Den Kopf hinhalten

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Es war auch eine Handvoll Frauen unter seinen Fans, die Rupert vor jeder Hinrichtung anfeuerten wie bei einem Boxkampf. Die ihm schamlose Blicke zuwarfen und ihn anstachelten, die ihm: „Gib’s dem Halunken!“, oder, ärger noch: „Bring’ den Schweinehund zur Strecke!“, zuriefen, bevor er sich anderntags auf die Reise machte.

Das war ihm immer ein wenig unbehaglich und manchmal richtig zuwider. Er kam sich dann vor wie ein großer halb nackter Bulle, der, von Tausenden Augenpaaren angeglotzt, in den Ring steigt. Wie ein hirnloses Kraftpaket, das sich zum wild gewordenen Affen macht, indem es sich grölend an die Brust schlägt und seinem Gegner einen brutalen, gezielten Faustschlag verpasst. Bis der Getroffene k.o. geht und am Boden liegt. Um dann, noch voller Verachtung, nachzutreten.

Rupert hasste es, wenn sich Außenstehende an seiner Pflichterfüllung aufgeilten und unverhohlen ihren Rachedurst bekundeten. Denn was er in Pentonville oder in Strangeways, in Wandsworth, in Shepton Mallet oder in Mountjoy mit seinen Verurteilten anstellte, die ihm im Laufe der Jahre immer mehr wie Schutzbefohlene erschienen waren, hatte freilich mit Brutalität und Fertigmachen, mit Plattwalzen und Auslöschen rein gar nichts zu tun.

Er war kein öffentlicher Auspeitscher, er betätigte keine Guillotine, er schlug niemanden zu Brei. Er nutzte die Position der Überlegenheit, die Amt und Gesetz ihm zuschrieben, nie aus, um zu demütigen oder zu vernichten.

Er war stark, ohne muskulös zu sein. Mit einer unkontrollierbaren Bestie, der man einen Schwächling zum Fraß vorwarf, hatte er nichts gemein. Und schon gar nicht mit einer Tötungsmaschine.

Diese armen Menschen, die ihm in ihren letzten Lebensminuten unter die Augen traten, weil sie der Gemeinschaft der Unbescholtenen nicht länger unter die Augen treten durften und für ihre Untaten büßen mussten, waren alles andere als wehrlose Gegner. Rupert hatte vor den zu Hängenden den allergrößten Respekt. Ihm war bewusst, dass sie die Konsequenzen ihrer Straftaten, nach wochenlanger Grübelei in den Zellen und in der Einsamkeit der Kerker, längst akzeptiert hatten, und er wusste um ihr Einverständnis. Er war zutiefst davon überzeugt, dass jede und jeder von ihnen am Todesmorgen mit ihrem oder seinem Ende einverstanden war. Und dass sich die meisten von ihnen glücklich schätzten, dass gerade er zu ihnen gekommen war, damit dieser Abschluss möglichst rasch herbeigeführt werden konnte.

Höflich war, mit wenigen Ausnahmen, ihr Betragen. Gefasst waren sie, nur wenige wehrten sich, und die Ruhigsten unter ihnen atmeten hörbar auf, wenn sie merkten, dass Rupert auch ihnen mit Zuvorkommenheit begegnete.

Seine Verurteilten. Sie gehörten ihm ja, an diesem letzten Tag ihres Lebens. Ihm allein. In ihrer Todesstunde, kaum mehr als ein Stündchen, das dann auf nur wenige Minuten, Sekunden eigentlich, zusammenschrumpfte, gehörten sie ihm ganz und gar.

Er hatte gelernt, sie zu studieren und ihre Demut zu deuten. Er las in ihren Augen, spürte, wie zartbesaitet sie eigentlich waren, erkannte die Verwundbarkeit, die Verletzungen, die tiefen Wunden ihres Vorlebens; von ihren eigentlichen Straftaten erfuhr er in diesem Moment nichts und wollte auch, zumal wenn er die Hinrichtung hinter sich gebracht hatte, so wenig wie möglich davon wissen.

All dies hätte er seinen Gästen im Pub am liebsten einmal in Ruhe auseinandergesetzt. Allerdings ließen sie ihn nie zu Worte kommen, ihnen stand der Sinn nach anderen Informationen. Oder nach Liedern. Möglichst zweideutigen oder obszönen. Diesen sich in Ekstase steigernden, nach Blut und Gewalt förmlich lechzenden Frauen in seinem Lokal, allesamt ehrbare Ehefrauen noch dazu, die sich unter dem amüsierten Blick ihrer Männer gerne einmal ein wenig gehen ließen, hätte Rupert gern erklärt, dass er überhaupt kein Mörder war. Beteuert hätte er es. Auch, dass er sich nicht mit einem Serial Killer, wie ihm immer wieder zu Ohren gekommen war, vergleichen ließ.

