Das vernetzte Kaiserreich

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Nationale Regelungen, wie die Vereinheitlichung von Maßen, waren maßgeblich durch internationale Übereinkommen angestoßen worden. Und staatenübergreifend wurden sie auch fortentwickelt, wie etwa auf der Internationalen Meterkonvention (Convention internationale du mètre) 1875 in Paris. Alternative Systeme blieben zwar bestehen, wie das englische und das russische, verloren aber global an Boden.

Eine weitere Standardisierung betraf die Zeit. Wenngleich Sekunde, Minute und Stunde schon lange die global vorherrschende Zeiteinteilung waren (jedenfalls dort, wo Europäer und Amerikaner großen Einfluss besaßen), waren die Zeitrechnungen der einzelnen Regionen noch nicht aufeinander abgestimmt. Für die Fahrpläne von Fernzügen war allerdings eine einheitliche Bestimmung der Zeit vonnöten. Solche einheitlichen Zeiten wurden oft als »Eisenbahnzeit« eingeführt und wichen von der Ortszeit teils noch erheblich ab. Während die Ortszeiten sich anhand des Sonnenumlaufs bestimmten, setzte die Eisenbahnzeit (später die »Einheitszeit«) für ein Staatsgebiet bzw. größere geographische Region eine mittlere Zeit fest, die dann überall gleichermaßen galt.

Die Grundlage bildete eine Vereinbarung, die auf einen Vorstoß der nordamerikanischen Eisenbahngesellschaften zurückgeführt werden kann. Auf einer internationalen Konferenz 1884 in Washington wurde eine geographische Einteilung des Globus in 24 Zeitzonen in Ausdehnung von je 15 Längengraden vorgeschlagen. Dabei sollte der Längengrad von Greenwich bei London als Anfangslinie dienen, wie es in der Schifffahrt schon länger üblich war. Je 7 ½ Grad westlich wie östlich davon sollte eine einheitliche Zeit gelten.

Diese Vereinbarung wurde im Kaiserreich mit Inkrafttreten des Gesetzes betreffend die Einführung einer einheitlichen Zeitbestimmung am 1. April 1893 verbindlich und schloss auch jene Gebiete innerhalb der Staatsgrenzen mit ein, die eigentlich außerhalb der Zeitzone zwischen 7°30' und 22°30' östlicher Länge lagen – das betraf eine Reihe von Städten im Westen, unter anderem Aachen, Köln und Straßburg. Nun galt zwischen Aachen und Memel die gleiche Uhrzeit, die Mitteleuropäische Zeit (MEZ).

Maße, Gewichte, Währung, Zeit wurden vereinheitlicht und harmonisiert. Zeit und Währung waren zwar primär innerhalb des Kaiserreichs homogenisiert, fügten sich aber doch in eine europäische und tendenziell globale Ordnung ein. Maßeinheiten wie Meter und Kilogramm sowie die davon abgeleiteten Größen – wie später auch andere physikalische und chemische Einheiten – entsprangen hingegen transnational ausgehandelten Regelungen, die freilich europäisch-amerikanisch dominiert waren. Sie vereinfachten den wirtschaftlichen wie wissenschaftlichen Austausch, erleichterten Vergleiche und sind sowohl Ausdruck als auch Antrieb der Vernetzung.

Diese Wirkung blieb nicht nur auf Expertengruppen beschränkt, sondern griff auch stark in den Alltag aller Menschen ein. Zwischen 1871 und 1875 musste sich die Bevölkerung des Kaiserreichs auf Mark und Pfennig als alleinige Geldeinheiten umstellen. Vertrauten Maßangaben wie Pfund (500 Gramm), Scheffel (50 Liter), Kanne (1 Liter), Schoppen (0,5 Liter) oder Zentner (50 Kilogramm) wurden metrische Definitionen ›untergeschoben‹, so dass der Sprachgebrauch zwar unverändert bleiben konnte, die Angabe aber eine überall gleiche Größe bezeichnete. 1893 schließlich mussten auch die Uhren umgestellt werden.

