Bon - Der letzte Highway

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Teil II

1978

8

What’s Next To The Moon

Ich buche eine Rückfahrkarte von New York nach Miami mit dem Atlantic Coast Service der US-amerikanischen Bahngesellschaft Amtrak. Die Distanz beträgt 1550 Meilen – in eine Richtung. Innerhalb weniger Minuten nach unserer Abfahrt aus der Manhattaner Penn Station fährt der Silver Star parallel zum Highway. An mir zieht ein Panorama mitsamt Wassertürmen, Versandcontainern, Trucks, Bussen, Überführungen aus Beton, Stromleitungen, Sümpfen, wucherndem Gras, Schrottplätzen, Altmetall, Kohlehalden und Plakatwänden vorüber. In Harrison, New Jersey, wachsen neue Wohnkomplexe aus dem Boden. Ab Trenton, der Hauptstadt des Bundesstaates, erhält die Landschaft einen zunehmend suburbanen Anstrich: Amerikanische Flaggen hängen an Fahnenmasten vor mit Schindeln verkleideten Häusern, die in sauberen kleinen Straßen stehen und vor denen auf dem Rasen Plastiktische und -stühle sowie mobile Planschbecken aufgebaut sind. In Virginia sehe ich vermehrt Traktoren dahintuckern. Bei Anbruch der Nacht, nach einem halben Tag Zugreise, bin ich erst in North Carolina mit seinen Wäldern, Hainen und offenen Feldern, auf denen vereinzelt Schuppen und landwirtschaftliche Geräte auszumachen sind. In ebendieses von Industrie und Landwirtschaft geprägte Amerika entsandte Atlantic Records AC/DC im Jahr 1978. Die großen Städte mussten erst noch erobert werden.16 Diese Zeit, diese Ära – sie wird nie wiederkommen. Sie ist Geschichte. Dasselbe lässt sich von dieser außergewöhnlichen Musik sagen. Bald wird dies auch auf die letzten Leute zutreffen, die diesen bemerkenswerten Mann Bon Scott persönlich kannten. Es ist ein beinahe unmögliches Unterfangen, Bons Zeit in Nordamerika wiederauferstehen zu lassen. Warum sind so viele Leute – einschließlich mir selbst – dazu entschlossen, diesem Mann Bücher, Filme, Bühnenstücke, Dokumentarfilme, Instagram-Postings und Facebook-Seiten zu widmen? Warum gibt es über den ganzen Globus verstreut zahllose AC/DC-Coverbands, die in Bars in Yokohama oder auf Fantreffen in Deutschland auftreten und sich immer wieder dafür entscheiden, seinen Songs den Vorzug gegenüber jenen aus der Zeit nach seinem Tod zu geben? Die liebevolle Hingabe an diesen Mann lässt sich schon an den Namen dieser Gruppen ablesen, die sich etwa Let There Be Bon, Bon But Not Forgotten, Whole Lotta Bon, Bon Scott Experience oder auch Bon Scotch nennen. Es gibt buchstäbliche Hunderte von ihnen. Es geht nicht nur um die Musik, da muss mehr dahinterstecken. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, dass ich – so wie viele dieser Leute auch – an einem bestimmten Punkt begriff, dass mein Leben, so sehr ich mich auch bemühen mochte, nie wie Bons sein würde. Er erlebte mehr in einer Dekade, nämlich den Siebzigern, als viele Menschen in ihrem gesamten Leben. Indem wir ihn als seine Fans verehren, erhoffen wir uns womöglich, dass das, was ihn ausmachte, auf uns abfärbt und auch unsere ansonsten so profanen Existenzen bereichert.

Ich hatte keine Lust mehr auf weitere wiedergekäute, dramatisch aufgebauschte Erzählungen über Bon. Während ich dieses Buch schrieb, wollte ich die Menschen treffen, die eine andere Seite dieses Mannes kannten und nicht davor zurückscheuten, den Mitgliedern von AC/DC oder Bons Familie auf den Schlips zu treten, oder irgendetwas zu verbergen hatten oder jemandes Ruf schützen mussten. Von ihnen gibt es nur wenige und sie sind schwer zu fassen. Um an sie heranzukommen, musste ich in eine Stadt am Rande der Karibik reisen, weit entfernt von Sydney, Melbourne, Perth, Los Angeles, New York und London. Es war ein Ort, der Bon höchstwahrscheinlich einen Einblick in eine Zukunft bescherte, die er sich immer gewünscht hatte mitsamt einer attraktiven Frau, mit der er glücklich werden könnte, in einem Land, das ihm neue Chancen eröffnete. Es gibt nur eine Handvoll Menschen, die ihn kannten und sich noch nicht öffentlich zu ihm geäußert haben. Sie ausfindig zu machen, stellt eine Herausforderung dar; diejenigen zu finden, die auch sprechen wollen, eine andere.

