Das vernetzte Kaiserreich

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Das wichtigste Zielland waren die USA, die fast 96 Prozent der Auswandernden ansteuerten. Offenbar stellten sie tatsächlich ein Land der Verheißung dar, die Vereinigten Staaten lockten die Menschen aber auch durch die bereits vorhandene deutsche Infrastruktur. Die meisten deutschen Auswanderer steuerten ein Gebiet an, das geographisch grob von New York bis in den mittleren Westen der USA reichte und in dem es bereits viele deutschsprachige Einwohner gab. In Städten wie Cincinnati besaß über die Hälfte der Einwohner einen direkten »deutschen Migrationshintergrund« (und in mehreren nordamerikanischen Städten existierten große deutsche Kolonien). Dass bereits Menschen aus der Heimat vor Ort waren, erleichterte den Neuanfang in einem fremden Land erheblich, zumal gut funktionierende Netzwerke diesseits wie jenseits des Atlantiks die Migration förderten.

Andere Ziele waren Lateinamerika mit Brasilien als zweitattraktivstem Ziel für deutsche Auswanderer (rund 2 Prozent gingen dorthin) und Australien, das etwa 0,9 Prozent der deutschen Auswanderer aufnahm – das waren wesentlich mehr als die Menschen, die in sämtliche deutsche Kolonien auswanderten. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs lebten in Deutsch-Südwestafrika nur gut 12 000 Deutsche, und davon gehörte ein Viertel (fast 3000 Personen) der Beamtenschaft und der Schutztruppe an – Letztere waren also nicht als eigentliche Auswanderer in das Land gekommen.

Der Auswanderung stand immer auch eine Einwanderung entgegen, die zeitgenössisch aber weniger auffiel. Im Kaiserreich lebten immer auch zugewanderte Menschen. 1871 wurden offiziell 207 000 fremde Staatsangehörige gezählt (weniger als 0,5 Prozent der Bevölkerung). Die größte Gruppe, bis zu 50 Prozent, kam aus Österreich-Ungarn, gefolgt von Niederländern, Russen und Italienern. Diese Reihenfolge blieb auch bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs bestehen. 1910 lebten offiziell 1,2 Millionen Ausländer im Kaiserreich, was einer Quote von etwa 1,8 Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach.23

Allerdings wurden Saisonarbeiter und – logischerweise – Illegale nicht mitgezählt. Gerade die sozialdemokratische und gewerkschaftsnahe Presse kritisierte immer wieder, wie niedrige Löhne den Arbeitern aus Italien, Russland, Österreich-Ungarn, aber auch aus Schweden, gezahlt wurden, so dass diese angeblich den einheimischen Arbeitern Lohn und Brot nahmen. »So berichteten wir«, schrieb das sozialdemokratische Berliner Volkblatt am 7. August 1885, »kürzlich noch aus Bayern, daß dort zahlreiche italienische Arbeiter beschäftigt würden, und in Oberschlesien wimmelt es ja bekanntlich von polnisch-russischen Arbeitern.« Vor allem die Lohndrückerei und ein nicht näher beschriebener »schlechter Einfluss« waren Thema des Artikels; gleichwohl beeilte sich der Autor zu betonen, »daß uns ausländische talentvolle und bedürfnisvolle Arbeiter willkommen in Deutschland sind«.24

Saisonarbeiter waren gerade in der preußischen Landwirtschaft wichtige Arbeitskräfte, die meist aus dem Zarenreich und Österreich-Ungarn kamen. Und diese spezielle Migration zog sehr wohl zeitgenössische Aufmerksamkeit auf sich. Weite Teile der Öffentlichkeit und die Regierung wollten vermeiden, dass sich diese Menschen dauerhaft im Kaiserreich niederließen – und das gelang ihnen im Allgemeinen auch. Dass es diese Einwanderer und Saisonarbeiter dennoch gab, belegt jedoch, dass das Kaiserreich verhältnismäßig attraktiv war – dementsprechend übertraf spätestens seit 1900 die Zahl der Einwanderer jene der Auswanderer. Das Kaiserreich war zu einem Einwanderungsland geworden.