Diese Veränderungen erfolgten oft recht reibungsarm und hatten den Vorteil, dass sich das Kilo Kartoffeln nun überall gleich bemaß, zwei Meter Stoff überall die gleiche Länge hatten, der Preis sich in leicht vergleichbaren Mark und Pfennig ausdrückte und es 12 Uhr Mittag eben in Aachen und Memel zur gleichen Zeit schlug. All diese Vereinheitlichungen ließen den Nationalstaat enger zusammenwachsen, banden ihn aber auch in eine transnationale Ordnung ein.

Gleichzeitig nahm die Verfügbarkeit von Medien nicht nur zu, sondern diese umfassten bald auch weit mehr als nur gedruckte Schriften. In den 1910er Jahren hatte die Bevölkerung Zugang zu allen möglichen Bildformen, Tonaufzeichnungen und Filmen. Die Medien übermittelten ein unübersehbares Angebot an Information und Unterhaltung; oder anders ausgedrückt: Von kostbaren lateinischen Bibeldrucken bis hin zu pornographischen Postkarten gab es nun alles. Ob Politik, Vereine, Lobbyorganisationen oder Unternehmen – sie erreichten mittels Medien ihre »Zielgruppen«, wie man es heute ausdrücken würde. Nur so konnten sich Menschen effektiv, dauerhaft und auch über große Entfernungen hinweg organisieren.

In den folgenden Kapiteln möchte ich zunächst die räumlichen Grundlagen darstellen, da das Kaiserreich als zentraler mitteleuropäischer Staat über sehr viele Nachbarstaaten verfügte. Das bedeutete auch, dass es breite »Kontaktzonen« mit den Nachbarn gab. Die vergleichsweise sehr offenen Grenzen erlaubten einen intensiven Austausch. Daraufhin befasse ich mich mit dem Ausbau der Infrastruktur, dem Verkehrs- und Kommunikationswesen, sowohl im Hinblick auf transnationale Verbindungen als auch auf die nationale Verdichtung. Den Medien, die eine so wichtige Rolle in allen Vernetzungsprozessen spielen, gehört das anschließende Kapitel. Das Augenmerk liegt dabei vor allem auf den technisch basierten Massenmedien, vom Buchdruck bis hin zu Tonaufzeichnung und Film.

Der politische Wille war für die Grenzziehung des Kaiserreichs verantwortlich gewesen, aber damit gab es noch lange kein Bewusstsein für dieses neue Deutschland, welches ja letztlich ohne historisches Beispiel war. Gleichzeitig mit der Integration im Inneren erfolgte aber auch eine Internationalisierung, die zunächst langsam in Gang kam, dann aber nach 1880 zunehmend dynamisch wurde. Die Nationalbewegung in Deutschland, die 1871 bereits mehrere Generationen alt war, musste und wollte sich der politischen Realität anpassen. Was aber geschah mit den alten regionalen Identitäten? Überhaupt stellte sich die Frage, wo der Einzelne im großen Gefüge stand. Daher werde ich neben der Nationalbewegung die gleichzeitig florierende Heimatbewegung betrachten. Beide kamen – kaum überraschend – ohne moderne Medien nicht aus, um sich zu organisieren und ihre Ideenwelt zu verbreiten. Das fünfte Kapitel betrifft den Kolonialismus und die imperialen Ansprüche des Kaiserreichs, die beide zwar dazu dienen sollten, die nationale Souveränität auf überseeische Territorien auszudehnen, damit aber keinen erweiterten Nationalstaat schufen. Vielmehr wurden auf allzu oft gewalttätige Weise Gebiete in das europäisch dominierte System von Handel und Politik gezwungen, die sich ihm wohl kaum freiwillig und zu diesen Bedingungen und diesem Zeitpunkt angeschlossen hätten.

