Das vernetzte Kaiserreich

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Wie bereits erwähnt blieb die Hälfte der Bevölkerung völlig außen vor: Frauen waren von den Wahlen grundsätzlich ausgeschlossen. Von weitreichender Bedeutung ist ferner die Beschränkung auf Männer ab 25, obwohl die Volljährigkeit mit 21 Jahren erreicht war. Insgesamt waren über den gesamten Zeitraum immer etwa 50 Prozent der männlichen Bevölkerung des Kaiserreichs unter 25 Jahre alt und damit nicht wahlberechtigt. Von den potentiell wahlberechtigten Männern schloss das Wahlrecht außerdem all jene aus, die aktiv im Militär dienten, Strafgefangene waren oder Armenunterstützung empfingen. Entmündigte kamen noch hinzu. Insgesamt waren damit noch einmal 6–11 Prozent der potentiell Wahlberechtigten vom Urnengang ausgeschlossen.

Infolge all dieser Bestimmungen waren nie mehr als knapp 20 Prozent der Bevölkerung des Kaiserreichs wahlberechtigt, und davon gaben bei den ersten Wahlen zum Reichstag 1871 nur 51 Prozent ihre Stimme ab. In Zahlen: Der erste Reichstag war von 3,9 Millionen Männern gewählt worden. Bei einer Gesamtbevölkerung von über 41 Millionen entsprach das lediglich 9,5 Prozent der Bevölkerung. 1912 sah es zwar etwas besser aus: Zu diesem Zeitpunkt waren immerhin 14,4 Millionen Männer wahlberechtigt, und fast 85 Prozent davon gaben auch ihre Stimme ab. Doch bei einer Gesamtbevölkerung von bereits etwa 65 Millionen waren auch das nur knapp 19 Prozent der Einwohner des Kaiserreichs.

Wir sehen also, dass de facto immer nur eine Minderheit wählen durfte – aber diese Minderheit nahm ihr Wahlrecht zunehmend in Anspruch. Das weist auf eine anwachsende Politisierung der Bevölkerung ebenso hin wie darauf, dass das Parlament zunehmend als wichtige Institution geschätzt wurde. Geprägt war diese rudimentäre Demokratisierung aber von einer absoluten Diskriminierung der Frauen sowie vom Ausschluss zahlloser junger, bereits volljähriger Männer.

In den Bundesstaaten bestanden mit Ausnahme Badens und Württembergs (die seit 1869 bzw. 1906 das gleiche Wahlrecht auf Landes- wie auf Reichsebene besaßen) mehrheitlich weit restriktivere Wahlrechtsordnungen. Letztere basierten immer auf Besitz, beziehungsweise Wahlberechtigte mussten einkommens- oder grundsteuerpflichtig sein; sie schlossen also noch größere Teile der männlichen Bevölkerung aus als das Reichstagswahlrecht. Am bekanntesten ist das preußische Dreiklassenwahlrecht, das an Steuerleistungen geknüpft war. Zudem stand jeder »Klasse« die gleiche Anzahl an Wahlmännern zu, die dann erst Abgeordnete bestimmten. Das garantierte im preußischen Landtag eine relativ konstante konservative Mehrheit. Forderungen nach Wahlrechtsreformen standen daher in Preußen, aber auch fast jedem anderen Bundesstaat, dauerhaft auf dem Programm der diskriminierten Gruppen, die dieses Ziel aber nie erreichten. Zwar schaffte beispielsweise Sachsen 1910 das Zensuswahlrecht ab, doch es führte gleichzeitig Zusatzstimmen ein: Neben seiner Grundstimme konnte ein Mann durch Ableistung des einjährigen freiwilligen Wehrdienstes, Besitz und Einkommen sowie bei Überschreitung des 50. Lebensjahrs bis zu vier weitere Stimmen auf sich vereinen.

Ebenso restriktiv, wenn nicht noch eingeschränkter, war das kommunale Wahlrecht. Die Regierungen der Städte wurden ebenfalls nach Zensuswahlrechten bestimmt. Steuerpflicht und Grundbesitz waren bestimmende Faktoren. In Köln16 waren auf diese Weise 1871 gerade einmal 5 Prozent der Stadtbevölkerung wahlberechtigt, einige Jahre später wurde diese Zahl durch etwas gelockerte Kriterien auf etwa 7 Prozent erhöht. Erst 1893 wuchs die Zahl der Wahlberechtigten erneut, und weitere Lockerungen bis 1914 führten dazu, dass schließlich fast 100 000 Kölner Männer wählen durften – aber auch das waren immer noch lediglich 15 Prozent der Bevölkerung, und noch immer wurde in drei Klassen gewählt.17