Fassen wir zusammen: Die vier Jahrzehnte waren geprägt vom Wachstum der Bevölkerung, die zudem jünger, urbaner und (in Maßen) westlicher wurde. Doch trotz des Wachstums wurden auch Bedenken laut: Die Fertilität ließ nach, die Stadt galt vielen als »ungesund«. Ebenso prägend für die Zeit war die hohe Mobilität der Menschen innerhalb des Landes, aber auch die Auswanderung blieb ein gesellschaftliches Thema: In den 1870ern machte sich das Phänomen weniger bemerkbar, doch in den 1880ern bis Mitte der 1890er war es sehr ausgeprägt und blieb auch danach (in geringem Umfang, aber kontinuierlich) sichtbar und ein stetiges Gesprächsthema.

Einwanderung ins Kaiserreich hatte es ebenfalls immer gegeben, und in den späteren 1890er Jahren begann sie die Auswanderung zu übertreffen, was aber in der Öffentlichkeit nicht oder nur wenig zur Kenntnis genommen wurde. Kritische Blicke wurden eher auf Saisonarbeiter aus dem Osten gerichtet, die die Deutschen nicht dauerhaft im Land haben wollten. Auch die ab den 1880er Jahren vermehrte jüdische Durch- oder Einwanderung aus dem zaristischen Russland wurde eher abgelehnt. Die meisten anderen Zuwanderer hingegen scheinen damals nicht als überlokales Problem wahrgenommen worden zu sein.

Die zweite industrielle Revolution und der internationale Handel

Bei der wirtschaftlichen Entwicklung werden in der Forschung üblicherweise zwei Prozesse für die Zeit des Kaiserreichs hervorgehoben: Strukturwandel und Wachstum. Beide hingen eng mit der sogenannten zweiten industriellen Revolution zusammen, die ab den 1870er Jahren in Deutschland besonders durch den Aufstieg der chemischen und elektrotechnischen Industrie gekennzeichnet ist, aber auch durch Massenproduktion. Deutsche Unternehmen der Elektrotechnik (vor allem Siemens und AEG) und die chemische Industrie (u. a. Hoechst, Bayer, BASF) waren global sehr erfolgreich. Andere Branchen legten ebenfalls zu, darunter der Maschinenbau sowie die pharmazeutische und optische Industrie.

Überhaupt erfassten Strukturwandel, Modernisierung und Wachstum eigentlich alle Bereiche der Wirtschaft, darunter eben auch die klassischen Branchen der ersten industriellen Revolution, die Textil- und Montanindustrie. Gerade Letztere blieb ein wichtiger Faktor im produzierenden Gewerbe. Selbst die Landwirtschaft hatte an dem allgemeinen Trend ihren Anteil; auch sie modernisierte und mechanisierte sich.

Gründe für diesen Aufstieg lagen im systematisch fortentwickelten Know-how, gerade in den neuen Industriezweigen, im gut durchdachten Vertrieb, der modernen Betriebsorganisation und vergleichsweise niedrigen Löhnen. Das betraf zwar nicht alle Branchen gleichermaßen, zieht sich jedoch wie ein roter Faden durch die wirtschaftshistorische Literatur. Möglich waren all diese Entwicklungen nur aufgrund eines intensiven Austausches von Fachwissen und höchst aktiver Nutzung von Kommunikations- und Transportmitteln.

Die Wirtschaft im Kaiserreich (aber nicht nur dort) profitierte allerdings auch durch die Bildung von Industrie- und Branchenverbänden. Das diente nicht allein der Verständigung untereinander bzw. teilweise der Kommunikation mit Kunden und Konsumenten, sondern auch der Interessenvertretung gegenüber dem Staat. 1870 zählte man nur etwa ein Dutzend Verbände in Industrie und Handel, vierzig Jahre später waren es allein in der Industrie bereits rund 500. Dazu kamen zahllose Berufsverbände, teils mit ausgesprochen zahlreicher Mitgliedschaft, etwa bei den Bauern, Handwerkern, Arbeitnehmern und Arbeitern. Handels- und Handwerkskammern gehören ebenfalls in diese Kategorie, obwohl sie öffentlich-rechtliche Einrichtungen sind und gerade im Bereich Handwerk einen gewissen Zwangscharakter besitzen. Obwohl ein Innungszwang in den entsprechenden Gesetzen nicht ausdrücklich vorgesehen war, hatten Betriebe außerhalb der Innungen oftmals einen schweren Stand in der Branche, beispielsweise fehlten ihnen das Recht auf Lehrlingsausbildung und eine korporative Interessenvertretung, so dass ein Beitritt mitunter unumgänglich erschien. Die genaue Anzahl aller Vereine und Verbände ist bislang nirgends festgehalten worden. An Innungen existierten wohl über 10 000 im Kaiserreich, zudem gab es gut 50 Handwerks- und etwa 130 Handelskammern. Als besonders schlagkräftig galten auf Produzentenseite der Centralverband Deutscher Industrieller (1876), der Bund der Industriellen (1895) und der Bund der Landwirte (1893), die es gut verstanden, Regierung wie Öffentlichkeit zu beeinflussen. Auf Arbeitnehmerseite wurden Gewerkschaften immer wichtiger, die zunehmend effektiv die Interessen von Beschäftigten vertraten. So waren 1913 etwa 20 Prozent der Arbeiter organisiert (zumeist in sozialdemokratisch orientierten, doch es gab auch christliche und liberale Gewerkschaften).

