des Priesters sollte verbessert werden und das Mittel dazu sollte eine breitere Bildung sein.

Die praktische Erziehung war oft ein Ausdruck des jeweils zeitgenössischen Menschenbilds. „Die Seminare waren […] vor dem Erfahrungshintergrund des Versagens der Jugend und des Klerus im Zeitalter der Reformation entstanden; das zugrundegelegte pessimistische Menschenbild war fast Allgemeingut“223. Spätestens nach der abgeschlossenen Seminarerziehung sollte dieses Menschenbild auf den Priester aber nicht mehr zutreffen. Die Seminare sollten so nicht nur für die gründliche Ausbildung der zukünftigen Priester sorgen, sondern sie auch vor dem Bösen bewahren, das durch die Erbsünde in der Welt war. Die Jugend sei den weltlichen Gelüsten ausgeliefert und deshalb zu Frömmigkeit und Religiosität zu erziehen, bevor die Gewohnheit zum Schlechten von ihr Besitz ergreife. Die Pädagogik war eng mit der Theologie verknüpft: Die Offenbarung diente als „universelles Erziehungs- und Bildungsprogramm, Gott und Christus erscheinen als Menschheitserzieher, die Kirche als Erziehungsanstalt und die Sakramente als Erziehungsmittel.“224 Analog zu Gott als Heilsgeber und dem Menschen als Heilsempfänger war auch das Verhältnis von Erzieher und Zögling klassisch hierarchisch strukturiert.225 Primäre Aufgabe der Erziehung war die Heilsvermittlung. „Erziehung wird zur Erlösung aus der durch die Erbsünde bedingten grundsätzlichen Sündhaftigkeit. Ziel der christlichen Erziehung ist die Schaffung des übernatürlichen Menschen, sie will den Zögling zur Ähnlichkeit mit Christus führen“226. Ohne die rechte Unterweisung könne die Jugend nie vollkommen werden.227

 

Vor dem Hintergrund eines solchen Menschenbildes überraschte es nicht, wenn die verantwortlichen Bischöfe die jeweilige Seminarordnung ihrer Diözese entsprechend streng ausgestalteten.228 Ein weltabgeschlossener Erziehungs- und ein autoritativer Führungsstil waren die Konsequenz.229 Regelungen waren der Überzeugung geschuldet, es festige einen Menschen, ihn – zumindest zeitweise – allen möglichen herausfordernden Erfahrungen zu entziehen.230

„Sieht man im Zögling vor allem jemanden, der zum Bösen neigt, so wird man bestrebt sein, ihn autoritär zu lenken und zu leiten und so vor dem Fall zu bewahren. Da man grundsätzlich Mißtrauen hegt, werden Überwachung und Kontrolle zu wichtigen Erziehungsmitteln. Eigeninitiative und individuelle Lebensgestaltung sind dagegen nur wenig gefragt; man unterbindet sie eher, als daß man sie fördert.“231

Als Vorbild für die Priesterseminare dienten oft Klöster, sowohl architektonisch als auch in Fragen des Erziehungsstils.232 Bereits die Knaben sollten in Seminaren „von der übrigen Welt streng abgesondert“233 werden, verbunden mit der tridentinischen Auflage, „zur angemesseneren Unterweisung in der kirchlichen Disziplin […] sofort die Tonsur und das klerikale Gewand“234 zu tragen. „Die Buben werden streng erzogen, gleich beim Eintritt […] in einen langen Talar gesteckt, ein Stehkragen kommt darauf, und der Bub wird in nicht zu geringen Abständen kahlgeschoren, regelmäßig noch einmal vor den Ferien, damit er sich seines Berufes stets bewußt bleibt.“235 Hinzu kamen meist strikte Besuchsregelungen, die an die klösterliche Klausur erinnerten236, und Ausgangsregeln für die Seminaristen: Man ging prinzipiell gemeinsam aus, aber immer strikt getrennt nach Jahrgängen. Das Ziel war vorher festzulegen. Privatausgänge waren nur mit einer Sondergenehmigung möglich und nur unter der Bedingung, dass ein von der Seminarleitung bestimmter Alumne zur Begleitung dabei war. Auch die Rückkehr war zu melden.237 Alles war auf eine Bewahrung vor möglichen negativen Einflüssen aus der Umwelt ausgerichtet und sollte „die Formung zum geistlichen Stand erleichtern.“238

In nahezu allen Seminaren gab es äußerst detaillierte Regelungen für die geistlichen Übungen, z. B.

„[d]as Brevier, das schon seinem Aufbau nach eher für religiöse Kommunitäten bestimmt ist,. [sic!] wurde zumindest teilweise ‚im Chor‘ verrichtet. Das stark betonte Element der Kontemplation (Betrachtungspunkte, Betrachtung), das fast ständige Stillschweigen im Haus und die Tischlesung bei Mahlzeiten seien als weitere Einzelelemente angeführt.“239

Ein Hauptmerkmal der verschiedenen Seminarordnungen war das strenge Zeitreglement. Die einzelnen Tage waren bis hin zu Halb- und Viertelstunden genau geordnet und vorgegeben.240 Das Ziel der Erziehung war nicht die Selbstständigkeit, sondern der Gehorsam.241 Unterordnung und Gehorsam gegenüber Vorgesetzten standen im Seminar an oberster Stelle.242 Es war selbstverständlich, dass die Alumnen den Anordnungen des Seminardirektors (Regens) Folge leisteten. Ebenso hatten sie „die erteilten Ermahnungen und Ratschläge vertrauensvoll anzunehmen, so wie sie später einmal selbst dem ihnen anvertrauten Volk Gehorsam lehren müssen.“243

