Big Sur

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»The Long and Winding Road«

Der größte Teil der Vergangenheit von Big Sur liegt im Dunkeln. Wenig bis nichts ist aus den letzten zwei Jahrtausenden überliefert; Aufzeichnungen, Erlebnisberichte und Dokumente sind fragmentarisch, ja im Grunde spärlich. Fast hat es den Anschein, als wäre es schon immer eine archaische, von den Zeitläuften unberührte Region gewesen, als setzte seine »echte« Geschichte erst mit dem 19. Jahrhundert ein. Ganz so ereignislos ging es hingegen selbst hier nie zu. Gesichert ist, dass drei Stämme der amerikanischen Ureinwohner, mehrheitlich saisonabhängige Nomaden, hier bereits vor Jahrhunderten ihre Heimat hatten und vorübergehend auch ansässig waren, obschon sie, je nach Jahreszeit entweder ständig auf der Jagd oder auf der Suche nach anderen Nahrungsmitteln, sich nur selten dauerhaft ansiedelten. Von den Ohlone nimmt man an, dass sie in den Gebieten südlich von San Francisco heimisch waren und über die Monterey-Halbinsel bis zum Point Sur vordrangen, während die Esselen im Kernland von Big Sur bis ungefähr zum Big Creek ihre Jagdreviere hatten und die Salinan das untere Drittel des heutigen Territoriums beanspruchten.

An archäologischen Hinweisen auf das Leben und den Alltag dieser indigenen, sehr genügsamen Völker mangelt es nicht; man weiß, dass sie gelegentlich in Dorfverbänden hausten und wohl noch bis zum Eintreffen der Spanier überwiegend unbekleidet umherzogen, sich aber mit Federn und Tierfellen wärmten und schmückten, dass Tätowierung, Körperbemalung und Piercing üblich waren, dass sie, um ihr schwieriges Los zu bewältigen, mit einigem Geschick vorgingen, dass sie handwerkliche Fähigkeiten besaßen und dass sie einfache Hütten und Flöße bauten. Im Winter bevorzugten die Ohlone, manchmal auch Costanoans genannt, und die übrigen beiden Stämme die Küstennähe und ernährten sich von Fischen und Meeresfrüchten, im Sommer zogen sie landeinwärts, um Wild zu erlegen und sich von all dem zu ernähren, was Bäume und Büsche hergaben. Die abweisenden Santa Lucia Mountains bildeten eine natürliche Barriere und blieben auch für sie unüberwindbar, was ihren Radius einschränkte und ihnen, inmitten der wilden und unberechenbaren Natur, extrem harte Lebensbedingungen aufzwang. Echte Feinde, von einigen Wildtieren abgesehen, kannten sie jedoch nicht.

Als die Spanier sich ihrer Jagdgründe bemächtigten, war es mit dem zwar primitiven und rauen, doch auch paradiesischen Dasein ziemlich schnell vorbei. Auf die erzwungene Christianisierung und partielle Ausrottung folgte der Raub des ihnen angestammten Landes durch die Siedler; eingeschleppte europäische Krankheiten führten dazu, dass ein weiterer Teil der Urbevölkerung ausgelöscht wurde; und mit dem einsetzenden Goldrausch, der auch in Big Sur, für eine kurze Phase zumindest, für einen neuerlichen Ansturm von Weißen, diesmal vor allem Hasardeure und Glücksjäger, sorgte, wurde ihnen vollends der Garaus bereitet. Was von den Ohlone, Esselen – von Letzteren waren, über das Land verteilt, wohl einige Hundertschaften hier zu Hause – und Salinan blieb, waren einzelne Ortsnamen; einige ihrer Nachfahren erinnern noch heute an ihre Gebräuche und an ihre Kultur.

Spanische Segler nahmen die Küste Mitte des 16. Jahrhunderts in Augenschein und waren mächtig beeindruckt von »bis zum Himmel aufragenden«, sturm- und meergepeitschten Bergen; an Land ging aber erst 1769 eine von Gaspar de Portolá, dem späteren Gouverneur von Alta und Baja California, angeführte Expedition, vom heutigen San Diego her nahend. Es kam zu einem Gabentausch mit den Ureinwohnern, und bei ersten Erkundungen stellte sich sofort heraus, dass sowohl die wenigen Küstenwege als auch die ins Innere oder in die Berge führenden Pfade schnell unpassierbar wurden und im Nichts endeten. Erst parallel zum Strand, auf den Hängen, kam man stückweise vorwärts, musste aber auch dort resigniert aufgeben. Schließlich gelangten Kundschafter nordwärts doch noch bis nach Monterey, kamen südlich freilich nicht weiter. Portolá und seine Mannen bissen sich an den uneinnehmbaren Steilhängen, Vorsprüngen und felsigen Landzungen die Zähne aus und mussten unverrichteter Dinge wieder ablegen. Big Sur bewahrte sich seine Unabhängigkeit noch für einen kurzen Moment.