Schaut man sich die nationalen Statistiken an, ergibt sich ein dauerhafter Anstieg der Wirtschaftsleistung, der sich in der Kennzahl des Sozialprodukts ablesen lässt: Das Sozialprodukt lag 1871 bei 17,3 Milliarden Mark (in Preisen von 1913) und erreichte 1913 insgesamt 53,7 Milliarden Mark; es hatte sich also verdreieinhalbfacht.25 Die Zahl der Beschäftigten hatte sich erheblich ausgeweitet: Sie war um über 80 Prozent von 17,3 Millionen auf 31 Millionen gestiegen.

Im Schnitt ergab dies eine ›rohe‹ Wachstumsrate von jährlich 2,7 Prozent – bereinigt um die Bevölkerungszunahme entsprach das 1,5 Prozent pro Kopf. Am dynamischsten entwickelten sich die Branchen der Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung, gefolgt von Chemie und Papierindustrie, Metallerzeugung und Metallverarbeitung. Jeder einzelne Beschäftigte war produktiver geworden, was sich auch im durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen niederschlug. Es hatte sich von 420 auf 790 Mark fast verdoppelt (jeweils in Preisen von 1913).

Zwei weitere wichtige Punkte gilt es zu erwähnen: Der Staat, d. h. Reich, Bundesstaaten und Gemeinden, traten erstens als eigenständige ökonomische Akteure immer stärker in Erscheinung. Sie erhoben Steuern und Abgaben, nahmen Kredite auf, investierten, produzierten, konsumierten und beschäftigten immer mehr Menschen. Zweitens machte sich die zunehmende Verflechtung des wirtschaftlichen Geschehens über Staatsgrenzen hinweg bemerkbar. Das Import- bzw. Exportvolumen lag 1872 bei 3,5 und 2,5 Milliarden Mark, 1913 hatte es bereits 10,8 und 10,3 Milliarden Mark erreicht. Damit wuchs allein der Anteil des Exports am Wert der Wirtschaftsleistung von einem Siebtel auf ein Fünftel. Der deutsche Anteil am Welthandel hatte in diesem Zeitraum von 9,5 auf 12,2 Prozent zugenommen.

 

Wer aber waren die wichtigsten Handelspartner des Kaiserreichs? Statistisch nach Ländern sind globale Zahlen erst ab den 1880er Jahren erfasst. Nimmt man vier Stichjahre und sieht auf die jeweils wichtigsten Handelspartner (in Prozent des Volumens), ergibt sich folgendes Bild: Aus Deutschland wurde vor allem nach Großbritannien, Österreich-Ungarn, Frankreich, Russland, in die Niederlande und die USA exportiert. Das waren auch die bedeutendsten Länder, aus denen Waren eingeführt wurden. Die wichtigsten Handelspartner Deutschlands waren also europäische Staaten; der wichtigste Überseepartner die USA, zunehmend auch im Hinblick auf die Einfuhren. Generell deckten die Top Five immer zwischen 50 und 60 Prozent des gesamten Handelsvolumens ab, wobei die Abstände zu den darauffolgenden Partnern nicht allzu groß waren; auch der Handel mit der Schweiz, den Niederlanden, Belgien und Italien war vergleichbar bedeutsam. Was die Importe betrifft, wurden gerade nach der Jahrhundertwende Argentinien, »Britisch-Indien« (heute: Indien, Pakistan, Bangladesch, Myanmar) sowie zum Schluss auch Brasilien wichtig.