Dazu kam noch, dass Wahlen nicht unbedingt geheim waren; jeder bekam also mit, wer für wen stimmte. Das hatte viele Gründe. Nicht zuletzt wurden keine Wahlzettel vom Staat gestellt, sondern jede Partei druckte ihre eigenen (mit dem Namen des eigenen Kandidaten natürlich). Diese hatten unterschiedliche Farben und Formen, so dass klar war, für wen abgestimmt wurde. In einem ostelbischen Wahlbezirk erhielten bei der Reichstagswahl 1887 Tagelöhner mehrere Kilogramm getrocknete Erbsen, wenn sie konservativ wählten; im Kölner Vorort Rodenkirchen durften sich diejenigen Wähler, die den ›richtigen‹ Wahlzettel (in diesem Fall einer liberalen Partei) genommen hatten, am Ausgang des Wahllokals eine Wurst abholen.18

Die gleichsam öffentliche, aber als geheim bezeichnete Stimmabgabe kennzeichnete besonders kommunale Wahlen, so dass die nicht Wahlberechtigten durch öffentlichen Druck die Wahlentscheidungen der Wähler zu beeinflussen suchen konnten. Aber auch die offiziell geheimen Wahlen zum Reichstag erfüllten das Versprechen nicht unbedingt, da es keine Wahlkabinen gab und die Stimmzettel ja schon deutlich machten, welcher Kandidat damit gewählt wurde. Zudem warfen nicht die Wähler die Zettel in die Urne, sondern der Wahlvorstand.

Wie man es dreht und wendet – Reichstagswahlen waren zwar im Kaiserreich im Vergleich zu den Wahlen in den Bundesstaaten demokratischer, aber alles andere als tatsächlich repräsentativ im heutigen Sinne. Bismarcks Kalkül ging im Übrigen nicht auf: Die erhoffte konservative Dauermehrheit wurde nicht erreicht, vielmehr konnten 1890 die Sozialdemokraten relativ bereits die meisten Stimmen erlangen, erhielten aber aufgrund der Wahlkreiseinteilung im Verhältnis viel weniger Abgeordnetensitze. Erst 1912 stellten sie neben der Stimmenmehrheit auch die relative Mehrheit im Reichstag.

Fehlt als vierte Größe noch der Reichskanzler. Ihm kam eine koordinierende, ausgleichende und leitende Schlüsselstellung zu. Er war der einzige Minister und lediglich dem Kaiser verantwortlich – darin lag seine außergewöhnliche Stärke und gleichzeitig seine Schwäche, da der Kaiser ihn berufen und entlassen durfte. Allerdings konnte der Kaiser nichts ohne den Kanzler verfügen, denn Letzterer musste Regierungsakte gegenzeichnen (Art. 17).

Zudem war der Reichskanzler immer auch Außenminister, Vorsitzender des Bundesrates und üblicherweise preußischer Ministerpräsident (nur von Caprivi verzichtete 1892–94 auf das Amt). Als preußischer Ministerpräsident dominierte er auf vielfältige Weise den Bundesrat, was ihm eine wichtige Stellung garantierte.

Das Reichskanzleramt war neben dem Auswärtigen Amt die erste Reichsbehörde (1871), die zunächst die gesamte Reichsverwaltung übernahm. Aufgrund der wachsenden Zahl der Aufgaben wurden aber alsbald einzelne Ämter ausgegliedert: Das Reichseisenbahnamt entstand schon 1873, das Reichspostamt und das Reichsamt für Elsass-Lothringen folgten 1876, dann kamen 1877 Reichsjustizamt und 1879 das Reichsschatzamt hinzu sowie 1879 das Reichsamt des Inneren – gewissermaßen aus den Resten des Reichskanzleramts. An sich ist das nicht weiter bemerkenswert, es belegt aber die wachsende Unabhängigkeit des Reichs von den preußischen Behörden, wenngleich die Institutionen eng verbunden blieben. Nur zwei weitere Ämter wurden noch gegründet: 1889 das Reichsmarineamt und 1907 das Reichskolonialamt, das aus der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts hervorging.