Doch dann schlug die Stunde der Missionare. Peu à peu bekam man den sperrigen Küstenstreifen halbwegs in den Griff, gingen ganze Landstriche, die eine halbe Ewigkeit lang ungenutzt geblieben waren, in Kirchenbesitz über. Erste Viehzüchter und Landwirte wagten ihr Glück auf dem nur sehr schwer zu bestellenden Gelände in extremer Hanglage, nachdem die native Americans entweder systematisch vertrieben oder den überall in Kalifornien entstehenden Missionen zugeteilt worden waren, und schon fünf Jahrzehnte später, mit der mexikanischen Unabhängigkeit von 1821, etablierten sich rancheros und ersetzten ihrerseits, mit kleinen, privatwirtschaftlich geführten Farmen, die früheren Bauernhöfe und Miniatursiedlungen der Spanier. Selbst diese Phase, als Kalifornien vorübergehend mexikanische Provinz war, währte nur kurz. Auf die Ausrufung der Unabhängigkeit der Bear Flag Republic 1846 durch mutige, entschlossene Siedler folgten die Annexion, zwei Jahre später der Goldrausch und genau zur Jahrhundertmitte die Aufnahme Kaliforniens als 31. Bundesstaat in die Vereinigten Staaten von Amerika.

Ab den Herbstmonaten des Jahres 1850 wurde damit auch Big Sur Teil der USA. Der Bürgerkrieg spielte sich denkbar fern von hier, wo Sklaverei unbekannt war, im Osten und Süden des Kontinents ab – Big Sur war von den schlimmen Sezessionskonflikten, die der noch jungen Nation in den frühen 1860er-Jahren zusetzten, zum Glück nicht betroffen: Noch immer konnte es als eine von den blutigen Auseinandersetzungen der Neuzeit in Gänze verschonte und zivilisatorisch unversehrte Region gelten. Das wurde zu einem ihrer zentralen Wesensmerkmale. Und sollte auch noch lange so bleiben.

Von den staatlichen Landzuteilungen der Mexikaner, Mitte der 1830er-Jahre erfolgt, waren zwei, Rancho El Sur und Rancho San José y Sur Chiquito, von beachtlichen Ausmaßen gewesen. Nun machten sich darüber hinaus, wo immer es nur möglich war, am Rand der Canyons, in Küstennähe oder am Waldsaum, die homesteaders breit, ländliche Ansiedler, die sich oft mit winzigen Parzellen oder mit nur sehr schwer bestellbaren Flächen in steiler Hanglage begnügen mussten. Ermuntert worden waren sie vom 1862 verabschiedeten Homestead Act, einem Bundesgesetz zum Landerwerb, dem zufolge man nach mehreren Jahren automatisch vom Bewirtschafter zum Eigentümer wurde. Viehzucht war auf dem unwegsamen Gelände lediglich in bescheidenem Ausmaß möglich, einen Garten anzulegen eine gewaltige Herausforderung. Wenig gedieh, und Wetterkapriolen machten Ernten regelmäßig zunichte. Jegliche landwirtschaftliche Aktivität warf, auf Dauer gesehen, nur geringe, bescheidene Erträge ab.

Vor der grimmigen Witterung und bitteren Armut, vor dem mühseligen Dasein und der knochenharten Arbeit unter widrigsten Bedingungen schreckten viele Neugierige ziemlich bald zurück, sobald sie die vermeintliche Traumgegend etwas eingehender unter die Lupe genommen hatten. Nur diejenigen, die leichtfertig, verrückt, zäh oder unternehmungslustig genug waren, die ausreichend Pioniergeist besaßen oder einfach keine andere Wahl mehr hatten, blieben und versuchten ihr Glück. Für die alleinstehenden Männer unter den Farmern und Ranchern, regelrecht zu einem Leben als Sisyphos verurteilt, war es außerdem verdammt schwer, Frauen zu finden, die robust genug waren, ununterbrochen Schwerstarbeit zu leisten, Frauen, die bereit waren, ihre gesamte Energie in ein fast aussichtsloses Unterfangen zu investieren, Frauen, die ihre Kinder ohne Hilfe und in großer Einsamkeit aufziehen mussten. Frauen, die sich mit einem vorwiegend freudlosen, anspruchslosen Dasein zufriedengaben, die selten klagten und im Vorhinein meist gar nicht Bescheid gewusst hatten, was auf sie zukommen würde.