Natürlich sagt der Herkunftsort einer Ware nicht unbedingt auch aus, dass sie dort angebaut, hergestellt und verarbeitet worden ist. Beispielsweise sind Belgien und die Niederlande wichtige Bezugsländer für den im Kaiserreich gehandelten Kaffee und Wein, was aber nicht bedeutet, dass beide Länder sich vor 1914 durch ausgedehnte Weinanbaugebiete oder Kaffeeplantagen ausgezeichnet hätten. Vielmehr sind die Nordseehäfen Rotterdam, Amsterdam, Antwerpen dafür verantwortlich, die über Wasserstraßen und Eisenbahn hervorragend mit dem Kaiserreich verflochten waren. Freilich bestanden außerdem enge Handelsbeziehungen zu niederländischen oder belgischen Handelshäusern oder Zwischenagenten. Als Exporthäfen waren die genannten Häfen für deutsche Unternehmen im Übrigen ebenso wichtig.

Auch wenn das lediglich Momentaufnahmen sind, ist zu betonen, dass sich die wichtigsten Handelspartner über Jahrzehnte kaum änderten, lediglich die Reihenfolge verschob sich. Besonders intensiv wurde innerhalb Europas gehandelt – das betraf jeweils etwa zwei Drittel bis drei Viertel des Handels –, doch insgesamt wurden globale Beziehungen wichtiger. Welche Waren importiert und exportiert wurden, veränderte sich zwischen 1871 und 1914 ebenfalls grundlegend. Anfangs spielten Nahrungsmittel und Rohstoffe beim Export noch eine sehr bedeutende Rolle, sanken dann aber insgesamt von einem Anteil von zusammen fast 50 Prozent auf weniger als 25 Prozent. Entsprechend stieg der Anteil von Vorprodukten und Fertigwaren, wobei vor allem Waren aus dem Metall- und Maschinenbau wichtig waren, zunehmend aber auch aus der Elektro- und Chemiebranche.

Importiert hingegen wurden zunehmend Nahrungsmittel und Rohstoffe, während die Anteile von Halb- und Fertigwaren zurückgingen. In absoluten Zahlen legte aber auch der letztere Sektor mengen- und wertmäßig zu, da das Handelsvolumen insgesamt stark anstieg. Der wachsende Anteil des Außenhandels, die Im- und Exportabhängigkeit der Wirtschaft, waren Ausdruck der zunehmenden weltwirtschaftlichen Verflechtung. Besonders stark machte sich das im innereuropäischen Handel und im Geschäftsverkehr mit Nordamerika bemerkbar – Südamerika, Asien und Afrika (das heißt letztlich die europäischen Kolonien) gewannen aber an Bedeutung.

In der Wirtschaftsgeschichte sind dies wohlbekannte Tatsachen, deren Einordnung jedoch eine Reihe Überlegungen erfordert. Zunächst müssen alle Zahlen kritisch betrachtet werden; denn sie spiegeln allein das, was den damaligen Statistikern zugänglich war – vor allem basierten die zeitgenössischen Zahlen auf der Steuerstatistik, und es gab kaum Angaben zur Entstehung des Bruttosozialprodukts. Man kann das schön zusammengefasst bei Carsten Burhop nachlesen.26

Zudem müssen wir unsere Vorstellung von einer in sich geschlossenen nationalen Volkswirtschaft korrigieren, wie es auch schon lange in der Wirtschaftsgeschichte üblich ist. Angesichts der erheblichen regionalen Unterschiede und der sehr verschiedenen Verflechtungsgrade über Staatsgrenzen hinweg, erscheint es ökonomisch wenig sinnvoll, sich nur das Gebiet des Kaiserreichs anzusehen. Beispielsweise ist die Dynamik des Rhein-Ruhr-Gebiets kaum durch einen Blick auf Deutschland allein zu erfassen, sondern die Betrachtung muss die Gebiete von der Nordschweiz bis zur Rheinmündung einbeziehen. Auch der Aufstieg Hamburgs ist ohne Kenntnis von dessen Beziehungen zu Großbritannien und Übersee unverständlich; die oberschlesische Industrieregion wiederum muss im Zusammenhang mit den angrenzenden Regionen in Österreich-Ungarn (Böhmen, Mähren, Galizien) und Russland (Polen) betrachtet werden. Was im Großen gilt, gilt auch im Kleinen: Angesichts der sehr langen Landgrenzen des Kaiserreichs (über 5400 Kilometer) ergaben sich überall sehr vielfältige ökonomische Beziehungen über die Grenzen hinweg, auch wenn das lokale Handelsvolumen im Einzelnen sehr gering gewesen sein mag.

