Den Kopf hinhalten

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Kurz, er verbrachte die Fahrtzeit wie in Trance. Blendete alles aus, lästige Gespräche, unbeholfene Anbandelungsversuche unter Teenagern, das öde Geschnatter aufgeregter Hausfrauen, die zum Shopping nach London unterwegs waren, fußballverrückte Männer, die fachsimpelten und andere von den Vorzügen gerade ihres Clubs überzeugen wollten, Fahrkartenkontrollen, fliegende Händler, das ewige Geschiebe von Koffern und Taschen, das inquisitorische Auftreten der Schaffner, von Sitznachbarn angebotene Bonbons, den strengen Geruch eines ausgewickelten, mit Innereien belegten Sandwiches, das Geräusch, wenn sich jemand aus einer mitgebrachten Thermoskanne Tee eingoss, die Ausdünstungen eines Arbeiters, der nach der Frühschicht in der Fabrik noch nicht dazu gekommen war, sich zu reinigen, all das also, was nichts mit seiner Aufgabe zu tun hatte.

Rupert schlug die Zeit tot, nutzte die langen Stunden und das monotone Geratter, um bei der Ankunft noch wachsamer, noch konzentrierter sein zu können.

Tagträume waren sehr hilfreich. Um Fremde abzuwimmeln, die ihn im Abteil erkannten, auch wenn er den Hut weit ins Gesicht gezogen hatte. Und ihn bedrängten und bestürmten. Mit Fragen, Glückwünschen und Kommentaren.

„Sie sind’s doch, Beaufort, stimmt’s?“, war die Standardformel.

„Großartig, wie Sie Ihren Job machen!“, bekam er ein ums andere Mal gesagt. Gefolgt von einem solidarischen „Weiter so, alter Freund. England ist stolz auf Leute wie Sie.“

Rupert verfuhr wie im Pub: Er bedankte sich artig, winkte bescheiden ab und lächelte, behalf sich mit ein paar nichtssagenden Floskeln, schlug wie ein junges Mädchen, dem man zum ersten Mal etwas Nettes sagt, verschämt die Augen nieder und gab deutlich zu erkennen, dass er nicht an Austausch oder Konversation interessiert war. Meistens gelang ihm das. Wenn nicht, verzog er sich in den Speisewagen, begab sich zum Rauchen in den zugigen Zwischenraum zwischen den Waggons oder versteckte sich hinter seiner Zeitung, gähnte vernehmlich oder täuschte ein Nickerchen vor. Dabei war er hellwach.

Tagträume waren kein Allheilmittel gegen Belästigungen. Es war schon vorgekommen, dass, obschon er so unbeteiligt wie möglich zur Seite geblickt und betont gelangweilt getan hatte, ihn jemand in eine langwierige Unterhaltung verstrickt hatte, aus der er nicht entkommen konnte. Irgendein Unbedarfter und Wissensdurstiger, der ihn bis zur Ankunft nicht aus seinen Klauen ließ, dem immer noch weitere Fragen zu den Delinquenten einfielen, zu den Gräueltaten, die zu ihrer Verurteilung geführt hatten, zum Ablauf der Hinrichtung natürlich, zu Ruperts persönlichen Gefühlen und Eindrücken beim Hängen – intime Einzelheiten, über die er nie reden mochte, Gott bewahre, schon gar nicht mit einem Fremden. Außerdem hatte er vor Jahrzehnten eine bindende Erklärung unterschreiben müssen, die ihn zu radikalem Stillschweigen verpflichtete. Auf Lebenszeit. Ein solches Gelöbnis war ihm heilig. Innerlich, während er eine heitere Miene aufsetzte, verfluchte er dann diesen so bemühten, enthusiastischen Menschen vor ihm, der ihm Löcher in den Bauch fragte, weil er endlich einmal die Chance sah, über die Unterredung mit ihm direkt mit dem vermeintlich Bösen in Verbindung zu treten.

Rupert hütete sich, solche Leute zu verprellen oder abweisend zu wirken. Der Galgenmann ertrug solche Zumutungen mit Galgenhumor. Das gehörte wohl zu seiner Stellung und zu seinem Amt dazu, dieses unablässige, eintönige Interesse. Das musste man aushalten. Er wollte niemanden vor den Kopf stoßen. Und auch nicht verärgern.