Erwähnenswert ist noch, dass es kein Militäramt oder Kriegsministerium gab, stattdessen übernahm das preußische Kriegsministerium diese Aufgaben. Die Armee hing ganz vom Kaiser ab, auch wenn sie föderalistisch organisiert war und die sächsischen, bayerischen und württembergischen Kontingente eine Sonderbindung an die dortigen Monarchien hatten. Auch die Personalhoheit lag bis zu einem bestimmten Grad noch bei den drei Königen. Aber in allen anderen Belangen entsprachen die Kontingente den preußischen. Auch stand das Militär außerhalb der parlamentarischen Kontrolle – abgesehen von Budgetentscheidungen –; formal war es ausschließlich der Kommandogewalt des Kaisers unterstellt. Lediglich in Bayern lag der Oberbefehl erst im Kriegsfall beim Kaiser. Das bedeutet keineswegs, dass das Deutsche Kaiserreich eine Art Militärdiktatur war, wenngleich die Armee- und Marineführung großen Einfluss auf die Politik hatten.

Es wurde jedoch nicht alles von Berlin aus geleitet. Die Bundesstaaten waren teilsouverän, sie besaßen eigene Regierungen und Verfassungen. Auch waren sie die ausführenden Organe jeglicher Bundesgesetze. Die Rahmenvorschriften in Zivil-, Handels-, öffentlichem und Strafrecht usw. erließ allerdings das Reich. In der alleinigen Verantwortung der Bundesstaaten lagen weite Bereiche der inneren Verwaltung sowie die Bildungs-, Religions-, lokale und regionale Infrastrukturpolitik. Ebenso blieb die Finanz- und Steuerverwaltung in den Händen der Bundesstaaten. Die Wahrung von Sicherheit und Ordnung (Polizeiwesen) wurde ebenfalls dort geregelt – oft delegiert an die Kreise und Gemeinden. Die Eigenständigkeit der Bundesstaaten hatte für den Alltag der Menschen eine hohe Bedeutung – beispielsweise unterschieden sich die Möglichkeiten der politischen Partizipation (wie schon am Beispiel des Wahlrechts angedeutet), die Vereins- und Versammlungsrechte wurden von liberal bis restriktiv sehr ungleich gehandhabt, und die Reglementierung des Alltags sah je nach Bundesstaat anders aus.

Die Organisationsform des Kaiserreichs war in der Praxis weder autokratisch noch eine »Kanzlerdiktatur« noch eine parlamentarische Monarchie. In der Forschung wird von einer Mischform gesprochen. Hans-Ulrich Wehler beschreibt sie als einen Typus, der »monarchisch-autoritäre Züge mit föderalistischen, parlamentarischen und parteienstaatlichen Elementen verband«.19 Aber alle diese Kennzeichnungen müssen qualifiziert werden. Der Monarch war an das System gebunden wie alle anderen auch, selbst wenn er, wie etwa Wilhelm II., am liebsten als absolutistischer Herrscher geschaltet und gewaltet hätte. Er blieb vom Reichskanzler abhängig, aber auch von Parlament und Bundesrat. Selbst der Kaiser stand nicht über dem Gesetz.

 

Der Föderalismus wiederum krankte zwar an der preußischen Dominanz – beispielsweise war der preußische König gleichzeitig deutscher Kaiser und der preußische Ministerpräsident meist auch Reichskanzler. Im Bundesrat hatte Preußen – wie schon erwähnt – eine Sperrminorität und Möglichkeiten, dieses Gremium zu beherrschen. Aber Berlin bestimmte dennoch nicht in jeder Hinsicht, was in Dresden, Stuttgart, München oder Hamburg zu geschehen hatte.

Das Kaiserreich war von politischen Kompromissen geprägt, es enthielt modernisierende Elemente und autoritäre Charakteristika gleichermaßen. Es war stark preußisch bestimmt, und auf Regierungsebene gaben die persönlichen Beziehungen mit dem zentralen Element Reichskanzler-Kaiser die Richtung vor. Diese politische Ordnung begünstigte zwar die alte Machtstruktur, indem sie Bürokratie, Militär und Diplomatie außerhalb der Kontrollbefugnis des Parlaments ansiedelte, verhinderte aber weder den Aufstieg neuer Eliten noch den der Sozialdemokratie.

Bevölkerungswachstum, Verstädterung und soziale Dynamik

Mit den Angaben zu den Wahlkreisen sind bereits die Bevölkerung und deren Entwicklung angesprochen, auf die ich nun etwas vertiefter eingehe. Nicht nur aus der Forschungsperspektive, auch für die Zeitgenossen war das ein wichtiges Thema: Kein Lexikon, keine Staatenbeschreibung aus jener Epoche kommt ohne Hinweise auf die Bevölkerungsentwicklung aus.