Ich verstehe nun, dass das, was wir aus Bons Geschichte im Speziellen und der Bandgeschichte im Allgemeinen für uns ableiten, letztendlich von persönlicher Natur ist: die Musik, die Legende, der Mythos oder eben alles zusammen. Es ist gar nicht wirklich wichtig. Die Mehrheit der Fans zieht es vermutlich vor, sich an ihn als eine Art Peter Pan zu erinnern, anstatt sich mit dem zutiefst fehlerhaften Menschen, der er in Wirklichkeit war, auseinanderzusetzen.17 Tony Platt, der bei den Aufnahmen zu Highway To Hell und Back In Black als Tontechniker fungierte, ließ mich wissen: „AC/DC-Fans sollten sich mal entscheiden. So läuft das eben mit der Berühmtheit. Deine Fans picken sich die Dinge heraus, die ihnen am meisten zusagen.“

Aber ich bin mir ebenso sicher, dass Bon, also der echte Bon, sich mit denselben Fragen wie wir alle beschäftigen musste. Was erwarte ich mir vom Leben? Mit wem will ich meinen Lebensabend verbringen? Wie lange will ich überhaupt leben? Wann weiß ich, ob ich genug dafür getan habe, wirklich glücklich zu sein? Die schreckliche Wahrheit ist, dass Bon erbärmlich abgekratzt ist und nicht als Hero abtrat. Für einen Mann, der so viele Menschen inspirierte, stellte die Art seines Abgangs eine große Enttäuschung dar.

Mit dem Zug zu reisen, war den Aufwand wert. Alleine die Sterne über South Carolina und der Sonnenaufgang in Georgia machten ihn wieder wett. Ab unserem Halt in Jacksonville, Florida, verändert sich die Landschaft erneut: Wohnwagensiedlungen und Palmen. Mit jeder weiteren Meile wirkt es so, als würde ich mich in der Zeit rückwärts bewegen. Der Himmel wirkt blauer und scheint weiter zu sein.

Orlando. Fort Lauderdale. West Palm Beach. Hollywood. Miami. In ihrem 1987 erschienenen Buch über die Stadt beschrieb Joan Didion Miami als „gar keine wirkliche Stadt, sondern eine Geschichte, eine Tropenromanze, eine Art Wachtraum, in dem jegliche Möglichkeit Platz hat und haben wird“.

Obwohl mein Zug bereits zwei Stunden Verspätung aufweist, wartet am Bahnhof in Miami eine Frau in einem schwarz-grün-weißen Kleid auf mich. Es handelt sich um „American Thighs“.

* * *

Als ich mich von New York aus mit Holly X am Telefon unterhielt und vorschlug, sie in Miami zu treffen, stellte sie eine unausweichliche Bedingung: Anonymität. Dafür gab es zwei zentrale Gründe. Der erste Grund war ihr prestigeträchtiger Job, der zweite ihre Mitgliedschaft bei den Anonymen Alkoholikern.

„Die Welt ist mittlerweile einfach zu eng vernetzt“, erklärt sie. Sie ist Mitte fünfzig und größer, als ich erwartet habe. Sie hat eine kurvige Figur, hohe Wangenknochen, lange weißblonde Haare und geizt nicht mit Mascara. „Ich will nicht, dass demnächst ein paar alte Fotos auftauchen, wenn jemand meinen Namen googelt. Ich will nicht, dass AC/DC-Fans mit mir in Kontakt treten. Anonymität bildet das Fundament, auf dem die AA gegründet wurden und warum die Organisation funktioniert. Berühmte Leute, deren Sauferei und Drogenkonsum von den Medien festgehalten wurden, äußern sich dann, wenn sie clean geworden sind, und schreiben Songs über ihre Gesundung. Sie hatten von Anfang an nie Anonymität. Bei den AA gibt es viele berühmte und nicht so berühmte Leute – und keiner weiß, wer sie sind. Bescheidenheit ist eine zentrale Tugend der AA. Die Leute müssen mich nicht kennen, nur meine Geschichte. Die AA geben mir das Gefühl, dass ich vielen Menschen helfe – und keiner von ihnen kennt meinen Nachnamen. Das fühlt sich für mich als Mitglied der AA richtig an.“

Wir fahren in Hollys Toyota Prius mit seinen „Geboren in Miami“-Nummernschildern durch die Stadt und beschließen, mithilfe ihres iPhones indisches Essen zum Mitnehmen zu ordern. Es ist ein heißer Freitagabend im Mai. Der Verkehr ist übel und bewegt sich zähflüssig Richtung Strand. Das indische Restaurant kann unsere Bestellung leider nicht aufnehmen, da man dort unterbesetzt ist. Also fahren wir persönlich dorthin, um zu bestellen und zu zahlen. Das Restaurant ist voll. Während wir auf unser Essen warten, haben wir Zeit, uns zu unterhalten.