Schließlich stellte sich die Entwicklung aus individueller Sicht und abhängig von einzelnen Branchen und Berufszweigen überaus vielfältig dar. Durchschnittszahlen sagen wenig über die Verteilung des Wohlstandes und kaum etwas darüber, wie sich das für die Bevölkerung von Jahr zu Jahr bemerkbar machte.

In diesem Buch stehen Verflechtung und Vernetzung im Fokus. Vor allem, wenn es in der Forschung um Handel, Welthandel und Globalisierung geht, wird die grundlegende Bedeutung von Eisenbahn, Dampfschifffahrt und Kommunikationstechnik (namentlich Telegraphie, weniger der Post) immer wieder hervorgehoben. Welcher Markt für ein Produkt oder eine Dienstleistung in Frage kam, hing wesentlich von dessen Transport- bzw. Zustellungskosten ab, denn je höher diese im Verhältnis zum Preis des Gutes ausfielen, desto weniger wahrscheinlich war ein geographisch ausgedehnter Markt. Bei verderblichen Gütern war zudem noch die kurze Haltbarkeitsdauer ein begrenzender Faktor; allerdings gab es seit den 1870er Jahren effektive Kühltechnik auf Schiffen. Über Grenzen hinweg spielten Zölle und andere »nicht-tarifäre« Handelshemmnisse wie technische, medizinische und andere rechtliche Vorschriften eine Rolle. Sie konnten tatsächlich Produkte von einem Markt ausschließen.

Aber sobald die Rechnung sich lohnte und keine Vorschriften den Handel verhinderten, waren Staatsgrenzen für Absatzmärkte wenig relevant. So konnte sich auch der Export von Dingen lohnen, die im Kaiserreich zwar insgesamt Mangelware waren, lokal oder regional aber in genügenden Mengen vorhanden waren. Obwohl der Anbau an Getreide den eigenen Bedarf nicht decken konnte,27 weshalb namentlich Roggen und Weizen eingeführt werden mussten, gab es kein Jahr, in dem nicht auch beide Getreidesorten, wenngleich in geringen Mengen, exportiert wurden. Selbst Rohstoffe und Güter, die im Kaiserreich kaum oder gar nicht selbst gefördert, angebaut oder hergestellt wurden, sind sowohl im- als auch exportiert worden. Und damit ist nicht der Transithandel gemeint, der über die zollfreien Enklaven (am bekanntesten die Freihafengebiete in Hamburg und Bremen)28 abgewickelt wurde, denn diese Güter wurden gar nicht in der Ein- und Ausfuhrstatistik erfasst. Unter den gegebenen Bedingungen lohnte sich also zunächst die offizielle Einfuhr, um die Ware dann zu einem späteren Zeitpunkt wieder zu exportieren.

Absatzmärkte waren nicht durch Grenzen bestimmt, sondern durch Kosten-Nutzen-Rechnungen und/oder etablierte Handelsbeziehungen. Von wo oder wohin etwas gehandelt wurde, hing sowohl von der Dichte und Kapazität der Verkehrsnetze ab als auch vom Wissen um aktuell erzielbare Preise. Bei weiteren Strecken kamen vor allem Schifffahrt und Eisenbahn in Frage. Beide Verkehrssysteme waren 1871 bereits recht gut ausgebaut und bildeten internationale Netzwerke. Zu allen Nachbarstaaten bestanden bereits zu Beginn der 1860er Jahre Eisenbahnverbindungen (gen Norden reichten sie bis Flensburg, das bis 1864 dänisch war). Auch der Schiffsverkehr über die wichtigsten Binnenwasserstraßen war längst international geregelt – bereits auf dem Wiener Kongress 1815 hatte man damit begonnen, ausgebaut wurden die Vereinbarungen anschließend in der Donau-Schifffahrts-Acte 1857 und der Rheinschifffahrtsakte 1868. Ähnliches galt für den Verkehr über die Meere. Der Straßenverkehr spielte vor der Motorisierung nur lokal eine Rolle, war jedoch auch grenzüberschreitend angelegt.