Bei solchen Szenen hätte er Stuart am liebsten untersagt, was der seit Monaten am liebsten tat: von Ruperts neuestem Auftrag überall im Ort und selbst in Manchester ungeniert herumzuerzählen.

Es half nichts: Die Sensationsgier seines Kumpels war stärker. Kaum hatte Rupert das nächste offizielle Schreiben von der Gefängniskommission erhalten und, an den Kaminsims gelehnt, aufmerksam studiert, kaum das genaue Datum der Exekution in Erfahrung gebracht und den Ablauf seines Wochenendes fern von zu Hause geplant, wusste Nicholson aus mysteriösen Gründen genauestens Bescheid, verbreitete Gerüchte, applaudierte Rupert, wenn er die Kneipe betrat, grinste vielsagend, wies mit dem Daumen auf ihn und ließ ihn hochleben – dabei hätten Ruth und ihr Mann die Hand dafür ins Feuer legen können, niemandem davon berichtet zu haben.

The Rose & Crown war Ruperts und Ruths zweiter Pub und der erste mit einem ansprechenden Namen, der erste auch auf dem Land. Den ersten, weitaus kleineren, im Randbezirk der Großstadt, hatten sie kurz nach ihrer Eheschließung gepachtet, was mitten im Krieg und ohne nennenswerte Ersparnisse ein mutiger, fast leichtfertiger Schritt gewesen war.

Rupert, damals an die vierzig, hatte aber schon seit Langem Aufstiegschancen gewittert und nur auf die passende Gelegenheit gewartet, sie auch wahrzunehmen. Eine niedere Existenz als Auslieferungsfahrer eines Gemüsegroßhändlers führen zu müssen, davon hatte er die Nase voll gehabt. Für einen wie ihn musste und würde sich irgendwo eine Tür öffnen, das war weniger eine Hoffnung als eine Tatsache, von der er schon als Heranwachsender überzeugt gewesen war.

Als Rupert die Anzeige entdeckte, in der nach einem neuen Pächter gesucht wurde, fackelte er daher nicht lange und griff zu. Seine Frau war, wie erwartet, einverstanden. Gemeinsam arbeiteten sie auf ihr neues Ziel hin, verschrieben sich einer Idee. So töricht sie auch sein mochte. Taten alles, um sie Wirklichkeit werden zu lassen.

Sich Gastwirt nennen zu können, das war doch etwas ganz anderes. Und sein eigener Herr zu sein, das war auch nicht zu verachten. Bei allem Risiko. Binnen Kurzem, so hatte Rupert mit reichlich Wunschdenken angenommen, würde er zur Respektsperson werden, würde die Kasse klingeln. Als patenter, gutmütiger Wirt im Hintergrund.

Anfängerglück und der nötige Elan zahlten sich für ihn und die gar nicht so schüchterne Ruth, die sich wahrlich lange genug an der Theke eines Krämerladens die Beine in den Bauch gestanden hatte und gleichfalls nach Höherem strebte, denn auch aus. Weg mit den Brotberufen!

Ihr Elan sollte ihnen Recht geben. Der seit Menschengedenken gut eingeführte Laden, im Zentrum von Hollinwood, für Kneipengänger aus Oldham und trinkfeste Zecher aus Manchester spielend erreichbar, florierte. Und das in den schlimmen Jahren 1943/44! Das Wirtsehepaar besaß offenbar ein Händchen für das neue Metier.

Dass ihr junges Glück bislang kinderlos geblieben war – was sich auch in den Nachkriegsjahren nicht mehr ändern sollte –, begünstigte den Neustart: Beide Beauforts konnten sich der Arbeit im Pub ohne Einschränkungen, Säuglingsbetreuung oder umständliche Aufgabenteilung zwischen Lokal und Kneipe widmen. Sie hatten die Wohnung gleich über dem Pub bezogen, was praktisch war und sie Berufs- und Privatleben auf ideale Weise verbinden ließ.