Üblicherweise heißt es, dass Silver Smith für Bon die große Liebe seines Lebens war. AC/DC-Biograf Mick Wall gab etwa gegenüber Classic Rock 2015 folgenden Schwulst zu Protokoll: „Nach Irene [Thornton] packte Bon Scott die Liebe wohl noch am ehesten mit Margaret ‚Silver‘ Smith – einer umherreisenden Hippie-Zauberin, Heroinkonsumentin und Königin der langen Nächte.“ Clinton Walker schrieb in seiner Bon-Biografie: „Er war nie über sie hinweggekommen.“

Ich frage Holly, ob Bon je über Silver sprach.

„Nein“, antwortet sie fast schon barsch. Mir ist klar, dass sie den Namen noch nie zuvor gehört hat. „Er erwähnte überhaupt keine anderen Frauen.“

* * *

Holly X kam 1959 in Miami zur Welt und schloss 1978 die Highschool ab. Sie begann als Fotografin für die Miami News zu arbeiten und sollte schließlich ein besonders bekanntes Foto eines toten Rockstars an den Rolling Stone verkaufen. Zu schreiben, um welches es sich dabei konkret handelt, wäre gleichbedeutend damit, ihre Identität preiszugeben.

„Mein ‚Rock-Leben‘ spielte sich ungefähr zwischen 1976 und 1980 ab. Meine erste Beziehung zu einem Musiker hatte ich mit siebzehn. So wie Bon war auch er nicht sonderlich berühmt, als wir zusammenkamen. Wir haben eine lange gemeinsame Geschichte und unser gegenseitiger Kontakt riss erst vor ein paar Jahren ab, obwohl ich unsere körperliche Beziehung bereits in den Neunzigern beendete. Ich stellte ihm bei einem seiner Konzerte 2009 sogar meine Tochter vor.“

Sie verrät mir seinen Namen und ich bin ziemlich perplex, immerhin handelt es sich bei ihm um eine Legende der Siebzigerjahre-Rockmusik, jemanden, der kaum einmal nicht in den Schlagzeilen zu finden ist. Sie trafen sich 1976 in Lakeland, Florida. Auch Bon und er lernten sich kennen und waren durchaus als Freunde zu bezeichnen. Sie teilten sogar ein paarmal die Bühne miteinander, obwohl sie nicht wussten, dass sie mit Holly eine gemeinsame Freundin hatten.

 

Als sie 1977 nach New York umzog, schrieb sich Holly an der New School’s Parson School of Design ein und verdiente sich ihr Taschengeld als Model und Promogirl. Im Rahmen dieser Tätigkeit traf sie auch auf Bon. Allerdings umfassten ihre Promo-Aufträge nicht nur AC/DC, sondern auch die J. Geils Band und Foreigner.

„Zunächst einmal waren Bon und ich vor allem großartige Freunde. Ich ging zu dieser Zeit auch mit anderen Rockern aus, obwohl Bon und die andere Person, die ich erwähnt habe, diejenigen waren, für die ich am meisten empfand. Es war eine wunderbare, auf berauschende Weise aufregende und verrückte Zeit. Ich bereue nichts. All der Alkohol und die ganzen Drogen, die ich damals genommen habe, sowie der Kampf gegen die Sucht, die ich mit Bon teilte, haben mich zu der Frau gemacht, die ich heute bin. Mein ganzes Leben dreht sich im Grunde darum, jenen zu helfen, die von dieser schrecklichen, oft tödlichen Krankheit betroffen sind. Ich ließ Alk und Drogen mit sechsundzwanzig hinter mir und abgesehen von ein paar kurzfristigen Rückfällen lebe ich seit vielen Jahren clean und trocken.“

Wir teilen uns einen Teller Karipap. Das Essen lässt länger auf sich warten, als es sollte.