Teils wurde die Dynamik der eigenen Gesellschaft zeitgenössisch daran gemessen, teils die relative Schwäche eines anderen Landes damit begründet. Im Kaiserreich nahm man stets mit einer gewissen Befriedigung wahr, dass die französische Bevölkerungszahl mehr oder weniger stagnierte, während die eigene numerische Überlegenheit jährlich wuchs. Um 1870 besaß Frankreich etwa 36 Millionen Einwohner, bei einem Staatsgebiet, das nur unwesentlich kleiner war als das deutsche. Die Wachstumsrate betrug dort im Schnitt 0,16 Prozent jährlich (1860–1910), so dass es 1914 etwa 40 Millionen Einwohner zählte.

Die Bevölkerung im Kaiserreich dagegen wuchs jedes Jahr um etwa ein Prozent, und so lebten 1914 bereits etwa 65 Millionen Menschen in Deutschland. Im Durchschnitt waren das 1871 etwa 80 bzw. 1913 rund 126 Einwohner je Quadratkilometer – allerdings lebten die Menschen sehr ungleich verteilt. Bei den Flächenstaaten erreichte Mecklenburg-Strelitz 1871 gerade einmal eine Bevölkerungsdichte von knapp 33 Einwohnern je Quadratkilometer, in Sachsen waren es hingegen schon 170. Noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs hatten dieselben Bundesstaaten die rote Laterne bzw. die Spitzenposition inne, dann aber bereits mit 36 bzw. 320 Einwohnern pro Quadratkilometer.20

Warum wuchs die Bevölkerung im Kaiserreich? Und wie verteilte sich diese Bevölkerung auf die Fläche? Bevölkerungen wachsen dann, wenn es – banal ausgedrückt – einerseits übers Jahr gerechnet mehr Geburten als Sterbefälle gibt und andererseits nicht mehr Personen ein Erfassungsgebiet verlassen als zuwandern. Für den gesamten Zeitraum von 1871 bis 1914 gilt die magere Tatsache eines Nettogewinns, während sich die Bevölkerungsverteilung auf der Fläche massiv räumlich veränderte.

Schauen wir uns zunächst die natürliche Bevölkerungsbewegung an. Sie lässt sich in zwei Aspekte gliedern: erstens die Fertilität (also Geburtenentwicklung) und zweitens die Mortalität (also Sterbeentwicklung). Das Bevölkerungswachstum verdankte sich einer abnehmenden Säuglings- und Kindersterblichkeit, aber auch einer abnehmenden Mortalität, d. h., die Menschen starben weniger (früh) an Krankheiten und wurden zunehmend älter. In Zahlen: Die Sterberate sank von 28,3 pro mille (1866–70) auf 16,3 (1909–13) – gegenwärtig liegt sie bei etwa 10 pro mille.

Die Geburtenrate lag 1871 bei 38,5 pro mille und erreichte 1876 einen Höhepunkt von 40,9. Danach sank sie langsam ab und erreichte schließlich 28,6 im Zeitraum 1909–13. Damit gemeint sind im Übrigen nicht die Geburten insgesamt, sondern lediglich die Lebendgeborenen. Es gab jedenfalls zwischen 1871 und 1914 nicht ein Jahr, in dem kein Geburtenüberschuss zu verzeichnen war – dieser schwankte allerdings jährlich. 1871 lag er auf seinem niedrigsten Niveau, um die Jahrhundertwende erreichte er seinen Höchststand.

Die Wachstumsraten lagen zumeist bei über einem Prozent, am höchsten im Jahrzehnt 1896–1905, am niedrigsten im Jahrzehnt 1871–80. Diese statistischen Durchschnittszahlen gilt es etwas aufzuschlüsseln, und zwar nach Regionen und sozialer Herkunft. Interessante Unterschiede finden wir beim Heiratsalter. Das ist deswegen bedeutsam, weil für die wirtschaftliche Situation und den sozialen Status einer Person eine eheliche Geburt wichtig und damit von erheblicher Bedeutung war.

Die hohen Unehelichkeitsquoten der früheren Jahrzehnte nahmen zwar ab,21 doch die Ehen wurden eher spät geschlossen: In den Städten waren die Männer bei ihrer Hochzeit im Schnitt 29 Jahre alt, die Frauen 25,7. Auf dem Land lagen die Heiratsalter bei 27 und 24,5 Jahren. Auch dort gab es aber größere Unterschiede. Gut gebildete Männer heirateten erst jenseits der 30 Jahre, und unter den Frauen traten die Lehrerinnen erst mit durchschnittlich 29 Jahren in eine Ehe ein. Der Lehrberuf gehörte zu den wenigen Berufen mit einer längeren Ausbildung, die Frauen offenstanden und für bürgerliche Frauen als »standesgemäß« gelten konnten. Frauen, die diesen Beruf ergriffen, riskierten durch die Eheschließung zudem, ihre Tätigkeit aufgeben zu müssen. Diese Faktoren zusammengenommen erklären das vergleichsweise hohe Heiratsalter von Lehrerinnen.