Oft »bestellten« die Männer, die ihren Partnerinnen nichts als Entbehrung, ja Fron zu bieten hatten und selbst auch nicht automatisch hart im Nehmen waren, ihre künftigen Gattinnen aus dem Katalog, indem sie auf Anzeigen von ehelosen, mittellosen Frauen, häufig aus anderen Bundesstaaten und sogar aus dem europäischen Ausland, antworteten. Dann lasen sie die Ahnungslosen, nach deren Einwilligung und Anreise, an einer entlegenen Postkutschenstation auf und beförderten sie auf einer tagelangen, beschwerlichen Fahrt über Stock und Stein zu ihren Ranches und cabins. Auf die schockierten jungen Frauen, denen nun keine Wahl mehr blieb, wartete ein Alltag, der dem einer Magd oder gar einer Sklavin glich. Geschuftet wurde von früh bis spät, die Kommunikation war spärlich, Abwechslung gab es keine, und an Treffen mit weit entlegen wohnenden Nachbarn oder gar an Feste war kaum zu denken. Jene unter ihnen, denen es gelang, sich zu behaupten, sich gegen die Launen der Natur aufzulehnen und sich dem Wahnsinn der Einsamkeit entgegenzustemmen, waren nach einigen Jahren abgehärtet und auch abgestumpft.

Und trotz aller desolaten Umstände zogen Landvermesser von einem Punkt der Küste zum nächsten, auf der Suche nach »geeigneten« Parzellen. Investoren, die die Region wider besseres Wissen als Eldorado anpriesen, trieben ihr Unwesen und trieben auch die Grundstückspreise in die Höhe. Sie versuchten, zahlreiche weitere Kunden anzulocken und ihre Angebote interessierten Unwissenden schmackhaft zu machen, indem sie ihren Vertragspartnern gehörig etwas vorgaukelten und von einer Art promised land schwafelten. Ansonsten waren noch vereinzelte Goldsucher hier und da unterwegs, die sich auch von offenkundiger Aussichtslosigkeit auf Schürferfolge nicht beirren ließen.

Einige wenige unter den Pionierfamilien und Siedlern, darunter auch Europäer wie George Davis, der sich um 1853 hier niederließ und eine Unterkunft errichtete, bevor er sein Terrain fünfzehn Jahre danach wieder an ein Paar von native Americans veräußerte, brachten es mit großem Fleiß und etwas Fortüne schließlich doch zu einem gewissen Wohlstand. Auf ihren Grundstücken gründeten sie Ranches, die, ebenso wie andere markante Punkte in der Landschaft und in Straßennähe, noch heute nach ihnen benannt sind und in Big Sur einen wohlklingenden Namen besitzen. Sie schufen Anlegestellen für Boote oder gruben Tunnels, sie handelten mit Baumrinde oder etablierten Obstplantagen, sie erweiterten Weideflächen und bauten Häuser aus Redwood-Holz. Wie etwa die Pfeiffers, aus Frankreich eingewandert und aufgrund ihrer Gastfreundlichkeit auch überregional beliebt, und die Partingtons, wie die Coopers, die Plasketts und die Prewitts, wie die Posts, die Trotters und die Swetnams. Höhenzüge und Bergrücken, Küsteneinbuchtungen und State Parks bzw. Naturschutzreservate heißen seitdem nach ihnen. Später dann kamen die Junges und die Livermores, die Notleys und die McWays. Und der aus Norwegen geflohene Helmuth Deetjen, auf dessen erste Behausung ein 1939 eingerichtetes und auch weiterhin geschätztes Inn zurückgeht. Alle hinterließen unübersehbare Spuren und schufen, was die Beschaffenheit und die Gestaltung der Region betrifft, Tatsachen. Ihre Nachfahren zählen noch heute zum Urgestein von Big Sur.