„Anfangs wollte ich ja nicht darüber sprechen, weil so viel Traurigkeit damit verbunden ist. Ich habe nicht viel von dem gelesen, was über Bon geschrieben wurde. Aber das, was ich las, befasste sich ausschließlich mit seiner Sucht. Es waren Geschichten darüber, wie er sich zudröhnte und volllaufen ließ. Das war sicher ein Teil von ihm, aber er war auch ein richtig netter Typ. Ich machte mir eine Menge aus ihm. Er war so lustig – und auch ein sehr sanfter Mensch, eine zarte Seele. Und auch sehr, sehr sensibel.“

Laut Holly waren sie von „1978 an bis Bon starb“ zusammen, beginnend mit AC/DCs zweiwöchigem Aufenthalt in Miami vor ihrer über 60 Konzerte umfassenden Sommer-Tour, mit der Powerage promotet wurde.

„Wir empfanden wirklich viel füreinander, aber niemand sagte etwas in der Art wie ‚Ach, von nun an werde ich nur mit dir zusammen sein‘. Ein solches Gespräch führten wir nie, aber es ging langsam in diese Richtung.“

Holly, Ärztin und Akademikerin, hat unter ihrem früheren Ehenamen ein Buch veröffentlicht. Sie verbrachte die zweite Hälfte ihres bisherigen Lebens damit, Studenten über Suchterkrankungen aufzuklären. Sie hat es echt drauf und unterscheidet sich markant von all den beschäftigungslosen, nach Aufmerksamkeit gierenden Ex-Geliebten diverser Rockstars, die jene Ereignisse, die so viele Jahrzehnte zurückliegen, noch einmal aufleben lassen – und zweifellos davon profitieren wollen. Sie glaubt außerdem an „ihre Version“ eines Gottes.

„Ich bin Christin und berufstätig. Ich hätte nichts davon, dir gegenüber irgendetwas aufzubauschen. Ich bin eine Suchtkranke auf dem Weg der Besserung und unterrichte inzwischen über das Thema Sucht. Mein Leben ist ruhig und glücklich. Es geht mir ganz sicher nicht darum, ins Rampenlicht zu drängen. Ich habe lange genug intensiv darüber nachgedacht, ob ich diesem Interview zustimmen soll, und habe nur zugesagt, um die Leute wissen zu lassen, wie wunderbar Bon war. Ich habe das Gefühl, ihm das zu schulden, da er während dieser kurzen Zeitspanne so viel Freude in mein Leben gebracht hat. Er war echt ein toller Mensch. Ich möchte einfach kundtun, was für ein liebenswerter Mann er tatsächlich war. Wir waren in erster Linie Freunde, obwohl wir auch Geliebte waren. Ich fühlte mich anfangs nicht zu ihm hingezogen. Bon wirkte wie eine Art Wichtel, ein bizarrer kleiner Wichtel-Typ. Er war ja so winzig. Ich war eine große Blondine und er so ein richtiges Herzchen. Er war einer der liebsten Männer, die ich jemals gekannt habe, und sehr liebevoll. Ich erinnere mich an nichts Schlechtes, was ihn betrifft.“

Wie veränderte er sich, wenn er trank?

„Bon war sehr zugänglich, wenn er nüchtern war. Sehr liebevoll und gefühlsstark. Er ließ mich wissen, wie viel ich ihm bedeutete. Wenn er trank, ließ er irgendwie die Rollläden herunter und wurde sehr düster – nicht etwa gewalttätig oder so, sondern traurig. Er verwandelte sich in einen anderen Menschen, eine sehr unglückliche Person. Wir nahmen auch Quaaludes und solchen Kram. Wenn er trank, nahm er so ziemlich alles, was ihm in die Quere kam, und dann wurde er zu einem anderen Menschen – wie alle von uns, die wir unter einer Suchterkrankung leiden. Das war aber nicht er, verstehst du, aber so wird eben hauptsächlich über ihn berichtet: Dass er eben so ein Party-Typ war. Das war er zwar auch, aber er war nicht seine Sucht. Hinter seiner Sucht verbarg sich ein richtig guter Mensch, der vielleicht viel zu sensibel war.“

* * *

Das Bild, das Holly von Bons Beziehung zu AC/DC skizziert, vor allem zu Malcolm, unterscheidet sich stark von dem, was die Leute wohl erwarten.