Dass seine Fragensteller aber mit Enttäuschung reagierten, wenn sie bei ihm auf Granit stießen, das wiederum konnte er nicht verhindern. Dessen ungeachtet war ihm wichtig, dass sie ihn in guter Erinnerung behielten. Als zwar zugeknöpften, doch umgänglichen Zeitgenossen. Für maulfaul oder verschüchtert sollten sie ihn seinetwegen halten, aber nicht für unhöflich, ruppig oder gar feindselig. „Doch nicht so spannend, wie wir dachten. Doch kein so aufregendes Gewerbe. Und nicht gerade redegewandt, der Bursche …“: Wenn sie so von ihm dachten, wenn dies ihr Image von Rupert Beaufort war, dann ging das in Ordnung.

Heute war alles gut gegangen, man hatte ihn im Zug und auch auf dem Bahnhofsgelände in Frieden gelassen. Die Reisezeit war wie im Nu vergangen. Rupert schritt, vom Gefühl beseelt, dass auch sonst alles wie am Schnürchen laufen würde, mit großer Eile aus dem Bahnhofsgebäude heraus und winkte ein Taxi herbei. Der einzige Luxus, den er sich im Rahmen seiner Aufträge leistete. Um nicht auch noch durch dicht gedrängte Großstadtstraßen hetzen zu müssen, um der unangenehmen Nähe von Menschenmassen zu entgehen. Um Clochards und Rowdys konnte er auf diese Weise einen großen Bogen machen und zugleich Ansammlungen aggressiver Spinner vermeiden, unter denen, wer weiß, womöglich auch noch Streitsüchtige waren, die für die Abschaffung der Höchststrafe demonstrierten und ihm den Weg in die Strafanstalt versperren mochten.

Er warf sich auf den Rücksitz und schnippte, unternehmungslustig und auch ungeduldig, mit den Fingern. Der Fahrer, ein mürrischer Alter, der kaum die Zähne auseinanderbekam, gab nicht zu erkennen, ob er begriffen hatte, wen er da durch London kutschierte.

„Wandsworth Prison – und sparen Sie die großen Boulevards aus“, kommandierte Rupert ihn herum und zündete sich eine Zigarre an.

Das Zigarrerauchen gehörte für ihn wie schon für seinen Onkel Theodore, den alle Welt nur Uncle Theo genannt hatte, einfach zu den Ritualen dazu, mit denen man sich das Hinrichtungswochenende etwas angenehmer gestalten konnte. Drei pro Auftrag, mehr nicht.

Uncle Theo, der nun schon zwei Jahre tot war, hatte ihm auch das beigebracht.

Rupert kurbelte das Fenster herunter und spähte in den bleiernen Londoner Himmel. Es hatte sich bezogen und war, den gemäßigten Temperaturen zum Trotz, schwül geworden. Mit der kaum gelesenen Zeitung fächelte er sich Luft zu. Tauben flatterten vorbei. Als sie die Themse überquerten, ließ der Verkehr merklich nach. Auf den Trottoirs südlich des Flusses wimmelte es dagegen nur so vor Tagedieben, ausgehwütigem Volk und einkaufenden Hausfrauen. Vor den Pubs bildeten sich die ersten kleinen Schlangen, durchweg Männer, viele von ihnen noch in Arbeiterkluft. Die Freiflächen vor den Kinos waren gerammelt voll. Junge Frauen in Petticoats, die sich schick gemacht und die Haare toupiert hatten, standen sich dort die Beine in den Bauch.

Das Taxi bog in eine Seitenstraße ein, musste einmal scharf an der Kreuzung bremsen, um einer älteren Dame den Vortritt zu lassen, ließ einen belebten Park, Clapham Common, und ein verwaistes Cricketfeld rechts liegen und verlangsamte schließlich seine Fahrt.

Rupert vergewisserte sich, bevor er das Auto verließ – denn nur drinnen war er in Sicherheit: Noch waren weit und breit keine Demonstranten oder Fanatiker zu sehen, keine Transparente, noch waren keine Trillerpfeifen oder wütenden Gesänge zu vernehmen.

Menschenleer lag der abweisende Platz vor Portal und Haupt­eingang vor ihm, dahinter die große steinerne Festung mitsamt Barrikaden, wehenden Fahnen, Wappen, winzigen vergitterten Fenstern. Gewitterwolken brauten sich über der Fassade zusammen. „Welcome, Rupert“, sagte er zu sich selbst, und dann brach er in Schweiß aus.