 

Die Geschichte der Post Family ist ein hervorragendes Beispiel für eine nun schon mehr als anderthalb Jahrhunderte währende, zuträgliche und gewinnmehrende Siedlungstradition – sie nahm ihren Anfang mit der Ankunft von William Brainard Post aus Connecticut, der, über die See anreisend, als Achtzehnjähriger in Monterey von Bord ging, sich anfangs als Jäger verdingte und sich dabei auf die Grizzly-Pirsch verlegte, dann mit Wildleder Handel trieb und es bis zum erfolgreichen Geschäftsmann brachte. Der ehemalige Yankee und Neu-Kalifornier lagerte Getreide und gründete eine Metzgerei im nordöstlich gelegenen Städtchen Castroville. Aus seiner Ehe mit Anselma Onesimo, durch deren Adern noch Costanoan-Blut floss, gingen fünf Kinder hervor. Nach dem Erwerb größerer Ländereien in Big Sur errichtete er dort ein ansehnliches Häuschen, das heute noch steht und jedem Vorbeireisenden am Highway als Zeuge vergangener Zeiten zuzuzwinkern scheint. Seine Söhne und er hielten Rinder und Schweine und hatten auch beim Obstanbau ein glückliches Händchen. Als Williams und Anselmas jüngster Sohn eine junge Frau namens Elizabeth ehelichte, die von den Cherokee abstammte und zu einer Nachbarsfamilie gehörte, vergrößerten sich Terrain wie Besitz noch einmal erheblich. Eine Generation später folgten auf die Abenteurer und Cowboys unter den Posts die Kleingastronomen und Hoteliers – ihnen oblag die Leitung der Herberge Rancho Sierra Mar mit angegliedertem Café, die Durchreisenden Unterkunft und Einheimischen eine Ausgehmöglichkeit bot. In unseren Tagen nun hat, an die vergleichsweise bescheidene Unterkunft der Post-Vorfahren anknüpfend, das geschmackvolle Post Ranch Inn, eine Luxusherberge aus lauter in der Landschaft verstreuten, rustikalen Chalets, seine Pforten für wohlhabende Touristen und Naturfreunde geöffnet – wirklich umwerfend: mit riesigen Fensterwänden und teils spektakulärer Aussicht (von Baumhäusern oder Terrassen hoch über den Klippen), mit nachhaltiger Ausstattung, auf vorbildliche Weise in die Natur integriert. Eine oder mehrere Nächte hier, inmitten von Kaminfeuern, Edelstahlmöbeln und absoluter Ruhe – Wecker oder Fernsehgeräte sucht man vergebens –, geraten so zu einer Ausnahmeerfahrung, mit der Wohnen in der Wildnis zum Erlebnis wird.

Eine solche generationsübergreifende Erfolgsgeschichte, noch dazu bestimmt von geschicktem Neuerwerb benachbarten Landes in strategischer Lage, können nur wenige Familien in Bezug auf Örtlichkeiten oder Ländereien vorweisen. Charles Henry Bixby gelang mit dem Bau einer Sägemühle im Jahre 1868 und der gewagten Konstruktion eines Aufzugs hinunter zum Meer, der die Verschiffung seiner Erträge ermöglichte, ein ähnliches Kunststück von Vermögenssteigerung und struktureller Landschaftsveränderung zugleich. Der Regelfall aber war, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, das genaue Gegenteil – die Präsenz ärmlicher, ökonomisch unbedeutender Anwesen, die entweder von der Außenwelt abgeschnitten waren oder nur mit einem Planwagen erreicht werden konnten. Schwere Lasten transportierte man unter großen Mühen mit sogenannten go-devils, einspännigen Fuhrwerken, deren Hinterrad zum Ziehen und deren Vorderräder zur extrem langsamen, frustrierend schwerfälligen Beförderung dienten. Big Sur machte seinem Beinamen the last frontier somit alle Ehre – wer sich hierher begeben oder Waren hin- und herschaffen wollte, geriet schnell an seine Grenzen.