„Bons Beziehung zu Malcolm war nicht … na ja, sie hingen nicht miteinander ab, sie waren keine …“ Sie holt einen Moment aus, um sich zurechtzulegen, was sie sagen will. „Soweit ich weiß, ging da irgendetwas vor. Ich glaube nicht, dass Malcolm wirklich etwas für Bon übrighatte, was meiner Meinung nach an Bons Sucht lag. Diesen Eindruck vermittelte mir jedenfalls Bon. Und ich kann nicht sagen, dass das nur an Bons subjektiver Wahrnehmung gelegen hätte, weil er eben trank, denn wenn ich zusammen mit Bon auf Malcolm traf, lächelte dieser nie und war auch nicht wirklich freundlich. Daran erinnere ich mich genau. Andererseits machten Bon und ich auch oft einen drauf. Bon war dieser große Hundewelpe. Echt total süß. Malcolm war hingegen mehr so der verkniffene Typ. Ich mochte ihn nicht wirklich, wenn ich ganz ehrlich sein soll. Zwischen ihnen herrschte eine große Spannung. Ich machte mir darüber nicht allzu viele Gedanken und nahm an, dass das an Bons Alkohol- und Drogenkonsum lag. Bon war diese zarte Seele und ein verirrter Junge. Er war sehr unprofessionell, was an seiner Sucht lag, aufgrund derer man sich nicht wirklich auf ihn verlassen konnte.“

Aber Holly fügt auch hinzu, dass Malcolm nur tat, was er für richtig für die Band hielt.

„Mit jemandem umzugehen, der an einer Suchterkrankung leidet, ist das Schwerste auf der ganzen Welt. Ich weiß darüber Bescheid. Aber tief drinnen in sich spürte, sah und wusste Bon das auch. Kurz vor Bons Tod traf ich Malcolm. Er war praktisch am Ende seiner Geduld angelangt. Ich weiß auch nicht, warum nichts für Bon unternommen wurde und keine Entziehungskur für ihn zustande kam. Es lag einfach an der Zeit. Es muss extrem hart für Malcolm gewesen sein, seinem überaus begabten Sänger dabei zuzusehen, wie er sich selbst so zugrunde richtete. Seine regelmäßigen Totalabstürze wirkten sich selbstverständlich auch auf den allgemeinen Zustand und das Wohlbefinden der Band aus. Da wäre wohl jeder irgendwann frustriert gewesen. 1980, als er starb, war ich gerade mal zwanzig. Das war ein anderes Leben – und ich habe seit damals viele Leben gelebt, so wie wir alle das seit unseren Jugendjahren getan haben. Auch wenn er nicht sagte, dass er mit dem Trinken und den Drogen aufhören wollte, sprach er doch darüber, wie sein Verhalten sich auf seine Beziehung zu Malcolm und dem Rest der Band auswirkte. Es ging dabei vor allem um Malcolm, der echt etwas dagegen hatte. Er wurde echt sauer auf Malcolm, wenn er trank, aber wenn er nüchtern war, war der Grundtenor eher von Traurigkeit geprägt. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass er aufhören wollte, aber seine Dämonen hatten ihn da schon voll in ihrer Gewalt. Er konnte nicht mehr aufhören. Manchmal hielt er es, wenn wir miteinander abhingen, eine Zeit lang aus, ohne viel abzufeiern, aber das funktionierte immer nur sehr kurz, weil er bereits so tief in seiner Sucht steckte. Auch wenn aufgrund von Bons unkontrollierbarem Missbrauch von Suchtmitteln und seiner Sorge, die Band im Stich zu lassen, zwischen ihm und Malcolm Spannungen in der Luft lagen, so war es doch durchaus verständlich, dass Malcolm von Bon frustriert war.“

Unser indisches Essen wird uns serviert und wir begeben uns zurück zum Prius.

* * *

Nachdem ich mich in ihrem Gästezimmer ausgebreitet und geduscht habe, ruft Holly mich zum Essen und präsentiert mir ihre alte Fotografentasche. Sie ist mit Backstage-Pässen und Aufklebern übersät. Von Led Zeppelins Nordamerikatournee 1977 etwa. Da ein alter Sticker von CEDRIC KUSHNER PRESENTS, NEW YORK, dort ein Pass von der ersten Welttournee von The Knack oder ein Aufkleber der Criteria Studios. Auf einem Backstage-Ausweis für die „The Return of Kiss“-Tour von 1979 hat sich Kiss’ verstorbener Manager Bill Aucoin mit Autogramm verewigt. Swan Song Inc. Eric Clapton. Eine Veranstaltung der Gulf Artists Productions mit Black Sabbath und Van Halen im Hollywood Sportatorium. ZZ Tops World Wide Texas Tour mit Nils Lofgren im Beacon Theatre. QUEEN US WINTER TOUR 1977 – GUEST PASS, NO ON-STAGE ACCESS. Jeff Beck und Tommy Bolin am 3. Dezember 1976 in Miami (Bolins allerletztes Konzert). SUNSHINE JAM ’76: A BENEFIT FOR JIMMY CARTER IN JACKSONVILLE AT THE GATOR BOWL FEATURING CHARLIE DANIELS BAND, LYNYRD SKYNYRD, MARSHALL TUCKER BAND, OUTLAWS, .38 SPECIAL, RICHARD BETTS, CHUCK LEAVELL, JERRY JEFF WALKER & FIREWORKS! Kiss mit Uriah Heep in Lakeland, 1976. Leon and Mary Russell. Santana. Outlaws. Rod Stewart. Aerosmith. The Who. Journey. Starz. Foghat. Ein Who’s who klassischer Rock-Legenden aus den Siebzigerjahren. Und auf einem zerknitterten blauen Gewebe: RON DELSENER PRESENTS AT THE PALLADIUM, DICTATORS, M S BAND, AC-DC.