Dass der traditionsreiche Laden nun ausgerechnet Help the Poor Struggler heißen musste, irritierte das junge Ehepaar anfangs doch sehr. Struggler, da dachte man ja unwillkürlich an einen um sein Leben Kämpfenden, einen, der verzweifelt mit den Beinen strampelt, dessen Füße herabbaumeln und der vergebens nach einem Halt sucht. An einen, der dringend Hilfe braucht, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren und im Sumpf unterzugehen. Struggler, das klang nach Agonie und erfolglosem Bemühen. Zu einem Henker passte der Name dagegen wie die Faust aufs Auge. Trug aufgrund seiner Deutlichkeit dazu bei, dass man sich ordentlich gruselte, provozierte er doch böse Assoziationen und wahre Horrorvorstellungen. Ein schlechter Witz. Ein Bonmot mit üblem Beigeschmack. Weil er, wenn man vom Nebenerwerb des tüchtigen Beauforts erst einmal wusste, natürlich eine echte Geschmacklosigkeit war.

Eine Zeit lang meinte Ruth, es sei womöglich besser, das Schild abzuhängen und eine Namensänderung vorzunehmen, bevor es zu spät sein könnte. Aber die Leute im Viertel hingen längst an dem alten, seit Jahrzehnten etablierten Namen, der auch über Manchester hinaus einen guten Klang zu haben schien.

Es blieb also dabei. Dass den „poor strugglers“ am Galgen aber niemand mehr zu Hilfe kam, dass diesen Armen auf Erden nicht mehr zu helfen war, wusste im Übrigen nur der Galgenmann allein. Das war Ruperts vielleicht größtes Geheimnis. Doch wasserdicht war sein Alibi anscheinend nicht: Alle paar Wochen kritzelte jemand, der den Beauforts auf die Schliche gekommen war und von Ruperts dunklem Geschäft wusste, jemand, der es nicht so gut mit ihnen meinte oder sich einfach auf ihren Kosten einen unpassenden Scherz erlauben wollte, mit Kreide ein Galgenmännchen an die Eingangstür des Pubs. Für jedermann sichtbar.

Augenscheinlich ein Eingeweihter! Wer ihm wohl diese Informationen zugespielt hatte – sie hatten keinen Schimmer. Und einen Könner hatten sie obendrein vor sich, denn die Zeichnungen waren so explizit wie gelungen. Was dem Publican und seiner Frau jedes Mal einen gehörigen Schrecken einjagte. Ruth beeilte sich, das Graffito rasch wieder abzuwischen. Keiner von beiden wusste, wie lange dies barbarische Spielchen noch weitergehen mochte.

In den ersten Monaten nach der Eröffnung des Struggler war gottlob alles gut gegangen, niemand hatte zunächst den Doppelsinn des Lokalnamens auch nur erahnen können. Doch dann, nach Kriegsende, kam die zermürbende, aufreibende Phase auf die Beauforts zu, eine wahre Bewährungsprobe, als Rupert für die Hängung von zahllosen deutschen Kriegsverbrechern nahezu ununterbrochen nach Deutschland geflogen wurde, in geheimer Mission. Nur dass es mit diesem Geheimnis nicht weither war … Ein Auftrag, der von „ganz oben“ kam und eine große Ehre für ihn darstellte. Man brachte ihn in die britische Besatzungszone, um dort, im bislang unbedeutenden Gefängnis einer kleinen niedersächsischen Stadt, von der britischen Militärjustiz angeordnete Todesurteile im Akkord zu vollstrecken.

 

Nicht selten damals tötete er ein Dutzend Menschen oder mehr an einem Tag oder an einem Wochenende. Hinrichtungen am Fließband, auch für ihn ein Novum. Und eine Herausforderung, die er wiederum meisterte. Wenn es ihm, zum ersten Mal, auch schwerfiel. Woche um Woche, Monat um Monat. Seinem Gewissen zusetzte und seine Seelenruhe auf die Probe stellte.

Da war es, sobald die Presse Wind vom Beginn der Aktion bekam und von der Identität des heldenhaften Executioner erfuhr, aus und vorbei mit der bewährten Diskretion und der früheren Geheimniskrämerei. Von einem Tag auf den anderen war der Name Beaufort in aller Munde, und die Menschen kamen in Scharen nach Hollinwood, um ihn anzustarren, zu bewundern und zu feiern. Damit war sein Schicksal als Volksheld unwiderruflich besiegelt, und über Nacht war er zu einer Berühmtheit geworden. Zu einem tollen Hecht, der es den verhassten Deutschen endlich einmal zeigte. In Hameln. Hamelin, wie seine Landsleute sagten. Der mit Judenmördern abrechnete und der Unmenschen wie verachtenswerten Schindern den Garaus bereitete. Der die Schlächter unter den Nazis, die lange genug ungestraft ihr Unwesen treiben durften, kurzerhand ins Massengrab beförderte. Der den Sieg der freien Welt mit seinem Tun eindrucksvoll untermauerte.