Das Alter der Eheleute wirkte sich naturgemäß auf die Kinderzahl aus; späte Heiraten führten dazu, dass die Kinderzahl innerhalb der Ehen sank. Das bemerkten auch die Zeitgenossen. So stieg zwar der Geburtenüberschuss – da die Kindersterblichkeit aus medizinischen, hygienischen und ernährungsphysiologischen Gründen zurückging –, gleichzeitig aber sank die Zahl der Geburten pro Frau: Auf 1000 Frauen im Alter von 15 bis 45 kamen 1890/91 noch 163 Geburten, diese Zahl sank aber bis 1912/13 auf 117. Auch diesbezüglich gab es ein Land-Stadt Gefälle. Dazu kamen konfessionelle Unterschiede: In katholischen Gebieten wurden mehr Kinder geboren als in protestantischen, obschon die Zahl dort später auch abnahm. Dieses Muster zeigte sich generell in Europa. In eher protestantischen, urbanisierten Gesellschaften setzte sich individuelle Geburtenkontrolle früher durch, da der Erziehung des einzelnen Kindes mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Man investierte mehr in die Erziehung und Ausbildung der Kinder, und das Familienideal verschob sich hin zu kleineren Familien. Insgesamt handelt es sich um ein hochkomplexes vielfältiges Phänomen, das an dieser Stelle nur ansatzweise erklärt werden kann. Grob ist jedenfalls erkennbar, dass in ländlichen katholischen Gebieten die Geburten- und Sterbeziffern später sanken als in urbanen, protestantischen Räumen. Es existierte auch ein Ost-West- und ein Süd-Nord-Gefälle.

Für eine Reihe von Zeitgenossen waren dies alarmierende Anzeichen einer sich verändernden Gesellschaft, denn man fand, dass sich die Bürger, d. h. diejenigen, die sich für die Stütze des Kaiserreichs hielten, zu wenig reproduzierten, wohingegen Arme – darunter Arbeiter (potentielle Sozialisten also) – im Vergleich zu viele Kinder bekämen. Dem Rückgrat des Staates, der protestantisch-bürgerlichen Schicht, machte zudem Sorgen, dass Katholiken mehr Kinder hatten. Auf sehr lange Sicht schien dies die protestantische Dominanz zu gefährden. Neben der »Rückständigkeit« von Landvolk und Katholiken allgemein wurde die Großstadt als »Schuldige« am bürgerlichen Geburtenrückgang identifiziert. Und das war deswegen für die Zeitgenossen besonders bedenklich, weil die Urbanisierung im Kaiserreich rasch voranschritt.

Zusammengefasst ergibt sich für die natürliche Bevölkerungsentwicklung das Bild einer steten Zunahme, die in erster Linie der abnehmenden Säuglingssterblichkeit zuzurechnen ist, in zweiter Linie einer sinkenden Sterbeziffer (die Leute waren gesünder und lebten länger als früher). Interessanterweise waren zwar eine sinkende Geburtenrate und Fruchtbarkeitsziffer je Frau zu verzeichnen, da es aber insgesamt mehr Menschen gab, die länger lebten, blieb das Wachstum der Bevölkerung erhalten. Bevölkerungszunahme bedeutet aber auch immer, dass die Gesellschaft insgesamt relativ jung war; zur Zeit des Kaiserreichs waren immer über 40 Prozent der Bevölkerung unter 20 Jahre alt.

Damit sind wir bei der räumlichen Bevölkerungsbewegung und können uns der Binnen-, Fern- und Auswanderung widmen. Die Menschen im Kaiserreich waren – freiwillig oder gezwungenermaßen – erstaunlich mobil. Viele blieben teils nur saisonal an einem Ort, zogen häufig um, bewegten sich vom Dorf in die Stadt und umgekehrt. Auch ein bemerkenswert großer Teil der Auswanderer kehrte wieder zurück ins Kaiserreich; aus den USA soll die Heimkehrerquote bis zu 20 Prozent betragen haben. Das alles hat die zeitgenössische Statistik sorgfältig erfasst, wenngleich unter den national zusammengerechneten Werten die großen lokalen und regionalen Unterschiede ebenso verschwinden wie die sozialen Zuordnungen.