Vor dem Gefängnistor beim Aussteigen würdigte ihn der Chauffeur keines Blickes, hielt ihm am ausgestreckten Arm missmutig die Aktentasche hin. Bildete er es sich nur ein, dass er von ihm angeknurrt wurde?

Er hörte etwas genauer hin. Ja, kein Zweifel: Hier wollte einer Stunk machen. Hatte der Mann etwas gegen ihn? Grollte er oder zählte er zu seinen erklärten Feinden? Welche Laus war ihm nur über die Leber gelaufen?

„Thank you, Sir“, brachte der Alte dann mühsam hervor, verbeugte sich unmerklich und unterdrückte seinen Unmut, als Rupert ihm die Münzen einzeln in die Hand zählte. Presste die Lippen zusammen, so als würde jemand versuchen, ihm Gift einzuflößen. Viel hätte nicht gefehlt, und er hätte ausgespuckt oder das Geld auf die Straße geworfen.

Rupert entschied, das ungebührliche Betragen des Mannes nicht auch noch mit einem Trinkgeld zu belohnen.

Er hielt inne und nahm die Haftanstalt in den Blick. Merkte, wie vertraut ihm gleich wieder alles war. Der Stacheldraht, die Scheinwerfer, die auf und ab patrouillierenden Wachen, die Schäferhunde mit Maulkorb. Die Abwesenheit von Passanten und spielenden Kindern. Die tödliche, gespenstische Stille. Sein Zuhause, sein Revier.

Er drückte den Rücken durch und schien über sich hinauszuwachsen. Der gute alte Henderson stand schon bereit, tippte zum Gruß an die Mütze, lächelte knapp.

Alles war wie immer.

Seite an Seite mit Henderson durchschritt Rupert die ellenlangen Flure, nahm zuvor kurz vom Büropersonal Notiz, das sich zu seiner Begrüßung im Eingangsbereich versammelt hatte, und ließ sich eine Sicherheitstür nach der anderen von Henderson aufschließen.

In jenen Zellen, die vom Innenhof nur durch Gitter abgetrennt waren und nicht durch Wände, standen die Gefangenen Spalier und verfolgten ihn mit den Augen. Keiner muckste sich, niemand erhob die Stimme. Alle wussten genau, wer hier zu Besuch kam und was sein Erscheinen zu bedeuten hatte. Als der Bedienstete und er, vom Erdgeschoss in den dritten Stock gelangt, nach etlichen Minuten endlich im Sicherheitstrakt angekommen waren, standen wie üblich schon der Gefängnisdirektor, Mister Lurie, jemand vom Justizministerium, ein kleiner Beamter, und ein Vertreter der Staatsanwaltschaft, ein hohes Tier, dessen Namen er sich nie merken konnte, bereit.

Und Howard natürlich, ein Mittdreißiger aus Leeds, Howard Phelps, sein treuer, zuverlässiger Assistent, der ihm nun schon seit vielen Jahren zur Hand ging. Und ihn jetzt mit einem breiten Grinsen empfing.

 

Man war unter sich in dieser Männerrunde, man kannte sich. Alles war eingespielt, man konnte getrost zur Routine übergehen. Hände wurden geschüttelt, knappe Begrüßungen ausgetauscht.

„Schön, dass Sie mal wieder bei uns sind, Beaufort“, sagte der Gefängnisdirektor mit unverstellter Freundlichkeit zu ihm und sah ihn dabei direkt an, eine Spur zu lang vielleicht. Eine Anspielung auf die dumme Angelegenheit in Pentonville? Rupert hatte nicht den Eindruck.

„Sie wissen ja, was zu tun ist“, fuhr der ältere, ehrwürdige Herr fort, auch er nicht in Uniform. „Ratschläge benötigen Sie nun wirklich nicht.“

Er nickte Rupert anerkennend zu, gab ihm zu verstehen, wie sehr er es schätzte, dass der Executioner sich hier bestens auskannte, hielt inne – fiel ihm noch etwas ein? – und räusperte sich.

„Wir sehen uns dann morgen früh.“

Lurie verabschiedete sich gleich wieder. Der Priester und die beiden Wärter, die während der Prozession zu beiden Seiten des Sträflings mit ihm von der Todeszelle in die unmittelbar benachbarte Schreckenskammer schreiten würden, waren noch nicht anwesend. Sie würden erst im Morgengrauen dazustoßen und dann zwei Kollegen ablösen, die den Vortag und die Nacht mit dem Verurteilten verbrachten. Oft waren sie es, mit denen der Unglückliche Zigaretten rauchte und palaverte, seine Henkersmahlzeit zu sich nahm. Oft waren sie es, die am meisten von ihm erfuhren, seine Nöte, seine letzten Geheimnisse, die seine Verzweiflung und seine Tränen zu sehen bekamen, manchmal auch seine Reue, seine tiefe Bestürzung.