Wenn es nach Rupert gegangen wäre, hätte sein Leben lang nie jemand von seinem Zweitberuf erfahren. Auch jetzt noch nicht. Nur allzu gern hätte er die Uhr wieder zurückgedreht und die deutsche Episode ungeschehen gemacht, um seine Anonymität bis zum letzten Atemzug zu bewahren und zu schützen.

Es widerstrebte ihm, seine Leidenschaft an die große Glocke zu hängen. Alles, was mit Galgen und Todesstrafe, mit Vollstrecken und Hinrichten zu tun hatte, wollte er um jeden Preis für sich behalten. Er hätte demnach auch weiterhin eine richtige Dr.-Jekyll-and-Mr.-Hyde-Existenz führen können, so perfekt und undurchsichtig wie möglich.

Wenn ihm die Tötungsserien im fernen Hameln nur nicht dazwischengefunkt hätten, wo er es zum ersten Mal nicht mit Liebenden, Verzweifelten, Dieben oder Psychopathen zu tun bekommen hatte, sondern mit Funktionsträgern eines Unrechtsstaates, die mordeten, weil ein verbrecherisches System es ihnen befohlen hatte. Mit Bürokraten des Grauens, genau genommen. Deshalb hatte er sich zum ersten Mal auch die Frage stellen müssen, ob er da in Wahrheit nicht seinesgleichen unbekümmert in den Tod schickte. Menschen, die wie er Vorschriften gefolgt waren und Befehle ausgeführt hatten, die an ihren Auftrag geglaubt hatten und nun, wohl oder übel, einsehen mussten, dass eine andere, tolerantere Rechtsprechung ihr Handeln im Nachhinein als unrechtmäßig einstufte und sie verdammte.

Ja, zum ersten Mal war Rupert mit grundsätzlichen und sehr unangenehmen Fragen konfrontiert worden, die an sein Inneres rührten, die sein Selbstverständnis ins Wanken bringen konnten, die ihn massiv bedrohten. Rupert hatte nicht lange überlegt, war nur für einige Minuten in sich gegangen und hatte sich in einer Art innerem Kreuzverhör selbst befragt. Zweifel hatte er erst gar nicht an sich herangelassen, nach jedem Hamelner Wochenende eine tiefe Mütze Schlaf genommen und eventuelle Gemeinsamkeiten zwischen ihm und den deutschen KZ-Schergen empört verneint.

Welten trennten ihn von ihnen, und, wie unübersehbar war, standen die Schergen auf der falschen Seite der Geschichte. Hatten sich ihr Los selbst zuzuschreiben, während er, momentan, sich aus freien Stücken in den Dienst der Alliierten stellte. Nach allen Regeln der Kunst hatte er mit ihnen, die in Schnellverfahren, von deren Verlauf er keine Kenntnis hatte, abgeurteilt worden waren, kurzen Prozess gemacht. Burt und Stuart meinten: hochverdient. Rupert müsse ein Orden verliehen werden für seine Verdienste ums Vaterland, um die Freiheit und die westliche Demokratie. Eine Auszeichnung für ihn müsse dringend her, mit einer großen Freudenfeier, mit Feuerwerk, Marschmusik und offiziellen Reden. Und auch Ruth ließ ihn spüren, dass er seine Sache diesmal besonders gut gemacht hatte.

Triumphgefühle ließ, wie Rupert wusste, das britische Justizwesen gar nicht erst aufkommen, erst recht nicht im Zusammenhang mit den heiklen Kriegsverbrecherprozessen, wo auch nicht unbedingt alles nach Wunsch oder mit der gebotenen Fairness abgelaufen war – schnell, rasend schnell hatte es gehen müssen, die Rechtsprechung hatte auf wackligen Füßen gestanden, die Bürger der Siegermächte waren von verständlichen Emotionen wie Vergeltung, von niederen Gefühlen wie Heimzahlen und Aufrechnen keinesfalls frei gewesen. Vor weiteren Anwürfen, die nur er selbst an sich richten konnte, musste er fortan auf der Hut sein und aufpassen, nur ja nicht auf einmal dünnhäutig zu werden. Oder angreifbar. Nun war sein Name regelmäßig in den Zeitungen des Landes zu lesen und sein Konterfei auf so mancher Titelseite abgebildet gewesen, und an diesem misslichen Umstand hatte sich auch in der jüngsten Vergangenheit nichts mehr ändern lassen können.