Die Mehrheit der mobilen Personen gehörte den Unterschichten an; sehr viele jüngere Männer wechselten häufig ihren Wohn- und Arbeitsort. »Die Folge dieser riesenhaften Mobilisierung war, dass im Jahr 1907 die Hälfte der Deutschen nicht mehr an ihrem Geburtsort lebten, und ein Drittel außerhalb ihres [Bundes-]Staates oder ihrer Provinz«, hat der Historiker Thomas Mergel errechnet.22 Aus der Mobilität folgte jedoch nicht notwendig die endgültige Loslösung vom Herkunftsort oder der Familie – die saisonale Wanderung und die Rückkehrer deuten das schon an. Unter den verkehrs- und kommunikationstechnischen Bedingungen des Kaiserreichs (kurz: Eisenbahn und Post) konnten Beziehungen auch über längere Entfernungen und dauerhaft aufrechterhalten werden.

Dass sich die Verteilung der Bevölkerung in den 40 Jahren des Kaiserreichs erheblich veränderte, haben wir anhand der Wahlkreise schon gesehen. Als sichtbarstes Phänomen kann die zunehmende Verstädterung der Bevölkerung gelten. 1871 lebte die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung noch auf dem Land, im Dorf oder in sehr kleinen Städten. Die zeitgenössischen Statistiker zogen die Grenze zur »Stadt« bei 2000 Einwohnern. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs hatte sich das Verhältnis fast umgekehrt. Nun lebten 60 Prozent der Menschen in Städten mit über 2000 Bewohnern.

Den Begrenzungen bezüglich der Einwohnerzahl ebenso wie bezüglich der Definition dessen, was »Stadt« meint, muss natürlich Rechnung getragen werden. Es macht sicherlich wenig aus, ob man nun in einer »Stadt« mit 2500 Einwohnern oder in einem »Dorf« mit 1950 Einwohnern lebt. Entscheidend waren die Funktionen eines Ortes und seine Anbindung an die Infrastruktur. Und ein »Dorf« am Rande einer Großstadt hatte wenig mit einem Dorf gemeinsam, das Dutzende Kilometer von der nächsten größeren Stadt entfernt lag.

Der Prozess der Verstädterung ist eindeutiger, wenn man die Orte betrachtet, die als Großstädte bezeichnet werden. In solchen Städten mit 100 000 und mehr Einwohnern lebten 1871 nur knapp 5 Prozent der Deutschen, 1910 waren es bereits über 21 Prozent. Großstädte gab es zu Beginn des Betrachtungszeitraums ganze acht; am Ende waren es 48. Die bevölkerungsreichsten blieben allerdings jene, die bereits zu Beginn am größten waren: Berlin und Hamburg. 1871 folgten Breslau, Dresden, München; 1910 lautete die Reihenfolge München, Leipzig und Dresden. Auffällig ist ferner, dass Agglomerationen entstanden, also Ballungsräume mit dicht beieinanderliegenden (Groß-)Städten. Besonders sichtbar wurde das im Rhein-Ruhr-Gebiet, aber auch die Regionen um Berlin oder Hamburg, das Rhein-Main-Gebiet, Sachsen und das westliche Schlesien verstädterten zusehends.

Wie insgesamt in der Bevölkerungsentwicklung ist auch bei der Urbanisierung ein Ost-West-Unterschied auszumachen. Der Osten blieb ländlicher, besaß weniger Agglomerationsräume, und die Wege vom Dorf in die Stadt waren länger (mit Ausnahmen, versteht sich, z. B. Oberschlesien).

Die Städte wuchsen vor allem, weil sie Wanderungsgewinner waren – Migration führte am Ende häufig in die Stadt, da es dort mehr Arbeit gab und die Löhne höher ausfallen konnten. Ein weiterer und oft sehr gewichtiger Grund war verwaltungstechnischer Art: Eingemeindungen führten zu schlagartigem Wachstum. In Köln kamen z. B. in den Jahren 1888, 1910 und 1914 oder in Dresden 1897, 1902 und 1903 neue Stadtteile hinzu – das war typisch für alle Großstädte. Daher war der Ausbau der regionalen und städtischen Infrastruktur bedeutsam. Die Urbanisierung wurde damit unübersehbar. Jeder konnte sie im Alltag beobachten oder war selbst Teil davon.