Der konkrete Erziehungsstil im Seminar war auch ein Abbild der hierarchischen Struktur der Kirche, indem die Seminare von „oben nach unten strukturiert“244 waren. Die höchste Instanz war der Bischof, in dessen Namen auch die Statuten erschienen. Seine Stelle im Seminar vertrat der Regens. Die Seminaristen standen ihm als Erziehungsobjekte gegenüber.245 Damit lag es in der Natur der Sache begründet, dass auch das Reglement des Tagesablaufs „von oben“ vorgegeben und dem Betroffenen kein Mitspracherecht eingeräumt wurde.246 Der Bischof hatte zudem die Aufgabe, die Einhaltung der von ihm erlassenen Seminarordnung zu überwachen. Das tridentinische Seminardekret forderte ihn zu regelmäßigen Visitationen auf und verlangte, „Schwierige und Unverbesserliche und Verbreiter schlechter Sitten [hart zu] bestrafen […], nötigenfalls sogar durch Hinauswurf. Indem [die Bischöfe; J. S.] alle Hindernisse entfernen, bemühen sie sich mit Sorgfalt um alles, was nach ihrer Meinung zur Erhaltung und Förderung einer so frommen und heiligen Einrichtung dient.“247

Andere Vorgaben des Dekrets waren in der Praxis hingegen deutlich schwieriger umzusetzen. Beispielsweise die Personalfrage bedeutete in den kommenden Jahrzehnten größere Probleme und diese Schwierigkeit traf die Ausbildung der Seminaristen im Kern.248 Es fehlten die notwendigen Erzieher mit praktischen Erfahrungen aus dem Bereich der Seminarerziehung,249 zumal hier nicht nur theologisch gebildete und pädagogisch erfahrene Kräfte gefragt waren, „sondern auch solche, die durch einheitliche Methode und durch längeres Verbleiben bei ihrer Aufgabe die Kontinuität der neuen Einrichtung gewährleisten konnten.“250

Im 19. Jahrhundert kam es zu ernsthaften Streitigkeiten über die Frage der richtigen Priesterausbildungsstätte. Infolge der Säkularisation 1803 schrieb die staatskirchliche Politik den Priesterkandidaten das Universitätsstudium vor, das „nun [seinen] kirchlichen Charakter verloren hatte“251. Neue Ausbildungsstätten für die akademische Priesterausbildung wurden nach politischen Aspekten ohne kirchliche Mitwirkung errichtet.252 Es war „[d]as Bestreben des Staates, die Priesterausbildung unter seine Kontrolle zu bekommen und den bischöflichen Einfluß auf die Priestererziehung möglichst zu beschränken.“253 Staatlicherseits wollte man die Kandidaten „zum Nutzen für das Staatsgebilde […] erziehen; sie sollten zu Volkslehrern der Sitten und der Religion ausgebildet werden. Die geistlich-spirituelle Formung der Seminaristen wurde deshalb ganz hintangestellt.“254 Das entsprach nicht dem universalkirchlichen Anspruch, die Priesterausbildung nur nach eigenen Schwerpunkten, Tdealen und Zielen zu gestalten. Diese Konfliktsituation führte zu einer antiuniversitären Exegese des Trienter Seminardekrets. Seit dem Wiener Kongress wurde

„[d]ie ursprüngliche Absicht der Konzilsväter, wenigstens eine Grundausbildung auch für die ärmeren Alumnen zu garantieren, […] von anderen – kirchenpolitisch motivierten – Tnteressen überlagert. Man wollte den verhaßten Weltgeist treffen, man wollte seine Hauptpflanzstätte, die Universität, vernichten“255.

Im Rahmen der Reorganisation der Bistümer wurden Vereinbarungen zwischen den deutschen Ländern und dem Hl. Stuhl getroffen, die jeweils ein diözesanes Priesterseminar und dessen Leitung durch den Bischof bestimmten.

„In allen Verträgen […] war die Rede davon, daß Unterricht und Erziehung in den Seminarien nach der Norm des Konzils von Trient zu geschehen hätten. Nun war die Berufung auf das Tridentinum in diesem Punkt aber sehr problematisch, denn das Konzilsdekret hatte keine Regeln für die Erziehung des Priesternachwuchses und den theologischen Unterricht gegeben.“256

Auch ultramontane Bischöfe im 19. Jahrhundert, denen die universitäre, wissenschaftliche Ausbildung der Kleriker zuwider war, „instrumentalisierten […] das Konzil von Trient, um ihr eigenes kirchenpolitisches Süppchen zu kochen. Sie brauchten eine unangreifbare Autorität“257 und beriefen sich deshalb in ihrer Argumentation auf das Tridentinum. Sie interpretierten das Dekret universitätsfeindlich: In dem tridentinischen Verzicht auf den Begriff Universität meinten sie, eine Ablehnung des Universitätsstudiums für Kleriker zu erkennen.258 Sie fürchteten, ein Siegeszug „aufgeklärter“ Theologie könne zu einer Protestantisierung und damit zu einer Auflösung der katholischen Kirche in Deutschland führen. Diese Gefahr sei nur durch die Wiederbelebung des echten Tridentinischen Seminars auf der Grundlage einer scholastisch geprägten Theologie abzuwenden.259 „Die weitere Entwicklung […] der Priesterausbildung im 19. Jahrhundert macht deutlich, wie […] diese restaurative Tendenz zur bestimmenden kirchlichen Haltung wurde. Sie blieb bis in das 20. Jahrhundert gültig“260. Auch das Priesterbild wurde von dieser restaurativen Tendenz beeinflusst. Die Gegner einer Monopolstellung des Tridentinischen Seminars kamen nur schwer gegen diese instrumentelle Verzeichnung der Konziliaraussage an, weil die Protokolle und Akten des Tridentinums lange noch nicht zugänglich waren.261