Rupert musste mit seiner Berühmtheit weiterleben, ob er wollte oder nicht. In den Folgejahren machte er seinen Frieden mit diesem neuen Status. Übte Nachsicht mit seinen Anhängern. Ließ es zu, dass die Würdigung seines Tuns so manches Mal überhandnahm. Ließ sich dazu hinreißen, ganz selten nur kam das vor, die „Beaufort!“-Rufe zu genießen, die ihn an Samstagabenden entgegenschallten. Nur für Stuart und Burt war er einfach Rupert. Und für Ruth, na klar. Sonst durfte sich niemand eine solche Vertraulichkeit herausnehmen.

Für den Struggler, begehrt wie nie zuvor, zahlte sich seine Reputation auf alle Fälle aus – die Gäste standen Schlange, wollten dem bunten Hund Beaufort die Hand schütteln und ihre Komplimente loswerden.

Bald gehörte es zum guten Ton in Manchester und Umgebung, hier nach Arbeitsschluss vorbeizuschauen, sich ein paar Gläschen zu genehmigen und gesehen zu werden. Es wurde Kult, im Strugg­ler für eine große Anzahl Freunde oder Kollegen eine Runde zu schmeißen. Selbst mit einem Champagnervorrat musste sich Rupert eindecken – ein edles Gesöff, das früher nie jemand bestellt hatte.

Nach ein paar Monaten konnten Ruth und er sich sogar eine Bedienung leisten und zusätzlich einen jungen Mann, der an den Wochenenden spülte und den Laden sauber hielt. Der Pub hatte sich als Goldgrube erwiesen.

Einige Jahre später zogen die Beauforts aufs Land und wurden Pächter einer viel größeren Kneipe. Hier war der Rummel erträglicher, auch wenn die hartnäckigen Fans aus Hollinwood, treu wie sie waren, ihnen nachreisten und Wochenende für Wochenende die Bude einrannten. Auf sie war Verlass. Was Rupert rührte.

Ganz ohne Sensationstouristen, die sich gemeinsam mit ihm ablichten lassen wollten, wobei sie mit albernen Gesten sich die Hand an die Kehle legten oder den Kopf hängen ließen und die Zunge herausstreckten, um eine Hinrichtung nachzuahmen, ganz ohne die Horrorfans ging es auch in Much Hoole nicht ab. Egal, da musste Rupert durch. Machte gute Miene zum bösen Spiel. Blickte mit gespielter Verzweiflung in die Kamera. Ein kleines Häuschen war nun auch drin für ihn und seine emsige Frau. In dem sie es sich bequem machten. Much Hoole war nicht der Nabel der Welt, Preston, etwas weiter nördlich, auch nicht, aber auf den Stress der Großstadt und auf das hektische Vorstadttreiben konnten die beiden, unterdessen im mittleren Alter angelangt, gut verzichten.

Wohlhabender als seine Familie in Clayton, wo er geboren, und in Huddersfield und Failsworth, wo er aufgewachsen war, waren Ruth und er mittlerweile allemal. Und auch ein ganzes Stück glücklicher, wie ihm schien.

Rupert störte es nicht, dass er nach Schließung des Lokals, eine Viertelmeile von ihrem Cottage entfernt, allnächtlich noch einen kleinen Bummel absolvieren musste, bevor er endlich alle viere von sich strecken und sich ausruhen konnte. Dieser kurze Spaziergang, auch an kalten, sternenklaren Winterabenden, zwischen verrauchter Bude und trautem Heim tat ihm gut, half ihm, seine Gedanken zu ordnen. Schuf Abstand zwischen dem Geplänkel im Pub und der ersehnten Nachtruhe, Seite an Seite mit Ruth.

Aus den armen Kämpfern, aus dem Lieferanten und der Hilfskrämerin war ein zufriedenes Ehepaar geworden, das sich seinen Wohlstand hart erarbeitet hatte. Ziemlich weit hatten sie, der ehemalige Fahrer und die ehemalige Verkäuferin, es gebracht. Eine ansehnliche Laufbahn absolviert.

Nicht dass sie über die Stränge schlugen. Eine Woche Brighton oder ein paar Tage Blackpool pro Jahr, ein Wochenendausflug nach Birmingham, ein Kurztrip zur Hadrian’s Wall lagen im Bereich des Möglichen. Wenn ihnen Pub und Henkergeschäft überhaupt Zeit dafür ließen.