Anschließend möchte ich anhand zweier Beispiele die Vernetzung von politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren sowie deren Effekte aufzeigen. Die zunehmend vernetzt agierende Polizei und die Frauenbewegung werde ich ausführlicher beschreiben; eine zugegeben etwas willkürliche Auswahl. Ich will aber damit veranschaulichen, dass ein staatlicher Apparat, der wie kaum ein anderer (mit Ausnahme des Militärs) als allein innenpolitisch bestimmt erscheint, ebenso nach »außen« vernetzt war wie eine soziale und politische Emanzipationsbewegung, die ohnehin sehr starke Impulse durch ihre grundsätzlich internationale Ausrichtung erhielt.

Wenngleich die Tatsache massiv zunehmender Vernetzung (und Verdichtung) sich sowohl innerhalb der Grenzen des Staates zeigte, ja, ihn als Nationalstaat erst »erlebbar« machte, als auch transnational bis global niederschlug, dürfen wir das Phänomen nicht einseitig betrachten. Vernetzung erfolgte keineswegs immer allgemein und transnational mit Tendenz zur Globalisierung; sie konnte auch dazu dienen, dass man sich explizit von einem wie auch immer definierten »Außen« abschloss. Gleichermaßen konnte sie den Bürgern Sorgen machen, indem sie den Einzelnen noch unscheinbarer und unsouveräner erscheinen ließ, als er oder sie sich gegenüber dem letztlich anonymen Staat ohnehin fühlte.

Das Fremde rückte durch die Vernetzung dichter heran, ohne dass das übermittelte Wissen seine Fremdheit abzumildern vermochte oder automatisch mehr Toleranz nahelegte. Das Gegenteil konnte die Folge sein – das ließ sich auch im Kaiserreich beobachten. Radikaler Nationalismus sowie Rassismus grassierten gerade ab den 1890er Jahren, und das lag wohl auch und gerade an der gewachsenen Verflechtung des Kaiserreichs mit der Welt. Hinzu kam die Vorstellung, dass sich Nationen und Völker in einer scharfen und tendenziell gewaltsamen Konkurrenz miteinander befänden. Angesichts dessen hatten es Vorstellungen eines friedlichen Wettbewerbs, dessen Ergebnisse letztlich allen zugutekämen, wesentlich schwerer. Dementsprechend blieb auch die Friedensbewegung, die an sich immer international gewesen war, eine Minderheitenangelegenheit im Kaiserreich und anderswo.

1 Wer und was gehörte zum Kaiserreich?
Ein Blick auf die Landkarte

Geschichte findet immer in geographischen Räumen statt, sie sind ein wichtiger Faktor für das Ausmaß und die Verdichtung von Netzwerken sowohl physischer als auch virtueller Art. Die räumliche Ordnung gibt Hinweise auf Möglichkeiten ökonomischer Verflechtungen, bildet aber auch den Rahmen für die Bewegung der Bevölkerung. Diese einfachen Tatsachen dürfen nicht übersehen werden. Das 1871 gegründete Kaiserreich umfasste etwa 540 000 Quadratkilometer. Es reichte vom nördlichen Rheinufer bei Basel im Südwesten bis zur Königsau (heute: Kongeå) in Jütland. Im Westen berührte es den 6. Grad östlicher Länge (bei Aachen, Malmedy und westlich von Thionville in Lothringen), und im Nordosten reichte es bis Eydtkuhnen (heute: Tschernyschewskoje) in Ostpreußen, ein gutes Stück jenseits des 22. Grades östlicher Länge.