Die Klagen über diesen ausgesprochenen Mangel an Transportmöglichkeiten häuften sich, desgleichen die Initiativen, ihn zu überwinden und das Vorwärtskommen auf lange Sicht zu erleichtern. Das Unbezähmbare dieser so besonderen, isolierten Naturlandschaft betrachtete man nicht länger als Wert an sich, sondern als zwar schützenswerte Eigenschaft, die einem Ausbau der Verkehrswege aber nicht grundsätzlich im Wege stehen durfte. Die Hartnäckigkeit, ein solches Vorhaben auch in die Tat umzusetzen, wuchs jedenfalls mit der zunehmenden Unzufriedenheit der Siedler, Bauern und Kleinunternehmer. Und so lässt sich die letztlich geglückte Eroberung des Küstenstreifens, in jüngster Zeit und unter Zuhilfenahme modernster Technologien, auch als Modellfall auffassen, wie aus der als unzulänglich empfundenen Unzugänglichkeit einer Gegend etwas Sinnvolles entstehen kann, das – sich über berechtigte Widerstände hinwegsetzend – sich bis in die Gegenwart zu bewähren versteht. Die Geburtsstunde des Highways hatte geschlagen. Das »Anlegen von Menschenhand«, und sei es auch nur in begrenztem Maße, schien unvermeidlich. Die behutsame Aufhebung des gleichsam gottgewollten Urzustandes schien geboten.

Bixby und Post senior machten 1886 den Anfang. Bixby hatte bereits 1870 einen nur rudimentär vorhandenen Feldweg mit Arbeitskräften, die Plackerei nicht scheuten und Ausdauer an den Tag legten, zu einer Art Straße ausgebaut, auf der Fuhrwerke verkehren konnten und die immerhin von der Carmel Mission bis zum heutigen Bixby Creek reichte. Eine Achtung gebietende Leistung, bedenkt man, dass dem Trupp nur die allereinfachsten technischen Möglichkeiten und Hilfsmittel zur Verfügung standen. Nicht weniger als 23 Brücken zählte die Straße bereits damals. In einem zweiten Schritt nun wurde diese wagon road ausgebessert, umgestaltet, stabilisiert und verlängert, bis der Sycamore Canyon erreicht war. Dabei mussten große Umwege und Kurven ins Landesinnere in Kauf genommen werden, denn die tiefen Canyon-Einschnitte direkt am Meer ließen sich nicht ohne Weiteres überbrücken. Schließlich drangen die beiden unternehmungslustigen Männer bis zum Wohnsitz der Posts vor, der auf dem ehemaligen Gelände des Rancho El Sur lag und sich südlich von der Molera Ranch befand. Auf knapp fünfzig Kilometern ließ sich die Strecke nun, von Carmel in Richtung Süden fahrend, bereisen – sofern einem nicht die Witterung oder Naturkatastrophen einen Strich durch die Rechnung machten. Dass von Zeit zu Zeit auch einmal Versorgungsschiffe, von San Francisco oder aus nördlich gelegenen, kleineren Häfen kommend, an improvisierten Anlegeplätzen Lebensmittel und Waren anlieferten oder im Gegenzug mitnahmen, war für die geplagten Bewohner in den langen Wochen, während derer die Straße gesperrt blieb, nur ein schwacher Trost. Ihre Situation stellte sich im Winterhalbjahr als angespannt und prekär dar.

In Etappen ging es allmählich weiter bis zum Deetjen’s Inn und zum Castro Canyon. Die Pfeiffers eröffneten 1910 einen Ranch Resort, in dem endlich auch zahlende Hotelgäste absteigen konnten, und von dort kam man, auf einer coast ridge road, wirklich nur noch zu Fuß vorwärts oder musste sich reitend auf den anstrengenden Weg machen. Fernziele waren von dort aus der Cone Peak und, mehrere Tagesreisen weiter, endlich San Simeon. Bixby und Post hatten also ganze Arbeit geleistet und der Fortbewegung entlang der Küste enormen Fortschritt beschert, doch noch immer waren der äußerste Süden und der äußerste Norden von Big Sur ohne direkte Verbindung; es gab weiterhin nur zwei Stützpunkte oder »Ortschaften«, die eine, weiter nördlich, am Big Sur River, die andere bei Lucia, westlich vom Cone Peak und südlich des heutigen Esalen Institute. Dementsprechend waren Handel und Austausch beider Ansiedlungen auf entgegengesetzte größere Zentren beschränkt – im Norden orientierte man sich am Carmel Valley und dem Großraum Monterey, im Süden verkehrte man mit Städten im Salinas Valley wie King City.