Sie waren es zufrieden – denn mit den Hinrichtungen allein wurde man weiß Gott nicht reich. Henker waren keine Beamte, ein Grundgehalt gab es nicht, und bezahlt wurde, neben Spesen, allein die erfolgte Hinrichtung: als Einzelleistung. Nicht mehr als ein Zubrot sprang dabei heraus. Eine Aufwandsentschädigung, wenn man so wollte. Eine Besoldung war auch für die besten unter den Scharfrichtern nicht vorgesehen.

Es war und blieb ein Handwerk ohne goldenen Boden. Nur in den Nachkriegsjahren hatten die Massenexekutionen Rupert kurzzeitig die Taschen gefüllt; danach kehrte, mit im Schnitt nicht mehr als zehn Hängungen pro Jahr, wieder der Normalzu­stand ein. Die schon früher mal in liberalen Kreisen aufgeflammte und jetzt quer durch alle Bevölkerungsschichten immer hitziger geführte Debatte um Sinn und Abschaffung der Todesstrafe hatte in jüngster Zeit die Zahl der Hinrichtungen noch weiter gedrückt – eine beängstigende Entwicklung, zumindest für die Beauforts. Schlimmer noch: Wurde im letzten Moment einem Gnadengesuch stattgegeben, was meist auf Druck der Öffentlichkeit gestellt wurde, ging der Executioner völlig leer aus, obwohl er sich schon eigens für den Vollzug der Strafe in eine andere Stadt begeben hatte – und obwohl er absolut nichts für diesen Sinneswandel der öffentlichen Meinung und der zuständigen Gerichtsbarkeit konnte. In diesem Fall waren zwei ganze Tage futsch, und es wurden nur Auslagen zurückerstattet, so wie erst neulich wieder, im zurückliegenden Monat Mai. Als er aus Pentonville unverrichteter Dinge und mit leeren Taschen zurückreisen musste.

Minuten nur bevor er die Todeszelle betreten hätte, hatte ihn ein Angestellter der Staatsanwaltschaft kurz und bündig darüber unterrichtet, dass man dem Antrag auf Begnadigung gefolgt sei und die ursprüngliche Todes- in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt habe. Kein Tod: kein Lohn. Dann hatte im Pub für fast achtundvierzig Stunden eine Arbeitskraft weniger zur Verfügung gestanden, ohne dass ein finanzieller Ausgleich dafür geschaffen werden konnte, und die ausgefallenen Einnahmen im Rose & Crown standen in keinem Verhältnis zum Almosen, das Rupert für eine ausgefallene Hängung zugestanden wurde.

Nicht einmal ein Wort des Dankes oder des Bedauerns hatten die hohen Herren für ihn gefunden. Beim bloßen Gedanken an diese Schmach kochte gleich wieder die Wut in ihm hoch.

Gleich nach seiner Rückkehr nach Much Hoole hatte er, enttäuscht und frustriert, an die Kommission geschrieben und sich in seiner Beschwerde, Bezug nehmend auf den Vorfall in Pentonville, bitter beklagt. Höflich und zuvorkommend, aber auch selbstbewusst und bestimmt. Sein erster Brief überhaupt nach seinem erfolgreichen Bewerbungsschreiben, das er damals noch als junger Mann an die Behörden gerichtet hatte. An seine jahrelange Treue und guten Dienste hatte Rupert erinnert, darauf gepocht, gefälligst respektvoll behandelt zu werden, darauf hingewiesen, wie sehr sich in letzter Zeit – zu seiner und ihrer Bestürzung – die Gnadengesuche gehäuft hätten, und sodann die volle Bezahlung eingeklagt. Ohne Abstriche.

Woraufhin sich eine längere, ziemlich unerfreuliche Korrespondenz entspann, in deren Folge er zwar nicht seinen Forderungen entsprechend entlohnt wurde, man ihm jedoch wenigstens mehr als nur die ursprünglich ausgezahlten, vom Gesetz vorgesehenen Spesen zukommen ließ. Das Vierfache des von Pentonville angebotenen Satzes bekam er nun, gewiss, aber noch immer nicht einmal ein Drittel seiner üblichen Bezahlung. Ein fauler Kompromiss.

Ruperts Unzufriedenheit war mit diesem Zugeständnis nicht verflogen. Und er war sich fast sicher, in Zukunft nie wieder etwas aus London oder Manchester zu hören, zur Strafe womöglich sogar von der berüchtigten „Liste“ gestrichen zu werden, der Liste einsetzbarer Vollzugspersonen, die aus Assistenten und Chief Excutioners bestand und die er jahrelang unangefochten angeführt hatte. Mit seinem klangvollen, ungewöhnlichen Namen.