 

Die Mobilität der Deutschen äußerte sich auch in häufigen Wohnungswechseln. Das zeigen beispielsweise hohe Umzugszahlen innerhalb von Städten. Die Familie des damals recht bekannten Schriftstellers Julius Lohmeyer (1835–1903), der aus dem schlesischen Neisse stammte, zog zwischen 1880 und 1903 acht Mal innerhalb des Großraums Berlin um. Noch häufiger zogen alleinstehende junge Männer und generell Angehörige der Unterschichten um; besonders in den schnell wachsenden Städten fehlte es überall an Wohnraum, und die Wohnverhältnisse waren mehr als beengt.

Städte waren Laboratorien des Zusammenlebens. In ihnen ergaben sich zahlreiche neue Möglichkeiten. Das betraf nicht allein die Aussicht auf Arbeitsplätze oder Ausbildungsmöglichkeiten und zivilgesellschaftliches Engagement – etwa in Parteien, Gewerkschaften oder Vereinen. Die Kommunen bemühten sich auch oft um bessere Lebensbedingungen und mehr Komfort im Alltag. Sie sorgten für zentrale Gas- und Wasserversorgungen, organisierten die Abfall- und Abwasserbeseitigung, verminderten die Staubentwicklung durch Besprengung der Straßen mit Wasser oder installierten Straßenlaternen. Auch boten Städte ein breiteres kulturelles Angebot, in dem für jeden Geldbeutel etwas dabei war. Aber sie bargen auch Probleme, die durch schnelles Wachstum entstanden waren, etwa mangelhafte Hygiene und Ernährung sowie bedenkliche Wohnbedingungen bzw. soziale Zustände. Die große Choleraepidemie in Hamburg 1892/93 mit 8600 Toten machte das drastisch klar. Hamburgs Frisch- und Abwassersystem war veraltet, und die engen Wohnverhältnisse in Hafennähe begünstigten die Verbreitung von ansteckenden Keimen. Zehn Tage nach dem Ausbruch der Krankheit wurde Robert Koch (1843–1910) in die Hansestadt entsandt und veranlasste dort umfangreiche Quarantänemaßnahmen, zu denen Schulschließungen und das Verbot von Versammlungen gehörten. Erst jetzt wurde in Hamburg der Vorläufer des heutigen Gesundheitsamts der Stadt gegründet, das Hygienische Institut. In dieser Hinsicht hinkte die Stadt der Reichsregierung gewaltig hinterher, die bereits 1876 das Kaiserliche Deutsche Gesundheitsamt ins Leben gerufen hatte, in das Robert Koch 1880 als Geheimer Rat berufen worden war. Es hatte beratende Funktion und sammelte zahlreiche gesundheitsrelevante Daten für das gesamte Reichsgebiet.

Die Urbanisierung war Teil der Binnenwanderung, die aber keineswegs nur in die Städte führte, sondern fast wie ein Kreislauf funktionierte. Sehr viele Menschen verließen im Kaiserreich ihren Geburtsort, um anderswo zu arbeiten und dort gegebenenfalls auch sesshaft zu werden. Viele kehrten aber auch wieder in ihre Heimat zurück. Es gab »Push-Faktoren«, also jene, die die Menschen vertrieben, und »Pull-Faktoren«, die zur Einwanderung in bestimmte Regionen verlockten. Man kann auch sagen, dass auf der einen Seite tatsächliche oder gefühlte Not und Perspektivlosigkeit, auf der anderen tatsächliche (oder gefühlte) Chancen und Perspektiven ausschlaggebend waren.

Beides wirkte bei den Wanderungsbewegungen zusammen. Wichtig war die Nahwanderung vom Land in die nächstgrößere Stadt bzw. in den nächsten Industrieort. Das hatte viel mit den Phänomenen zu tun, die auch für die Auswanderung verantwortlich waren, nämlich Armut, dem Mangel an gut bezahlten Arbeitsplätzen und allgemeiner Perspektivlosigkeit. Auch wenn bereits Bekannte oder Familienangehörige in die fragliche Stadt gezogen waren, mochte das den Aufbruch erleichtern. Dabei spielten der Ausbau der Eisenbahnverbindungen und die abnehmenden Fahrpreise ebenfalls eine Rolle.

Ein auffälliges und gut erforschtes Beispiel ist das Wachstum des Ruhrgebiets. Viele der dortigen Industriestädte verdankten ihr Wachstum der Nahwanderung aus der Umgebung – so wurden aus Dortmund und Essen Großstädte oder aus Industriedörfern Städte. Das Muster des Ruhrgebiets zeigte sich aber auch in vielen anderen Regionen: Generell wuchs die urbane Bevölkerung stärker als die Gesamtbevölkerung. Da die Geburtenraten in Städten teils abnahmen, ist überdeutlich, dass es sich dabei oft um Wanderungs- und Eingemeindungsgewinne handelte.