Grundsätzlich wurden allerorten die Verkehrswege ausgebaut, die Kapazitäten, Zuverlässigkeit und Frequenzen erhöht und somit Transportkosten für Personen und Güter erheblich vermindert. Parallel dazu waren auch die Kommunikationsnetze ausgebaut und verdichtet worden, so dass Nachrichten nun schnell, zuverlässig und zu angemessenen Kosten befördert werden konnten. Die wirtschaftliche Bedeutung dieser beiden Entwicklungen ist nicht hoch genug zu veranschlagen, lässt sich aber nur sehr schwer beziffern. Offensichtlich ist ihre große Bedeutung für die Zirkulation von Personen und Gütern sowie für die Verbreitung von Wissen. Wirtschaftshistorisch interessant ist der Austausch von Informationen über Preise, die sich unter den Bedingungen sinkender Transaktionskosten überregional und tendenziell auch international aufeinander zubewegten.

Ein bekanntes Beispiel für solche Prozesse ist der Getreidehandel: Produzenten in Deutschland gerieten immer stärker in Konkurrenz zu rumänischen, russischen, nord- und südamerikanischen Getreideerzeugern. Die sinkenden Preise waren für die deutschen Getreideerzeuger schlecht, den Käufern von Brot aber willkommen. Um der Konkurrenz den Marktzugang zu erschweren, erhob das Kaiserreich nach längerer politischer Auseinandersetzung ab 1879 zunächst moderate Importzölle, die später stiegen. Diese künstliche Erhöhung der Getreidepreise zugunsten einheimischer Erzeuger hielt deutsche Anbieter am Markt, aber dafür zahlen mussten letztlich die Verbraucher. Die Maßnahme traf jene besonders hart, die den größten Anteil ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben mussten: Arbeiter und Unterschichten. Die gleiche Strategie verfolgten die Fleischproduzenten, die Mitte der 1890er Jahre effektiv die Einfuhr von Fleisch drosseln konnten. Ab 1900 führte das zu immer spürbareren Preiserhöhungen, und 1905 ging als Jahr der »Fleischnot« in die Geschichte ein.

Die räumliche Erweiterung der Märkte betraf aber keineswegs nur Agrarprodukte, sondern tendenziell alle handelbaren Rohstoffe und Erzeugnisse. Nochmals: Gute Informationsflüsse und günstige Transportkosten eröffneten neue Chancen für Handel und Vertrieb. Dank der erweiterten Märkte wiederum konnten Unternehmen ihre Produktion bis hin zur Massenfertigung ausweiten (wenn die Ware dafür geeignet war). Das wiederum senkte die Kosten pro Stück und ermöglichte eine weitere Ausdehnung des potentiellen Marktes. Diese Chancen wurden durchaus genutzt, und zwar nicht nur von großen Produzenten, sondern auch von Kleinstunternehmern. So ließ der in Apia auf Deutsch-Samoa ansässige Fotograf Alfred James Tattersall (1866–1951), Postkarten mit von ihm aufgenommenen samoanischen Motiven in Deutschland drucken. Obwohl Hin- und Rücktransport mindestens vier Monate dauerten, lohnte sich das, denn das Porto für ein Paket von 1–5 Kilogramm nach Deutschland betrug 2,40 Mark; hin und zurück also gerade einmal 4,80 Mark. Auf Samoa war die Anlieferung seiner qualitativ hochwertigen Postkarten immerhin eine Meldung in der Samoanischen Zeitung wert.29 Der günstige Posttarif bescherte auch dem Versandhandel unerwartete Abnehmer: Der Tropenarzt Ludwig Külz zeigte sich 1902 irritiert darüber, dass Togoer sich aus Katalogen deutscher Versandhändler Konsumgüter bestellten und via Reichspost per Nachnahme zusenden ließen.30