Erst mit der auf eigene Faust unternommenen Wanderung eines Arztes und Unternehmers kam wieder Bewegung in das Endlosprojekt Straßenbau. Im April 1894 war die S.S. Los Angeles in der Nähe des Point-Sur-Leuchtturms auf Grund gelaufen, und man hatte unter anderen Dr. John L.D. Roberts, einen Bewohner der Monterey-Halbinsel und zugleich auch Gründer des nordöstlich gelegenen Örtchens Seaside, zu Hilfe gerufen, um Überlebende medizinisch zu betreuen. Roberts konnte es kaum fassen, dass er für die kurze Entfernung von knapp vierzig Kilometern sage und schreibe dreieinhalb Stunden mit seinem Pferdefuhrwerk benötigte – was bereits erstaunlich schnell war –, und erkannte, nach erfolgter Rettungsaktion, die Dringlichkeit und absolute Notwendigkeit einer so vernünftigen wie verlässlichen Verkehrsverbindung von Carmel bis zum Leuchtturm, aber eben auch darüber hinaus. Drei Jahre später, 1897, brach er deshalb, gen Süden, zu einem ausgedehnten Fußmarsch von Monterey bis nach San Luis Obispo auf, der mehrere Tage in Anspruch nahm, immer an der Küste entlang, und entwickelte dabei erste konkrete Vorstellungen von Gestalt und Verlauf einer künftigen Straße. Roberts hielt in seinen Notizen die topografischen Besonderheiten und Tücken fest, auch fertigte er Skizzen und Fotos an.

In seinem Bericht, in dem er die prächtigen Naturschönheiten in den Mittelpunkt rückte, die in Zukunft von Abertausenden von Reisenden bewundert und genossen werden könnten, wies er gerade auf die problematischen Abschnitte und Schwierigkeiten hin, mit denen Straßenbauer zu rechnen haben würden, war hingegen, wohl von grenzenlosem Optimismus beflügelt, von der Machbarkeit einer coastal road in den nächsten Jahren überzeugt. Auf lediglich 50 000 Dollar schätzte er die Baukosten. Roberts stand auf Anhieb das große, bislang ungenutzte touristische Potenzial von Big Sur vor Augen; ihm war binnen Kurzem klar, was in dieser Region mit Immobilien und Unterkünften, mit Landspekulation und gastronomischen Einrichtungen eines Tages zu verdienen sein würde. Einen einflussreichen Fürsprecher und tatkräftigen Unterstützer fand er in Elmer S. Rigdon, der als State Senator die südlich von Big Sur gelegene Stadt Cambria vertrat und überdies dem kalifornischen Senatskomitee für Straßen und Highways angehörte. Verblüffenderweise waren es aber nicht die touristischen Vorzüge, mit denen die beiden Männer schließlich Gehör fanden, sondern die militärischen und strategischen: Mit der Erschließung von Big Sur eröffnete sich nämlich, im Falle einer Bedrohung oder eines Angriffs aus dem Westen, eine weitere, geradezu ideale Verteidigungsoption für die kalifornischen Küsten insgesamt. Ausgerechnet dieses Argument gab den Ausschlag.

Die Jahrhundertwende verstrich und noch ein weiteres Jahrzehnt, ein erstes Budget wurde veranschlagt, der öffentliche Zuspruch war ermutigend, doch dann vereitelte der Erste Weltkrieg den Beginn konkreter Baumaßnahmen. Wieder lag das Projekt eine Zeit lang auf Eis, bis man Anfang der 1920er-Jahre, im Zuge des immensen wirtschaftlichen Booms in Kalifornien, die nötigen Mittel bereitstellte und mit Bauunternehmern Verträge in großem Umfang abschloss. Geld floss dabei sowohl aus der Bundes- als auch aus der Staatskasse. Sechzehn Jahre, von 1921 bis 1937, dauerten die langwierigen, gefährlichen und hochkomplizierten Straßenarbeiten, Sprengungen, Brückenkonstruktionen, Grabungen, Begradigungen, Abstützmaßnahmen und Umschichtungen, stets durch neue Hindernisse oder Verzögerungen unterbrochen. Gleich nach dem Baustart, im Dezember 1922, verstarb im Alter von nur 54 Jahren Mitinitiator Rigdon, dem es damit verwehrt blieb, auch nur die Fertigstellung vom Anfang des zukünftigen Carmel–San Simeon Highway mitzuerleben. Zusätzlich zu professionell ausgebildeten Straßen- und Brückenbauern griff man, für die Knochenjobs, auch auf Strafgefangene zurück; viele der hier beschäftigten, ungelernten und nur miserabel bezahlten Zwangsarbeiter entstammten dem berüchtigten San Quentin State Prison vom Nordwestzipfel der San Francisco Bay – die reinste Ausbeutung.