Oft waren sie es, die nach der Todeshandlung Mühe hatten, die Fassung zu bewahren. Vielleicht, weil sie dem zum Sterben Verdammten so verdammt nahe kamen. Und als Vorletzte dessen Körperwärme gespürt hatten, die dann auf einmal nicht mehr da war, wie weggezaubert.

Rupert teilte sich mit Howard eine Zelle, eine Etage höher. Mit einem Waschbecken sowie zwei Feldbetten ausgestattet und recht komfortabel, „unser Wohnzimmer“, witzelten sie, ihr Living Room. Wenn Phelps auch die Angewohnheit hatte, fürchterlich laut zu schnarchen. Für ihr leibliches Wohl würde gesorgt sein. Oft sogar war das Essen, das man ihnen hochbrachte, erstklassig und stammte gar nicht aus der Gefängniskantine. Woher genau und wer dahintersteckte, blieb ihnen verborgen: ein unbekannter Gönner. Gewiss ein Förderer, ein Befürworter des Todes durch den Strang, dem es eine Herzensangelegenheit war, den Henkern ihren Arbeitstag so angenehm wie möglich zu gestalteten.

Den angebotenen Alkohol lehnten sie kategorisch ab. „Hinterher“ genehmigte sich Howard, noch an Ort und Stelle, gern ein Bierchen oder einen Cognac, denn die Gefängnisleitung hielt immer ein paar hochprozentige Getränke und Erfrischungen bereit, sobald alle wieder außerhalb der Schreckenskammer waren; Rupert trank erst, wenn er und Howard die Haftanstalt verlassen hatten und vor der Heimreise noch irgendwo in London einkehrten. Meistens spielten sie am Vorabend Karten, unterhielten sich über dies und jenes und legten sich früh schlafen. Um bei Tagesanbruch fit und hellwach zu sein.

Die größte, anstrengendste Arbeit kam aber jetzt: die Generalprobe. Die Simulation. Das genaue Durchspielen der morgigen Hängung. Wichtiger noch als die Tötung selbst, wie Rupert gern betonte, auch wenn das, wie er an Howards ausbleibender Reaktion sehr wohl bemerkte, immer etwas oberlehrerhaft wirkte.

In einem ersten Schritt schob Rupert einen Riegel beiseite, ganz leise, um keinen Lärm zu verursachen, und blickte durch ein längliches Peeploch, ähnlich dem Spion an Wohnungstüren, nur dass es ein sehr viel genaueres Studium des dahinterliegenden Raumes ermöglichte, in die Todeszelle. Ohne dass der Gefangene das wusste. Und möglichst auch nicht mitbekam. Judas­auge, so nannte man in der Henkerszunft diesen Spalt. Das war immer der entscheidende Moment: den Delinquenten taxieren, in Augenschein nehmen, beobachten und sein Verhalten analysieren. Seine Nervosität oder Gefasstheit einschätzen. Seine etwaige Gewaltbereitschaft in Betracht ziehen. Seine Größe und sein Gewicht überprüfen. Und davon ausgehend beurteilen, welche Fallhöhe benötigt wurde, welche Stricklänge.

Dabei kam es auf jeden Inch an. Verschätzen durfte man sich dabei nicht. Jede Fehlkalkulation würde beim Fallen eine qualvolle Strangulation des zu Hängenden nach sich ziehen, die mehrere Minuten dauern konnte und einer Folter gleichkäme, im schlimmsten Falle seine ungewollte Enthauptung. Das wäre dann eine verpfuschte Hinrichtung, und die konnte niemand wollen. Im wahrsten Sinne des Wortes ein Hängen und Würgen. Abscheulich.

Rupert Beaufort und Howard Phelps hatten bislang immer richtiggelegen, sie waren ein perfekt eingespieltes Team.