Denselben kreisrunden Aufnäher aus Stoff sieht man auch auf Hollys Jeans auf einem Schnappschuss des Fotografen Chuck Pulin, der sie mit Bon zeigt. Sie zeigt mir auch eine Postkarte, die Bon ihr von der Tour geschickt hat. Darauf sind Marihuanapflanzen zu sehen. Inhaltlich beschränkt er sich auf „Bon“, ein „X“ sowie ein paar Schnörkel als Verzierung. Bis heute weiß Sie nicht, was er mit dieser Karte aussagen wollte. Sie kiffte nämlich nicht – im Gegensatz zu ihm.

Roy Allen erzählt mir, er hätte eine ähnliche Karte erhalten, die ihr Absender ebenfalls schlicht mit „Bon“ beschriftet hatte.

„Ich erinnere mich, dass Bon mir einmal eine Postkarte schickte. Ich weiß eigentlich immer noch nicht weshalb, aber so war er eben. Voller kleiner Überraschungen. So wie damals, als er mich mit ‚Hey‘ im Radio grüßte.“ Der betreffende Sender hieß KLBJ Austin. „Die Karte zeigte als Motiv Snoopy und Woodstock. Sie sagten etwas auf Französisch zueinander. Er unterzeichnete nur mit ‚Bon‘. Da stand nicht ‚Hoffe, es geht Dir gut‘ oder so ein Schnickschnack. Ich habe nie herausgefunden, was der französische Text bedeutete. Ich erinnere mich noch, dass mein Dad sagte, ich sollte die Karte vom Boden meines Pick-ups aufheben, weil ich sie sonst noch verlieren würde. Das tat ich aber nicht und ich bin mir sicher, dass sie auf dem Parkplatz irgendeiner Bierkneipe aus dem Wagen fiel. Nachdem sie verschwunden war, erklärte ich ihm noch, dass das keine große Sache wäre und ich mir sicher wäre, dass ich ihn schon bald wiedersehen würde.“

„Er freundete sich überall mit vielen Leuten an und blieb auch in Kontakt mit ihnen“, erzählte Angus Young. „Ein paar Wochen vor Weihnachten schrieb er stapelweise Postkarten an jeden, den er kannte, um sie auf dem Laufenden zu halten. Sogar seinen Feinden, glaube ich [lacht]. Er war schon eine echte Type.“

* * *

An diesem Abend unternehmen wir nach dem Abendessen mit drei ihrer fünf Hunde einen Spaziergang durch die Straßen ihrer grünen Ecke des tropischen Miami. Es ist ein ruhiges Viertel. Ihre Rock-’n’-Roll-Zeiten liegen längst hinter ihr.