 

In den ersten Jahren tastete man sich vom äußersten Süden von Big Sur in kleinen Etappen voran. Unfälle waren an der Tagesordnung, schwere Gerätschaften wurden oftmals beschädigt oder stürzten in die Tiefe, sintflutartige Regenfälle und Erdrutsche führten zu monatelangen Baustopps. Detonationen schlugen fehl, Opfer waren zu beklagen. Mehr als einmal drohte der Abbruch des gesamten Projekts. Einige besonders heikle Abschnitte stellten die Ingenieure und Sprengstoffexperten vor nahezu unlösbare Probleme. Von 1928 an bewegten sich weitere Crews, sieben Tage in der Woche in mehreren Schichten schuftend, auch vom Norden her an ihre Kollegen heran. Dampflöffelbagger und Dynamit – in rauen Mengen – kamen dabei zum Einsatz; an den Baustellen herrschte unbeschreiblicher Lärm. Die herausgesprengten Trümmer wurden, durch die Wucht der Explosionen, weit in die Canyons geschleudert oder den Ozeanwellen zum Fraß vorgeworfen. Und kaum hatte man, sich aus beiden Himmelsrichtungen unendlich langsam aufeinander zubewegend, endlich einmal wieder ein paar Meilen bewältigt, gerieten die Arbeiten und Sprengungen, die Fluss- und Canyon-Querungen an einer ganz unvermuteten Stelle erneut ins Stocken.

Im Oktober 1932 stand, als eindrucksvoller Beweis für die Beharrlichkeit der Highway-Befürworter, -Promoter und -Enthusiasten, die Bixby Creek Bridge, das Prunkstück unter den insgesamt 32 Big-Sur-Brücken, von denen einige aus Stahl, mehrere aus Beton und wenige aus Holz waren. Wie kein anderes Monument schien sie den Aufbruchsgeist ihrer Entstehungszeit wie auch, metaphorisch verstanden, die Verbindung von Archaik und Moderne, von naturbelassener Idylle und technischer Hochleistungsperformance zu versinnbildlichen. Dann dauerte es noch einmal fünf Jahre, die unglückseligerweise genau in die Elends- und Hungerphase der Great Depression mitsamt ihren schweren sozialen Verwerfungen fielen. Dennoch gelang es den Verantwortlichen, im Rahmen des von Präsident Franklin D. Roosevelt zur Ankurbelung der Wirtschaft beschlossenen New Deal, neue Finanzmittel, im Zuge der groß angelegten Sozialreformen, lockerzumachen.

Mehr als vierzig Jahre nach Roberts’ denkwürdigem Marsch und fünfzehn nach Rigdons verfrühtem Tod war es dann schließlich so weit: Im Juni 1937 konnte man die Fertigstellung des neuen Highway-Abschnitts verkünden und feiern. Noch trug die Straße Roosevelts Namen, noch war sie nicht in voller Länge gepflastert oder geteert. Aber mit ihrem Bau und der darauffolgenden Nutzung brach unwiderruflich eine neue Ära an. Land wurde, auf radikale Weise, neu aufgeteilt und wechselte die Besitzer; Kinder und Enkelkinder der Pionierfamilien traten große Anteile ihres Besitzes an den Staat Kalifornien ab, der im Gegenzug, auf dem Gelände der neu entstehenden Naturparks, Wanderwege anlegte, Campingplätze und andere Unterkünfte errichtete; weitere Inns wurden gebaut; die Grundstücks- und Immobilienpreise schossen in die Höhe; Durchreisende kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der Bekanntheitsgrad der last frontier wuchs und wuchs. Das widerspenstige Big Sur wurde zu einer nationalen und bald auch internationalen Berühmtheit.