Rupert betrachtete den Todeskandidaten, der ihm den Rücken zukehrte, und ließ sich dabei Zeit. Der Mann, schlank, lockiges Haar, hochgewachsen und mit einem ungewöhnlich großen, fast kantigen Kopf, saß am Tisch, kerzengerade und bewegungslos, in die Lektüre eines Buches vertieft, vor ihm ein Stapel länglicher, großer Bände, von denen der oberste aufgeschlagen war. Als Rupert die Augen zusammenkniff und genauer hinschaute, meinte er eine mit kleinen schwarzen Zeichen und Punkten übersäte Partitur zu erkennen. Noten also – für ihn nichts anderes als Hieroglyphen. Die Wärter saßen hinten in der Ecke, sprachen halblaut untereinander und zeigten sich gegenseitig irgendetwas in einer Sportillustrierten. Beaufort bedauerte, dass er das Gesicht des Delinquenten nicht sehen, dessen Züge nicht studieren konnte. Etwas an dessen ruhiger Haltung beeindruckte ihn. Der hier wirkte nun wirklich nicht, als fürchtete er sich davor, in wenigen Stunden gehängt zu werden. Der konnte sich beherrschen. Dessen elegante Hände fielen ihm auf und seine südländische Erscheinung. Kultiviert wirkte er, nobel. Fromm eher nicht. Kein Gangster oder gewöhnlicher Ganove.

Howard hatte Rupert den Vortritt am Judasauge gelassen, nun trat er selbst beiseite, damit auch der Jüngere sich ein Bild von dem Hinzurichtenden machen konnte. In Gedanken errechnete er bereits die bei der Vollstreckung benötigte Fallhöhe, damit der Long Drop, wie man in England das kalkulierte, jeweils neu festgelegte Herabstürzen durch die sich nach unten öffnende, in der Mitte geteilte und in zwei Richtungen oder Hälften auseinanderklappende Falltür nannte, erfolgreich zum Einsatz gebracht werden konnte. Dadurch war das Ersticken bei gleichzeitiger Bewusstlosigkeit quasi garantiert, und ein qualvoller, in die Länge gezogener Würgetod war damit ausgeschlossen.

The Long Drop, einst von William Marwood, dem Urahnen der modernen Henker, erdacht: die humanere und bei Weitem beste, von Fachleuten bevorzugte Methode, weil der verantwortliche Henker für jeden Verurteilten individuelle Maße zur Anwendung kommen ließ, anstatt sich ohne Rücksicht auf die Besonderheiten jedes Einzelnen mit einem mittleren Standardwert für alle zu Hängenden zu begnügen – so wie es früher, zum Leidwesen seiner Vorgänger, der Fall gewesen war.

Howard schob den Riegel wieder vor den Spalt, entfernte sich von der Zelle und stellte lapidar fest, als beide wieder außer Hörweite waren: „Der wird uns keine Scherereien bereiten, da bin ich mir sicher. Der hat die Ruhe weg.“

Und erwähnte dann noch, dass der Mann Magazzano heiße und, obwohl italienischer Herkunft, hier aus London sei.

Rupert nahm es zur Kenntnis.

Die nächsten zwei Stunden verbrachten sie im Schweiße ihres Angesichts mit der mehrmaligen Hängung eines Dummys, einer Gliederpuppe in Menschengestalt, deren Gewicht und Länge veränderbar war und die sie untereinander als „Strohmann“ bezeichneten. Sie überprüften das Alter, die Qualität und die Straffheit des Seils, auch dessen Durchhaltevermögen, bereiteten die Schlinge vor und tasteten danach den Lederriemen ab, den man bei dem Unglücklichen unterhalb des linken Kieferknochens anbrachte. Damit wurde ein präziser Genickbruch ermöglicht: durch die Fraktur mehrerer Nackenwirbel und die Kompression wichtiger Schlagadern – sowohl der Kopf- als auch der Wirbelsäulenarterie.

Ferner prüften sie den Mechanismus des Hebels, mit dem das Öffnen und Auseinanderklappen der Falltür ausgelöst wurde, schauten sich die am Hebel angebrachte Sicherheitsverriegelung genau an, um festzustellen, ob sie auch wirklich funktionsfähig war, inspizierten die Holzscharniere an der Falltür, um sicherzugehen, dass sie nicht morsch oder wurmstichig waren, und begaben sich zuletzt in den dunklen Raum unterhalb der Schreckenskammer, in dem ein Amtsarzt den augenblicklich eingetretenen Tod bestätigen und der Gehenkte bedauerlicherweise noch genau eine Stunde lang allein weiterbaumeln würde. So lautete die Vorschrift, so wurde es seit Jahrzehnten gehandhabt.