Holly ist nicht die einzige, die davon ausgeht, dass Bon Material zu einer Reihe von Songs auf Back In Black beigetragen hat – sogar zu „etlichen“, wie sie es formuliert. Allerdings zählt ihre Meinung angesichts ihrer Verbindung zu Bon zu den bedeutendsten. Besonders erzürnte sie, dass „Have A Drink On Me“ als „Hommage“ an ihn auf dem Album erschien. Sie war sogar so wütend darüber, dass sie während der Tour anlässlich von Back In Black persönlich auf Malcolm losging. „Ich war ziemlich betrunken und sauer. Es ging steil bergab mit mir und meiner Sucht und ich ging auf eines ihrer Konzerte … Ich erinnere mich nur noch daran, wie ich mir dachte, warum ich überhaupt hier wäre und dass das doch verrückt war. Ich hege nicht den geringsten Zweifel daran, dass die unermessliche Trauer, die ich damals spürte – er war ja noch nicht lange tot –, dazu beitrug, dass ich das Gefühl hatte, Malcolm entgegentreten zu müssen. Der Hauptgrund war, dass ich unter dem Eindruck stand, sie würden sich über ihn lustig machen, vor allem, weil sie ‚Have A Drink On Me‘ auf diesem Album veröffentlichten. Ich empfand es als notwendig, etwas in Bons Namen dazu zu sagen. Ich hatte mit jemandem, den ich über Bon kennengelernt hatte, Kontakt aufgenommen und mich hinter die Bühne begeben, um Malcolm ganz konkret danach zu fragen, warum er Bon für ‚You Shook Me All Night Long‘ und andere Songs keinen Songwriter-Credit gegeben hätte. Außerdem wollte ich meinem Ärger darüber Luft machen, dass sie dem Album ‚Have A Drink On Me‘ hinzugefügt hatten. Immerhin war Bons Tod eine direkte Konsequenz aus seinem übermäßigen Alkoholkonsum. Das war so ungeheuerlich und geschmacklos. Ganz zu schweigen davon, dass es schrecklich respektlos gegenüber Bons Andenken war. Er war ja gerade erst gestorben. Ich hatte mich immer beschützend vor Bon gestellt, weil ich wusste, wie schlecht er sich wirklich wegen seiner Trinkerei fühlte und einfach nicht aufhören konnte – zumindest nicht für lange. Ich glaube, dass ich Malcolm damals für den ‚Bösewicht‘ hielt, obwohl ich mittlerweile seinen Frust völlig verstehe. Ich machte mich gleich, nachdem ich mit ihm gesprochen hatte, aus dem Staub. Ich war wütend, traurig und peinlich berührt.“

 

Ich frage Holly, was Malcolm ihr antwortete, aber sie kann sich nicht mehr an seine genauen Worte erinnern, wofür sie ihren damaligen Rausch und die 40 Jahre, die inzwischen vergangen sind, verantwortlich macht.

„Was auch immer passiert ist, es verlief nicht allzu gut.“

Es ist dennoch ein ziemlich belastender Einblick, den Holly da gibt. Vor allem, wenn man sich daran erinnert, wie Angus einst in einem Interview gefragt wurde: „War Bon Scotts Tod eine Überraschung für euch, oder wart ihr euch seiner Trinkerei durchaus bewusst?“

„Das war immer ein bisschen ein Rätsel, vor allem bei jemandem wie Bon“, antwortete er. „Ich kann dir nur sagen, was ich von ihm wusste. Wir als Band sahen eine ganze Menge und wie er so drauf war. Ich erinnere mich an ihn als echten Profi und gewissenhaften Typen im Studio. Er sah es als seine Kunst an. Wenn wir ein paar Tage frei hatten, ging er vielleicht aus und schlug ein wenig über die Stränge. Er verfügte über eine tolle Grundverfassung, stieg immer als Erster aus den Federn und sah fit und gesund aus. Er genoss das Leben in vollen Zügen.“

In einem anderen Interview versank Angus noch tiefer in seiner Realitätsverweigerung: „Bon war kein Säufer.“ Sogar Bons eigene Mutter räumte ein: „Wir waren uns bewusst, dass er ein Alkoholproblem hatte, was mir große Sorgen bereitete.“

Ein bisschen ein Rätsel. Bon war kein Säufer. Das sind bemerkenswert ignorante, fast schon unglaubliche Aussagen über jemanden, der langsam an seiner Trunksucht krepierte.

„Bon war ein schwerer Trinker – sobald er erst einmal loslegte“, erzählt Holly. „Bon konnte das Trinken vereinzelt für kurze Phasen einstellen, aber er konnte es nicht dabei belassen. Vor allem verschlimmerte sich seine Krankheit im Laufe der Jahre.“

Um ihn scharten sich Fans, Groupies, Schleimer und Ja-Sager, aber Holly betont, dass der winzige, aber nichtsdestotrotz einschüchternde Malcolm ihn zutiefst verunsicherte.

„Ich glaube, Malcolm veranlasste Bon, sich wirklich mit sich selbst zu befassen, was ja keine schlechte Sache ist. Allerdings löste das starke Schuldgefühle bei ihm aus und er konnte sich gar nicht mehr davon befreien.“

All das wirkt angesichts der Tatsache, dass Malcolm 1988 eine Auszeit von der Band nahm, um sich um seinen eigenen Alkoholismus zu kümmern, durchaus ironisch. Der Unterschied bestand jedoch darin, dass es sich um seine Band handelte. Er konnte es sich daher auch leisten. Bon hingegen nicht.