 

Einem Namen, mit dem man sofort eine ganze Dynastie von Henkern verband, einem Namen, der einer Qualitätsmarke gleichkam. Zu groß war wohl die Unverschämtheit gewesen, die er in den Augen der Königlichen Kommission begangen hatte, zu weit hatte er sich vorgewagt. Und es sich vielleicht für immer verscherzt.

Als dann jedoch letzte Woche ein erneuter Befehl auf dem Kaminsims bereitlag, einschließlich der Aufforderung, sich heute in Wandsworth einzufinden und wie gehabt nach bestem Wissen und Gewissen ein Todesurteil zu vollstrecken, tat man auf beiden Seiten scheinbar so, als wäre nichts vorgefallen. Überging den peinlichen Zwischenfall. Das wollte etwas heißen.

Sie wissen schon, was sie an mir haben, hatte Rupert im Stillen frohlockt, ohne dabei den Mund aufzumachen, als er das zerknitterte Blatt Papier in seine Jackentasche stopfte und Ruth einen wissenden Blick zuwarf. Gut gemacht, schien sie ihm zu erwidern, auf meine Unterstützung kannst du rechnen. Als er dann am Folgetag den Pub aufschloss, stand Ivins schon lauernd vor der Eingangstür. Platzte fast vor Stolz, wusste Bescheid, fühlte sich als Komplize. Und Ivins, indem er Rupert jetzt erst recht für einen Auserwählten hielt und sich selbst für Beauforts engsten Kameraden, Ivins strahlte über beide Backen.

Träumte Ruth? Das hatte Rupert sich schon oft insgeheim gefragt, sie aber nie ausdrücklich zu fragen gewagt. Wie stand es um sie? Bereiteten ihr seine Aufträge oder sein Ruf als kaltblütiger, emotionsloser Vollstrecker eigentlich regelmäßig Albträume oder zumindest ab und zu schlaflose Nächte? Setzten diese Vorgänge ihr, der exklusiv Eingeweihten, zu, versetzten sie sie gar in Panik?

Falls ja, hatte sie sich nie etwas anmerken lassen und auch nichts erwähnt. Und wenn Rupert nachts selbst einmal wach lag, hatte er sie betrachtet, wie sie, tief in die Kissen eingesunken, friedlich ruhte, und minutenlang ihre regelmäßigen, tiefen Atemzüge studiert.

Keinerlei Anzeichen von Unruhe, Besorgnis oder echter Furcht. Nichts als tiefe Entspanntheit. Zu seiner großen Erleichterung. War sie jemals schweißgebadet vor dem Morgengrauen aufgewacht oder hatte sich, von Angstzuständen geplagt, an ihn geklammert? Hatte sie ihn jemals darum gebeten, sie zu beschützen? Rupert konnte sich nicht daran erinnern. Wann immer sie sich an ihn schmiegte, schnurrend wie ein Kätzchen, dann stets, um ihre Bereitschaft zum Beischlaf zu signalisieren. Um auf ihre Begierde hinzuweisen, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Was selten genug der Fall war.

Wovon träumte Ruth, was ging in ihr vor? Das fragte er sich auch heute wieder, als er sich den Mund mit der Serviette abtupfte, vom Tisch aufstand, die Hände wusch und seine Schritte in Richtung Haustür lenkte. Es war kurz vor elf. Sie brachte ihn nach draußen, um ihn zu verabschieden und ihm viel Glück zu wünschen. Sagen musste sie das nicht eigens. Aber Rupert konnte ihre Worte dennoch hören. Die Intensität, mit der sie ihn anschaute, unverwandt und fast flehend, ihre fließenden Bewegungen beim Abräumen, die alle nur auf ihn gerichtet zu sein schienen, die Art, wie sie ihm ein flüchtiges Küsschen auf die Wange drückte, als beide den Gartenzaun erreicht hatten, verrieten ihm, dass er sich für immer und ewig ihrer Unterstützung gewiss sein konnte. Mit jeder Faser ihres Herzens liebte sie den Wirt und den Mann in ihm, und sie konnte auch mit dem Henker in ihm leben. Dessen war er sich immer sicher gewesen, heute indessen mehr denn je. Wohl auch, weil er ihre Zuversicht heute mehr denn je benötigte. Es war offenbar doch ein ganz besonderer Tag.