Bis Beaufort den Leichnam endlich vom Strang nehmen, waschen und in einen bereitstehenden Sarg betten konnte. Phelps hatte, wiederholt und ernst gemeint, auch bei diesem letzten Arbeitsgang seine Unterstützung angeboten, aber für Rupert war es Ehrensache, sich persönlich um diesen toten Straftäter, der für ihn immer noch und trotz allem ein Mensch blieb, zu kümmern und für einen würdigen Abschied von dieser Welt zu sorgen.

Die Größe der Schreckenskammern – mit ihren fast identischen Gerätschaften – variierte von Stadt zu Stadt und Gefängnis zu Gefängnis, aber es waren durchweg außerordentlich kleine, beängstigend enge Räume. In denen höchstens drei, vier Leute aufrecht stehend Platz hatten. Der Assistent, dem das Fesseln der Beine des ihm Anvertrauten oblag und auch die präzise, parallele Positionierung von dessen Füßen an zwei genau markierten Stellen auf je einer geschlossenen Klappe, musste sich in Acht nehmen, nicht mit dem Gehenkten in die Tiefe zu stürzen, weil er, wenn der Chief Executioner ohne Vorankündigung den Hebel betätigte, sich nicht rechtzeitig oder vollständig vom Klappenbereich zurückgezogen hatte. Das war in der Vergangenheit mehrfach vorgekommen, jedes Mal ein grotesker und auch peinlicher Vorfall – zumal sich der Assistent dabei verletzen, den Verurteilten, ohne es zu wollen, in einer ungeschickten Umarmung begleiten und somit die einwandfreie Durchführung der Hinrichtung gefährden konnte. Howard und Rupert, die jeden Gegenstand im Raum kritisch begutachtet hatten und jegliches Missgeschick von vornherein ausschließen wollten, war das noch nie passiert.

Am nächsten Morgen dann, etwa eine halbe Stunde vor der angesetzten Hängung, würden die beiden Männer den gesamten Vorgang noch einmal durchexerzieren – um sicherzustellen, dass alles perfekt vorbereitet war und einwandfrei durchgeführt werden konnte.

Nun konnten sie sich einstweilen zurückziehen. Das Anstrengendste lag hinter, das Schlimmste noch vor ihnen. Sie wurden – wie auf Verabredung – gesprächiger und gelöster, lachten öfter. Es war noch früh am Abend, sie legten ihre Jacketts ab, lockerten ihre Krawatten und warteten auf das Abendessen, das ihnen ein uniformierter Wärter in den nächsten Minuten vorbeibringen und servieren würde. Rupert war hungrig; die lange Anreise, seine neu erwachte Zuversicht und die Vorbereitungen, die zu seiner größten Zufriedenheit abgelaufen waren, hatten zusätzlich appetitanregend gewirkt.

Auf einmal sprang die Tür auf, ohne Vorankündigung, in deren Rahmen jedoch nicht der Essensbote, sondern Direktor Lurie höchstpersönlich erschien, etwas außer Atem und sichtlich freudig erregt. Oder vielmehr irritiert. Die beiden Männer fuhren herum.

„Dem Italiener wird ein Klavier geliefert“, stieß er hervor und schien es selbst noch nicht richtig zu glauben, „in seine Zelle. Das war sein letzter Wunsch. Befehl von höchster Stelle“, setzte er mit bedeutungsvoller Miene hinzu und hob die Augenbrauen, „es müsste gleich so weit sein. Für das Heranschaffen zahlt er persönlich. Ich gestehe, ich war verwundert“, er machte eine kurze Pause, „ich … nun, ich habe nichts dagegen einzuwenden gehabt.“

Rupert und Howard starrten sich verblüfft an. Sie waren erst einmal sprachlos. So etwas hatte es noch nie gegeben. Extrawürste waren, das war ungeschriebenes Gesetz, ausgeschlossen. Normalerweise jedenfalls. Gefangene hatten, außer speziellen Menüwünschen und der ominösen letzten Zigarette am Morgen, einfach nichts zu wollen. Eine solche Wendung, erst recht so kurz vor der entscheidenden Nacht, hatte Beaufort in all den Jahren nicht erlebt.

War die Entscheidung im Ministerium getroffen worden? Oder von Regierungsstellen, am Ende gar im Königshaus? Und wieso erst jetzt, nach Dienstschluss, wenn im Prinzip niemand mehr in den Behörden erreichbar war?