„Ich habe gelesen, dass die Band sich nach Bons Tod mit dem Gedanken trug, das Handtuch zu werfen, was ich mir nicht vorstellen kann. Ich kann mich an keinerlei freundliche Zuneigung zwischen Bon und Malcolm erinnern. Egal, was auch gekommen wäre, AC/DC hätten weitergemacht. Sie hätten sich nicht wegen Bons Tod aufgelöst; denn ich glaube nicht, dass er ihnen so viel bedeutete. Das dachte ich mir zumindest. Ich habe ein paar der Songs auf Back In Black hinterfragt, weil ich absolut der Meinung bin, dass Bon sie geschrieben hat. Etwa ‚You Shook Me All Night Long‘. Allerdings bekam er dafür keinen Credit als Songwriter.“

* * *

Als wir von unserem Spaziergang zu ihr nach Hause zurückkehren, erkläre ich ihr, dass auch ich einen starken Verdacht bezüglich „You Shook Me All Night Long“ hege. Doug Thaler, AC/DCs amerikanischer Booking-Agent, der zusammen mit Doc McGhee Bon Jovi und Mötley Crüe managen sollte, hat mir für mein erstes Buch über die Band verraten: „Mir ist es egal, wenn mir jemand etwas anderes erzählt: Du kannst dein Leben darauf verwetten, dass Bon Scott den Text zu ‚You Shook Me All Night Long‘ schrieb. Überall finden sich Bons Texte.“

Sie antwortet ohne zu zögern: „Ich hätte das Thema gegenüber Malcolm nach Bons Tod nie angeschnitten, wenn ich mir nicht sicher gewesen wäre, dass Bon diese Lyrics geschrieben hatte. Wie immer ist es durchaus möglich, dass er sie in Kooperation mit den Youngs verfasste, aber es waren dennoch seine Ideen. Über den Song habe ich noch eine Sache zu sagen: Es sollte eigentlich ‚chartreuse eyes‘ und nicht ‚sightless eyes‘ heißen.“

Schließlich ging es dabei um ihre Augen. Wenn man darüber nachdenkt, ergibt die Zeile gar keinen Sinn. Griff die Band hier etwa ein, weil keiner von ihnen wusste, was „chartreuse“ – steht im Englischen für hellgrün – eigentlich bedeutete? Unter dem Küchenlicht fragt mich Holly, ob ihre Augen nicht hellgrün wären. Das sind sie. Nicht vielen Leuten ist das Wort „chartreuse“ geläufig. Es erscheint plausibel, dass die Youngs und Brian Johnson an Bons ursprünglichen Formulierungen herumdokterten – nicht nur bei „You Shook Me All Night Long“, sondern auch bei anderen Songs auf dem Album –, um allzu gewiefte Textstellen, die den Fans eventuell zu hoch gewesen wären, zu entfernen oder zu modifizieren. Allerdings beharrten sie stets darauf, die alleinigen Urheber dieses und der anderen Tracks auf Back In Black zu sein. Laut ihnen trug Bon abgesehen von ein paar Schlagzeug-Jams rund um kaum ausformulierte Ideen, aus denen später „Have A Drink On Me“ und „Let Me Put My Love Into You“ entstehen sollten, nichts zu den Songs auf dem Album bei.

„Ich erinnere mich glasklar daran, wie Bon und ich hinter dem Newport Hotel in Miami in der Sonne saßen und er sich zu mir drehte. Die Sonne schien mir ins Gesicht und er verkündete plötzlich: ‚Deine Augen sind hellgrün – chartreuse!‘ Ich erinnere mich noch so lebhaft daran, weil ich keine Ahnung hatte, was das für eine Farbe war, und sofort annahm, dass das irgendetwas Schlechtes wäre – wie knallrosa oder sonst eine scheußliche Farbe. Er beschrieb meine Augenfarbe immer wieder mit diesem einen Wort. Ich trug etwa ein lindgrünes Shirt und er meinte, meine Augen würden gut dazu passen. Es ist schon witzig, dass ich mich so gut daran erinnern kann. Als ich heranwuchs, sagte meine Mutter, dass meine Augen olivgrün wären, also wer weiß? Für mich sind sie einfach grün.“

Aber nicht für einen Poeten wie Bon.

Silver Smith war sich nicht nur sicher, dass der Song von Bon stammte, sondern verblüffenderweise auch, dass er ihn noch vor seiner Ankunft in Nordamerika geschrieben hätte.