Schnelle und umfassende Informationen kamen auch unmittelbar den Produktionsprozessen, der Betriebsorganisation und den Vertriebsmethoden zugute. Oft vermitteln wirtschaftshistorische Untersuchungen nicht, woher neue Verfahren stammen, sondern verzeichnen lediglich Innovationen und die Modernisierung der Abläufe. Tatsächlich dürfen wir davon ausgehen, dass das Rad nicht ständig neu erfunden wurde. Unternehmer hatten ihr jeweiliges Wirkungsgebiet sowie die Konkurrenz im Blick und suchten dort nach effizienten Lösungen für Produktion, Organisation und Verkauf. Ebenso schauten sie sich nach Marktchancen um. Woher relevante Informationen stammten, war dabei zweitrangig, sofern die Quellen als zuverlässig galten. Das lässt sich gut bei Innovationsprozessen zeigen, die ich im folgenden Kapitel etwas ausführlicher beschreibe. Telefon und Grammophon waren zwei Erfindungen, die auch im Kaiserreich erfolgreich vermarktet wurden. Grammophon und Schallplatte wurden gar zu einem deutschen Exportschlager. Und dabei kam noch ein weiterer Vernetzungseffekt ins Spiel: Der Grundstoff der Schallplatten (Schellack) stammte vornehmlich aus Indien und Thailand und musste daher von dort importiert werden.

 

Das Telefon und das Grammophon waren neu erfundene Produkte bzw. Systeme, doch solche Transferprozesse waren nicht nur bei Innovationen üblich; sie betrafen auch bestehende Produkte oder Verfahren. Neben Techniken schaute man sich auch Produktionsprozesse, Materialien, administrative Verfahren, Vertriebswege, Marketingideen, Personalentwicklung usw. von anderen ab. Wirtschaftshistorisch sind Innovationsprozesse stets aufmerksam untersucht worden, man hat ihren Anteil an der Transformation sowohl ganzer Volkswirtschaften als auch einzelner Branchen gebührend gewürdigt. Während sich aber das Augenmerk vor allem auf die Innovationen an sich sowie auf deren Folgen richtete, widmeten die Historiker den Grundlagen für deren Verbreitung weniger Aufmerksamkeit. Sie wurden vielmehr als gegeben angenommen, zumal sich das Wissen und dessen praktische Umsetzung nicht unbedingt zeitnah verbreiteten.31

Beispielsweise sind in der Landwirtschaft zahlreiche Innovationen nur mit Verzögerung auf den Bauernhöfen angekommen. Neben Kapitalmangel sowie den geringen Kosten menschlicher und tierischer Arbeitskraft waren auch die mangelhafte kommunikative Vernetzung und Infrastruktur dafür verantwortlich. Der Wissenstransfer ging mühsam vonstatten, ebenso wie der Transport und die Pflege von Maschinen kompliziert und teuer waren. Zudem waren viele Anschaffungen nur ab bestimmten Betriebsgrößen ökonomisch sinnvoll. Ein wichtiger Schritt bei der Modernisierung der Landwirtschaft war die Einführung von Kunstdünger. Der deutsche Chemiker Justus von Liebig (1803–1873) hatte das Prinzip künstlicher Düngung bereits 1840 beschrieben, aber erst ab den 1860er Jahren wurde Kunstdünger überhaupt in größeren Mengen verwendet.

Unter den Stoffen, die dafür in Frage kamen (Stickstoffe, Phosphate, Kali als wichtigster Düngegrundstoff usw.), war ab den späten 1880er Jahren der sogenannte Chilesalpeter, ein Stickstoffdünger, beliebt. Dieser Stoff wurde – der Name sagt es schon – fast ausschließlich aus Südamerika eingeführt. Im Jahr 1886 importierte das Kaiserreich rund 180 000 Tonnen, 1895 bereits fast 460 000 Tonnen und 1912 über 810 000 Tonnen (das entsprach immerhin 10 Prozent des im gesamten Kaiserreich verbrauchten Kunstdüngers). Das Beispiel zeigt, wie wichtig das Ineinandergreifen von Wissen und Infrastruktur war. Nicht nur bedurfte es einer funktionierenden Kommunikation zwischen Fachwelt und Praktikern, sondern eben auch eines entsprechenden Transportwesens, um die Erkenntnisse praktisch und wirtschaftlich umzusetzen. Ohne diese Entwicklungen sind die Ertragssteigerungen in der Landwirtschaft nicht zu erklären, wie sie an durchschnittlichen Hektarerträgen oder der Milchleistung je Kuh ablesbar sind. Von 1881 bis 1913 legten die Erträge bei Roggen um vier Fünftel zu, bei Weizen und Kartoffeln um knapp zwei Drittel und bei der Kuhmilch um etwa 15 Prozent.