„Um ehrlich zu sein“, meinte Lurie dann, als könnte er Ruperts Gedanken lesen, „man hat mir keine Wahl gelassen. Mir waren die Hände gebunden. Nehmen wir die Dinge so, wie sie sind. Und nun“, er blickte in die Runde und versuchte, seine Fassung wiederzugewinnen, „wünsche ich Ihnen guten Appetit und“, wieder pausierte er, „gute Abendunterhaltung. Genießen Sie die Darbietung. Schlafen Sie gut.“

 

Alles war wie immer, bis vor einer Minute. Und nun war nichts mehr wie immer.

Träumten sie eigentlich, die vielen Männer und wenigen Frauen, die man ihm zum Aufknüpfen überantwortet hatte? Träumten sie in den langen, einsamen Nächten vor ihrer Todesreise? Rupert mochte gern daran glauben. Sicher dachten sie noch einmal gründlich über ihre Untaten nach und verwandelten sie, unter Zuhilfenahme der Fantasie, in etwas Schönes und Befreiendes, Sauberes und Gutes; gewiss ging ihnen ständig durch den Kopf, was sie angerichtet hatten und dass, könnten sie das Geschehene doch bloß rückgängig machen und den Film anhalten, jetzt stattdessen irgendwo die Arme eines geliebten Menschen, eine wohlschmeckende Mahlzeit, ein Glücksgefühl, eine friedliche Nacht auf sie warteten. Auch wenn sie glaubhaft nichts bereuen und zu ihren verwerflichen Handlungen stehen sollten. Sie wussten und sie vermochten sich gegen dieses Wissen nicht zu wehren, sie wussten, sie könnten, mit einem Quäntchen Einbildungskraft, woanders sein, wenn sie es nur wirklich gewollt hätten. Anstatt wie jetzt in der Todeszelle die verrinnenden Stunden und Minuten zu zählen, die sie noch von jenem demütigenden Moment trennten, da Rupert ihnen die weiße Kapuze überziehen musste. Nie wieder würden sie diese herrliche, so unendlich viele Möglichkeiten bietende Welt sehen, auf der sie bis heute leben durften, nicht einmal mehr durch ein Judasloch in sie hineinlugen, und um diese Schmach hinter sich zu bringen, neigten sie ihre Köpfe, hielten sie ihm bereitwillig hin. Flehten beinahe darum, die Schlinge um den Hals gelegt zu bekommen. Baten darum wie um einen großen Gefallen.

Schon aus diesem Grund, um sie vor der kalten Realität des anbrechenden Morgens zu schützen, wünschte Rupert ihnen wunderbare und beglückende Träume, die sie mit ins Reich des Todes hinübernehmen konnten, Träume, die niemand misstrauisch beäugen durfte, Träume, die nur ihnen ganz allein gehörten.

Träumen sollten sie, was das Zeug hielt. Von ihren Geliebten und Liebhabern, von ihren Kindern und Eltern, von Festen und Überraschungen, von Orgasmen und religiösen Erweckungen, von Lachkrämpfen und von beruflichem Erfolg, von sportlichen Triumphen und ihren ersten unsicheren Schritten als Kleinkind, von alldem, was ihnen auf Erden einst große, unbändige Freude bereitet hatte.

Diese ultimativen Träume könnten dazu beitragen, dass ihre Seele gerade noch rechtzeitig heilte. Bevor es zu spät war. Diese Träume könnten sie vielleicht doch noch retten. Könnten andeuten, dass etwas Erhabenes existierte, nicht nur im Jenseits, sondern auch hier, mitten im irdischen Elend. Kurz vor dem Fall.

Träumen tat er selbst natürlich auch in dieser Nacht nicht. In den Abendstunden gab er sich dem unvergleichlich intensiven, emotionsgeladenen und leidenschaftlichen Klavierspiel hin, das der Italiener in der Zelle nebenan für ihn und Howard abspulte. Und für die beiden Wärter. Ein Exklusiv-Konzert.

Magazzano war, daran konnte kein Zweifel bestehen, ein wahrer Magier. Oder ein Derwisch. Er spielte auf dem schäbigen Piano, das Lurie wohl aus den Gemeinschaftsräumen hierher hatte transportieren lassen, wie ein Gott. Verwandelte das ordinäre Instrument in einen Zauberkasten. In eine Schatztruhe. Magazzano machte den vier einfachen Männern, die sich zu seiner Tötung eingefunden hatten und seinetwegen die Nacht mit ihm in hässlichen, finsteren Zellen hinbringen mussten, sein Recital zum Geschenk. Ließ sich von Howards Rülpsern und dem Gähnen seiner Leibwächter nicht aus der Fassung bringen.