 

Grundsätzlich war und ist die geographische Lage des Kaiserreichs und seine Grenzziehung aufgrund der komplexen Form schwer in Worten zu beschreiben. Erst Landkarten erzeugen eine bildliche Vorstellung von einem Staat. Kein allgemeines Lexikon kommt ohne Landkarten aus, so auch die im Kaiserreich verbreitetsten Enzyklopädien von Brockhaus8 und Meyer9. Beide entstanden vor Gründung des Kaiserreichs 1871 und erlebten zahlreiche überarbeitete Neuauflagen. Der Brockhaus kam zwischen 1875 und 1879 in der 12. Auflage heraus; dies ist also die erste, die vollständig im Kaiserreich konzipiert und gedruckt worden war. Beim Meyer war dies die 3. Auflage von 1873–78. Naturgemäß enthielten beide Lexika umfangreiche Artikel über Deutschland sowie für einen Überblick zur geographischen Lage auch Landkarten. Letztere können für die Zeit hohe Autorität beanspruchen und spiegeln das aktuelle gesicherte Wissen jener Zeit wider. Die »Physikalische Karte von Deutschland« der 14. Auflage des Brockhaus (1893–1897) – die also etwa in der Mitte des Zeitraums von 1871 bis 1914 entstand – soll die nun folgenden Überlegungen leiten.


Physikalische Karte von Deutschland, Brockhaus 1893–97. Die Karte verdeutlicht die geographische Lage des Kaiserreichs in Mitteleuropa und die Abwesenheit klarer ›natürlicher‹ Grenzen.

Physikalische Karten stehen selten im Verdacht, politischen Zwecken zu dienen. Dennoch erstaunt es ein wenig, dass die Karte im Westen bis jenseits von Paris reicht und Teile Englands einschließt. Im Osten zeigt sie nicht unerhebliche Teile Österreich-Ungarns. Im Süden sehen wir die Adria und im Norden Dänemark samt Südschweden. Freilich kann das praktische Gründe haben, da die politische Grenze des Kaiserreichs sehr weit im Nordosten lag. Dies machte eine besonders weit nach Osten reichende Darstellung notwendig, die dann bei der üblichen rechteckigen Kartenform den restlichen darzustellenden Raum festlegte. Keinesfalls durch solche Notwendigkeiten zu rechtfertigen ist aber der Umstand, dass die Karte sich nach Süden und Westen so weit ausdehnt. Vielleicht lag dem Pragmatismus zugrunde, falls beispielsweise eine physikalische Karte von Mitteleuropa bereits vorlag, die dann einfach mit den neuen Grenzen des Kaiserreichs überschrieben wurde (doch ein Stichwort »Mitteleuropa« gibt es im betreffenden Brockhaus nicht).

So wird die Karte ungewollt zum Beleg für die gleichsam naturgegebene Vernetzung Deutschlands im Herzen Europas. Im Westen öffnet sich das Kaiserreich zum Pariser Becken, im Osten setzt sich die Tiefebene über die russische Grenze fort; Böhmerwald, Erz- und Riesengebirge gehören sowohl zum Kaiserreich als auch zu Österreich-Ungarn. Etwas klarer sieht es im Norden aus; dort liegen die Nord- und Ostsee, aber Jütland teilen sich das Deutsche Reich und Dänemark. Im Süden bilden die Alpen, die auf der Karte in ihrer Gesamtheit dargestellt werden, einen natürlichen Sperrriegel, der freilich selbst von Staatsgrenzen durchzogen ist. Die Vielfalt der Landschaft und ihrer Beschaffenheit ist augenfällig (wenngleich das für die meisten großen Flächenstaaten nichts Besonderes ist). Doch ohne politische Dimension ist die Karte keineswegs – immerhin enthält sie Ortsnamen, die eine Orientierung ermöglichen, und auch die Grenze ist für das mit der Lupe bewaffnete Auge schwach gestrichelt eingezeichnet.