Die Landwirtschaft erwähne ich exemplarisch, weil sie jener Bereich der Wirtschaft war, der sich am langsamsten wandelte, die geringsten Produktivitätszuwächse besaß und vergleichsweise am wenigsten ›verwissenschaftlicht‹ war. Die wichtigste Rolle bei der Diffusion von Neuerungen spielte »das direkte Vorbild eines mit Erfolg wirtschaftenden Praktikers« (Gunter Mahlerwein). Doch auch dies ist Ausdruck der zunehmenden Vernetzung, denn der erfolgreiche Praktiker war zumeist keineswegs der Urheber einer Neuerung, sondern schlicht der Anwender einer neuen Idee.

Fortschritte in der Landwirtschaft und der zunehmende Handel mit Nahrungsmitteln wirkten sich auch auf die Ess- und Trinkgewohnheiten aus. Man denkt dabei zunächst an Produkte aus Übersee wie Kakaobohnen und Kaffee oder andere exotische Lebensmittel (z. B. Bananen, Ananas); diese Genüsse blieben aber weitgehend den reicheren Haushalten vorbehalten. Auch der Kolonialbesitz ab 1884 spielte keine Rolle, anders als in England, dessen Küche durch indische Currys schon seit dem 18. Jahrhundert beeinflusst worden war. Wichtiger waren für das Kaiserreich Grundnahrungsmittel wie Fleisch, Getreide und Milchprodukte, die nun, wie eben geschildert, unabhängig von Jahreszeiten problemlos über weitere Strecken transportiert werden konnten.

Die entstehende Lebensmittelindustrie ersann zudem Vorprodukte und Fertiggerichte wie Trockensuppen, z. B. jene der Schweizer Firma Maggi ab 1886, die im Jahr darauf ihre fast schon sprichwörtliche Würze herausbrachte. Liebig’s Fleischextrakt als Grundlage für Brühen hatte schon Mitte der 1860er Einzug in die Küchen gehalten, verbreitete sich aber erst in den 1880er Jahren in Form von billigeren Brühwürfeln auch jenseits bürgerlicher Schichten. Andere Nahrungsmittel, die bislang in Deutschland kaum oder nur gering erhältlich gewesen waren, wurden mittlerweile vermehrt von europäischen Handelspartnern bezogen. Aus Italien importierte das Kaiserreich z. B. größere Mengen Olivenöl, Wein und Früchte (getrocknete wie frische); italienische Nudelwaren kamen aus Genua oder Neapel, wurden aber bereits in den 1880er Jahren auch in Deutschland hergestellt.

Grundsätzlich brachten größere ausländische Minderheiten über kurz oder lang auch ihre Ess- und Trinkgewohnheiten mit, die sich dann auch in der Gastronomie vor Ort niederschlugen. Diese Konkurrenzsituation beflügelte insgesamt die Entstehung von später als »typisch« empfundenen nationalen wie regionalen Küchen. Gerade in den Großstädten entstanden regional geprägte Gaststätten, Weinstuben (nach Art bestimmter Weinregionen) und Cafés. Das war übrigens auch eine Folge der ausgeprägten Binnenmigration. Bayerische Brauhäuser (und bayerisches Bier) verbreiteten sich im ganzen Kaiserreich. In Berlin – aber nicht nur dort – konkurrierten sie mit Pilsener und Wiener Bierwirtschaften.

Um 1900 entstanden erste ausländische Speiselokale, namentlich italienische. Oft gingen diese aus Weinhandlungen hervor oder versorgten zunächst vor allem italienische Arbeiter, die besonders im Straßen- und Eisenbahnbau tätig waren. In Hamburg begründete der ehemalige Straßenmusiker Francesco Antonio Cuneo aus Genua 1905 eine Trattoria auf St. Pauli, die bis heute besteht. Eine weitere italienische Innovation waren Eisdielen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Städten West- und Nordeuropas aufmachten. Aus diesem größtenteils eher proletarischen Milieu entwickelten sich auch bürgerliche Speiserestaurants. Ein zeitgenössischer, humoristischer Stadtführer über Berlin merkte zum »Restaurant Unione Cooperativa« an, es sei »national und doch sauber«,32 als seien diese Begriffe im Zusammenhang mit italienischer Gastronomie eigentlich Gegensätze. Daneben wurden französische, russische und sogar ein schwedisches Restaurant aufgeführt. Nebenbei bemerkt orientierten sich die feinen Restaurants und Hotelküchen im Kaiserreich ohnehin an der französischen Haute Cuisine.

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