Rupert wünschte sich, Burt könnte mithören. Der würde aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommen. Rupert untersagte sich den Impuls, erneut durchs Judasloch zu schauen, diesmal, um zu begreifen, wie dieser Mann hinter der Wand solche fulminanten Klänge fabrizierte. Doch hatte er die Botschaft auch so verstanden: Nur aufs Zuhören kam es an in dieser Nacht. Nicht auf Wissen oder Verstehen.

Rupert kannte keines der Stücke, hatte keine Ahnung, ob das jetzt Sonaten waren oder Suiten, Intermezzi oder Fantasien, Impromptus, Präludien oder Etüden, Improvisationen oder Meisterwerke; sie gehörten alle in ein Reich, das ihm ein Leben lang verschlossen geblieben war und in das sich Ruth ein paar Schritte vorgewagt hatte, wenn sie mit ihren Freundinnen die Abonnementkonzerte in der Free Trade Hall besuchte, ihre Klassikreihe. Konzerte, zu denen er nur ein einziges Mal mitgekommen war.

In dieser Gefängnisnachtmusik, die keine Melodien zu kennen schien, kein Anfang und kein Ende, perlte und rauschte, strömte und glitzerte es. Es funkelte, es schimmerte, es leuchtete und es schillerte, es rumorte und es strahlte, nichts daran war greifbar. Es schluchzte und jubilierte, es trauerte und huldigte.

Nichts daran glich Sprache oder Gelächter, Rufen oder Gewalt, jähen Wutanfällen oder einlullendem Märchenton, alles daran hatte sich von menschlichen Verstrickungen und Verlautbarungen gelöst, fühlte sich an wie ein in die Freiheit entlassener Vogel, der dem Horizont zustrebt, Meere und Berge unter sich zurücklassend. Alles an dieser erst grandiosen und dann wieder zarten Musik erzählte von einem anderen, sagenhaften Planeten, auf dem die Gedanken und Gefühle ungebundener waren als hier auf Erden.

Rupert verstand nichts von dieser Tonkunst, doch sie erinnerte ihn an etwas lang Zurückliegendes, das er nicht benennen konnte, und er hätte noch stundenlang weiter zuhören mögen. Damit dieses Glitzern, dieses Leuchten einfach nie aufhörten.

Dann trat schlagartig Stille ein. Howard und er vernahmen, schon weit nach Mitternacht, nach den letzten Kaskaden, Läufen und Akkorden, nur noch, wie der Italiener den Deckel zuklappte.

Das unsichtbare Konzert war beendet. Wie ein gähnendes Loch tat sich eine große Leere auf. Eine Leere, mit der sie nichts anzufangen wussten. Melancholie überkam sie. Was für eine Talentverschwendung, dachte Rupert mit Bedauern, als er einschlief. Ausgerechnet diesem Teufelskerl, diesem Virtuosen das Leben nehmen zu müssen. Konnte man ihm sein Können, seine unglaublichen Fähigkeiten und seine Meisterschaft nicht vorher herauspräparieren, sie konservieren und im Labor rasch noch einem anderen, schuldlosen Menschen einpflanzen, der dann am morgigen Tag für ihn weiterspielen würde? Konnte man dieses Hirn und diese Empfindsamkeit nicht noch vor der Zerstörung retten?

Ein, wie er wusste, absurder und dennoch wünschenswerter Gedanke. Aber nein, träumen tat Rupert auch in dieser seltsamen und wundersamen Nacht nicht. Er verbat es sich.

Es gehörte zum Ritual in den Hochsicherheitstrakten britischer Gefängnisse, dass sich alle Anwesenden wenige Minuten vor neun Uhr morgens vor der Todeszelle einfanden. Was jetzt geschah, würde unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Keine Angehörigen der Opfer, die Rachegedanken hegen mochten, waren zugelassen und auch keine Angehörigen der Verurteilten, die imstande waren, verzweifelt oder hysterisch zu reagieren. Presseleute ebenso wenig. Lediglich ein Priester – aber nur, wenn der Delinquent das ausdrücklich wünschte – und die beiden Begleiter sowie ein Quartett aus Offiziellen: Gefängnisbeamter, Justizvertreter, Parlamentarier oder Ministeriumsangehöriger und Arzt. Von denen einer, im Anschluss an die Hängung, die ordnungsgemäße Vollstreckung des Urteils zu protokollieren und zu beglaubigen hatte.