Er nahm sie in den Arm, nicht länger als nötig, denn die Nachbarn schauten zu und würden sofort registrieren, dass er heute wieder einmal früher als sonst das Haus verließ und an der Straßenecke auf den Überlandbus nach Preston wartete, anstatt wie sonst am Nachmittag mit dem Wagen Besorgungen zu machen und seine Einkäufe dann zum Pub zu fahren. Plötzlich sagte Ruth doch etwas. „Man sollte meinen“, bemerkte sie und ließ ihn ihre Körperwärme spüren, „deine Euphorie habe sich in den Jahren ein wenig verflüchtigt. Und doch freust du dich heute wieder wie ein kleiner Junge, nicht wahr?“ Zuweilen hatte sie diese etwas merkwürdige Gewohnheit, sich hochtrabend auszudrücken und ihre Worte sorgsam zu wählen. Sie behauptete oft, eine literarische Ader zu besitzen. Und überhaupt für alles Musische empfänglich zu sein. Wer konnte schon mit Sicherheit sagen, ob das wirklich zutraf?

Rupert stimmte ihr zu. Sie hatte nicht unrecht: Er konnte es in der Tat kaum noch abwarten, auf Reisen zu gehen. Und seine Pflicht zu tun. Die Lust am Hängen, die Lust am Strafvollzug war wieder zu ihm zurückgekehrt. Schon beim Aufstehen hatten sich elementare Bedürfnisse bei ihm zurückgemeldet. Gleichzeitig fiel ihm unwillkürlich auf, nicht zum ersten Mal, dass Ruth neuerdings wieder zur Üppigkeit neigte. Während Rupert, wie sie spöttisch und mit weit weniger anspruchsvollen sprachlichen Wendungen befand, wenn sie abends im Bad nebeneinander standen, seltsamerweise aus nichts als Haut und Knochen zu bestehen schien. „Mein hagerer Hund“, gurrte sie, lachte schelmisch auf, und Rupert feixte.

Dürr, das stimmte, dürr war er schon. Schlaksig und mager, so wie sein Daddy und dessen Bruder. Und das, obwohl er sich ohne Zurückhaltung über jeden Sunday Roast hermachte, den sie auftischte, und sich auch bei den leckeren, kalorienreichen Scones, die zur Tea Time gereicht wurden, gütlich tat. Rupert war es recht so. Dass Ruth diese herrlichen Rundungen besaß, gefiel ihm ungemein, und dass er zur Belohnung verdrücken konnte, was er wollte, ohne jemals auf sein Gewicht achten zu müssen, mindestens ebenso.

„Gute Reise, my love“, hauchte Ruth ihm ins Ohr, löste sich aus seiner Umarmung und wandte sich auf dem Absatz um.

Rupert rief ihr ein „See you tomorrow!“ hinterher, wartete, bis er die Haustür hinter ihr ins Schloss fallen hörte, drehte sich nicht noch einmal um und spazierte die kaum belebte Hauptstraße des Dorfes entlang gemächlich auf die Haltestelle zu.

Schon sah er den Bus von Südwesten herannahen, er war pünktlich. In zwanzig Minuten würde Rupert in Preston sein, dann mit dem Vorortzug nach Manchester weiterfahren und um vierzehn Uhr mit dem Wochenend-Express von der London Road Station in die Hauptstadt reisen. Zweiter Klasse, das war an einem Freitagnachmittag am unauffälligsten. Und mit leichtem Gepäck – Beaufort führte nur eine Aktentasche mit sich, in der sich Füller und Papier, die Wochenendzeitung, ein Regenschirm, Waschzeug und frische Wäsche befanden. Sowie ein weißes Tuch, das er seinem Delinquenten morgen früh wie eine Kapuze über den Kopf ziehen würde.

Ein Gnadenakt, den er stets gern erwies. Einer von vielen. Eine letzte Geste der Schicklichkeit.

Alles würde wie immer sein.

Tagträume gestattete er sich durchaus. Besonders während der langen, schier endlosen Zugfahrten quer durch das Vereinigte Königreich. Mit leerem Blick starrte er aus den verschmutzten Fenstern in die vorbeiziehende Landschaft aus Grün- und Brauntönen und die sich wie in Zeitlupe entfaltenden Städte und Industrieanlagen, nahm die heruntergekommenen Provinzbahnhöfe und die traurig in den Junihimmel ragenden Fabrikschlote nicht wirklich wahr, auch die wartenden und rauchenden Passagiere auf den Bahnsteigen nicht, ignorierte zu- und aussteigende Mitreisende, klappte die Lider herunter, registrierte nichts Bestimmtes um sich herum.