Generell verschob sich die Bevölkerung allmählich gen Westen. War zu Anfang der 1870er Jahre der Osten noch relativ bevölkerungsreicher als der Westen gewesen, kehrten sich die Verhältnisse alsbald um. Die Zuwachsraten waren ebenfalls unterschiedlich. Der Osten des Kaiserreichs wuchs langsamer als der Westen, d. h., mittelfristig wurde der Westen immer bedeutender. Deutschland (oder besser: die Deutschen) rückten westwärts.

Das zeigte sich schlaglichtartig bei einer Erfassung von Herkunftsregionen aus dem Jahr 1907: Ostdeutschland hatte fast 2 Millionen Menschen verloren. Leichte Verluste hatten Süddeutschland und Mitteldeutschland zu verzeichnen. Größter Nettogewinner war der Raum Berlin/Brandenburg mit einem Zuwachs von 1,2 Millionen Menschen. Westdeutschland war der nächstfolgende Gewinner mit einem Plus von etwa 640 000 Personen. Nordwestdeutschland und Hessen verbuchten leichte Zuwächse.

Zuerst wanderten eher gut ausgebildete Personen von Ost nach West, später waren es zunehmend Arbeiter. Die Ziele waren oft nach Herkunftsorten differenziert: Aus Pommern und Mecklenburg ging man eher in den Hamburger Raum; von den ostelbischen Provinzen aus wurde eher Berlin oder Sachsen angesteuert; seit den 1890er Jahren dann zunehmend das Ruhrgebiet. Während Arbeiter und Unterschichten wanderten, um überhaupt in Lohn und Brot zu kommen, weil es am Herkunftsort kaum und andernorts vermeintlich bessere Chancen gab, war die (zahlenmäßig allerdings sehr viel unbedeutendere) bürgerliche Wanderung oft unmittelbar mit sozialem Aufstieg verbunden.

Das gilt für die Auswanderer ebenso wie für die Binnenmigranten (nah und fern). Insgesamt war die Bevölkerung also mobil, und die Erfahrung einer dynamischen Entwicklung teilten viele Menschen miteinander (zumindest zeitweise).

Die Mobilität machte nicht vor Staatsgrenzen Halt. Die deutschsprachigen Länder waren schon vor 1871 traditionelle Auswandergebiete gewesen. Das beliebteste Ziel waren die USA, alle anderen Länder – auch innerhalb Europas – folgten mit weitem Abstand. Den Ausschlag für eine solche Entscheidung gaben sowohl ökonomische als auch soziale oder politische Gründe, auch diesbezüglich wirkten Push- und Pull-Faktoren zusammen.

Die zweite Hälfte der 1870er Jahre war geprägt von geringerer Auswanderung – den niedrigsten Stand verzeichnete das Jahr 1877, in dem gerade einmal 23 000 Menschen das Land verließen – da die Wirtschaftskrise der 1870er auch die USA erfasst hatte, war ein Neuanfang dort in dieser Zeit kaum verheißungsvoll. Zumeist waren es ganze Familien, die dennoch ihre Heimat verließen, und sie kamen mehrheitlich aus den östlichen Teilen des Landes.

Die Zahlen stiegen nach Ende der 1870er Jahre wieder sprunghaft an und erreichten 1881 den Höchststand im 19. Jahrhundert überhaupt mit über 220 000 Personen, das waren fast 0,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Verglichen mit den Auswandererzahlen der Gegenwart ist das allerdings relativ wenig. Seit den 1990er Jahren lag diese Zahl in jedem einzelnen Jahr immer mindestens um das Zweieinhalbfache höher, auch relativ zur Gesamtbevölkerung betrug sie stets über 0,5 Prozent. Aber kehren wir zurück ins Kaiserreich: Nach 1893 nahm die Auswanderung ab, wofür die sich verbessernde wirtschaftliche Lage im Kaiserreich und eine restriktivere Einwanderungspolitik der USA ausschlaggebend waren. Zudem wanderten nun mehr Einzelpersonen als Familien aus. Zwischen 1871 und 1890 verließen insgesamt 1,9 Millionen Menschen Deutschland; bis 1914 folgten noch einmal rund 900 000. Insgesamt gingen also etwa 2,8 Millionen Menschen ins Ausland.