Kaum war der Freudenlärm der Jubelfeier verklungen, kaum wurden die ersten neugierigen Autotouristen gesichtet, die von Santa Barbara und Santa Cruz aus anrollten und Big Sur Tagesbesuche abstatteten, kaum hatten die großen nationalen Tageszeitungen über das Ereignis und »Bauwunder« ausführlich berichtet, kaum war die Kunde von der Existenz des »Großen Südens« ins allgemeine amerikanische Bewusstsein gedrungen, da wurden auch schon die ersten kritischen Stimmen unter den Einwohnerinnen und Alteingesessenen laut, brach sich offenes Entsetzen innerhalb der Küstengemeinde über die angebliche Inbesitznahme der Region und über ihren drohenden Ausverkauf Bahn. Man habe Big Sur seine Unschuld geraubt, seine Magie und seine Unverfälschtheit gestohlen, so lautete die Klage, sein Charme laufe Gefahr, zerstört zu werden, hieß es, sein Esprit gehe verloren, sein Mythos sei gefährdet. Von einer »Enttarnung«, die nicht mehr rückgängig gemacht werden könne, von einem zerstörerischen Eingriff in die Natur und von einem Angriff auf die Identität dieser so besonderen Gegend war die Rede. Geheimnisse, die seit Urzeiten gewahrt bleiben konnten, würden nunmehr ohne Not preisgegeben. So manche Nachkömmlinge der Ur-Siedlerfamilien nahmen das Wort »Verrat« in den Mund, bezeichneten harmlose Interessierte sofort als aggressive Invasoren und verfielen gar in Trauer. Sie bekundeten, ihm oder ihr blute schon jetzt das Herz – sie fürchteten, nicht zu Unrecht, einen unkontrollierten Ansturm von Touristen, einen weiteren Anstieg von (diesmal menschengemachten) Naturkatastrophen, ja einen Totalausverkauf.

In den verständlichen Stolz, schon lange vor den jetzigen Bewohnern hier ansässig gewesen zu sein, die verborgene Schönheit »ihrer« Region bereits vor Urzeiten erkannt und zugleich die damit verbundene Unbill jahrzehntelang ertragen zu haben, mischte sich Bitterkeit. Kein Wort indessen verloren sie über die unzweifelhafte Errungenschaft, die dieser neue Highway eben auch repräsentierte, über die Chance, die sich damit für eine umfassend erneuerte, funktionierende Infrastruktur bot, von der auch spätere Generationen profitieren würden, oder über die Erleichterungen – Lebensmittelversorgung, Krankentransporte, weniger umständliche Erreichbarkeit in Notsituationen, allgemeiner Lebensstandard, grundlegende zivilisatorische Errungenschaften, Alltagsbewältigung. Solche Argumente wurden nicht selten mit einem Naserümpfen quittiert, als vermeintlicher, aber keineswegs wünschenswerter »Fortschritt« abgetan oder mit fatalistischen, schwer widerlegbaren Aussagen wie »Das ist jetzt nicht mehr meine Küste« für nichtig erklärt.

Auch wenn zu jenem Zeitpunkt noch wenig Anlass für Panik bestand, war erhöhte Wachsamkeit selbstverständlich geboten. Und dass der Aufschrei der Traditionsbewahrer so früh, gleich zu Beginn der Verfügbarkeit des Highways, erfolgte, hatte natürlich sein Gutes: Keiner Interessengruppe und keinem Bauunternehmen sollte es fortan gelingen, substanzielle Veränderungen an der Gestalt der Küste vorzunehmen oder kommerzielle Ziele durchzusetzen, die mit dem Selbstverständnis der Siedler-Nachfahren unvereinbar waren oder mit den Überzeugungen der residents kollidierten. Von Anfang an organisierten sich die Verantwortungsbewussten unter den Einheimischen in Bürgerinitiativen, um wirksamen Widerstand gegen Ein- und Übergriffe zu leisten, ohne sich dabei wirklich notwendigen Anpassungen an heutige Gegebenheiten zu verschließen. Bundesbehörden, Landesbehörden, Privatleute und Vertreter einzelner communities stritten erbittert um den richtigen Weg zu einer sinnvollen Umweltethik, die den Bedürfnissen vieler gerecht werden konnte. Unter den Vorkämpfern für ein ökologisch überzeugendes, weitgehend naturbelassenes Big Sur waren sowohl Starrsinnige als auch Ideologen, die es gewiss ein wenig zu weit trieben mit der Verteidigung ihrer paradiesischen Heimat und bereits bei Initiativen mit nur geringer Auswirkung gleich Angriffe auf ihre als heilig erachteten Rückzugsorte vermuteten, doch mehrheitlich regierten die Vernunft und, da die Familien vieler Protestlerinnen und Naturschützer ja schon seit einer kleinen Ewigkeit hier ansässig waren, auch der durch Erfahrung gespeiste Sachverstand.

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