Dennoch lässt sich der »Physikalischen Karte von Deutschland« etwas mehr entnehmen als lediglich eine zeitgenössische geographische Verortung des Landes in Europa. Deutlich wird nämlich, dass bestenfalls Nord- und Ostsee eindeutigere geographische Grenzen darstellten. Größere Flüsse spielten für die Staatsgrenzen des Kaiserreichs keine Rolle. Denn die Staatsgrenzen (das Kaiserreich besaß über 5400 Kilometer an Landgrenzen) waren aufgrund historischer Entwicklungen entstanden – einige blieben jahrhundertelang recht stabil, etwa die im Westen zu den Niederlanden oder jene im Südwesten zur Schweiz. Andere waren 1871 frisch gezogen worden, vor allem die Grenze zu Frankreich. Die wenigen geographischen Hindernisse, die es gab, also Meere, Gebirge, Flüsse, trennten wiederum die Menschen nicht nur voneinander, sondern waren immer auch Kontaktzonen. Meere ließen sich mit Schiffen (motorisierten zumal) leicht überwinden, Flüsse sind von jeher auch Verkehrswege – sie waren bezüglich der Kapazität dem damaligen Straßenverkehr sogar überlegen. Gebirge schließlich sind von Straßen und Pässen durchzogen.

Diese leicht überwindbaren Barrieren hatten auch Folgen für die Sprachgrenzen, denn wo die Geographie wenige klare Trennungen nahelegt, sind diese notorisch schwer zu ziehen und zudem lebensfremd, da in Grenzzonen stets zwei Sprachräume ineinander übergehen. Deutschsprachige oder einen deutschen Dialekt sprechende Menschen lebten außerdem 1871 auch außerhalb des Kaiserreichs. In der Schweiz und Österreich-Ungarn fanden sich die größten Gruppen. Innerhalb der Grenzen von 1871 gab es zudem dänische, französische, polnische Muttersprachler, um auch diesbezüglich nur die zahlenmäßig wichtigsten Gruppen aufzuzählen. Innerhalb der politischen Grenzen des Kaiserreichs lebten also weder alle »Deutschen« (wie auch immer man diese trennscharf definieren mochte), noch lebten innerhalb des Kaiserreichs nur Deutsche. Die Staatsgrenze definierte zwar einen rechtlichen und politischen Binnenraum, doch war die Grenze durchlässig; die Gebiete diesseits und jenseits davon hatten oft sprachlich, kulturell und ökonomisch viel gemeinsam.

Das Kaiserreich besaß Landgrenzen zu Frankreich, Russland, Österreich-Ungarn, der Schweiz, Luxemburg, Belgien, den Niederlanden und Dänemark. Jenseits der Nordsee lagen im Norden Norwegen (bis 1905 Teil Schwedens) und im Westen Großbritannien. Direkte nördliche Nachbarn über die Ostsee hinweg waren Schweden sowie das Zarenreich (seine finnischen Teile). Mit acht direkten Anrainerstaaten hatte das Kaiserreich die meisten Nachbarn in Europa. Daran änderte sich zwischen 1871 und 1914 nichts.

Veränderungen auf der politischen Landkarte Europas ergaben sich allerdings aus der relativen Schwäche des Osmanischen Reichs an der südlichen Peripherie von Österreich-Ungarn bzw. des westlichen Russlands. Die Separationsbestrebungen im Norden (namentlich die Bildung Norwegens, das zuvor zum Königreich Dänemark bzw. später Schweden gehört hatte) sind für die gesamteuropäische Balance der Mächte wenig relevant. Politische Umwälzungen erfolgten in unmittelbarer Nachbarschaft zu Deutschland nicht. Die Region blieb recht stabil – eine Ausnahme war Russland, aber auch dort kam es erst im Ersten Weltkrieg zur entscheidenden Umwälzung. Das Osmanische Reich war 1871 noch recht präsent auf dem europäischen Kontinent gewesen, doch 1913 sah das schon wesentlich anders aus: Lediglich ein kleiner Rest am Bosporus war noch erhalten geblieben, nachdem u. a. Serbien, Griechenland, Rumänien, Bulgarien und Montenegro von den Osmanen unabhängig geworden waren. Der Südosten Europas war also stark in Bewegung während der gesamten Existenz des Kaiserreichs. Das wirkte sich stark auf die Außenpolitik aus, denn mit Österreich-Ungarn und Russland waren zwei der wichtigsten Nachbarstaaten des Kaiserreichs unmittelbar in der Region engagiert und in einen dauerhaften Konflikt verstrickt. Im Westen hingegen bildete Elsass-Lothringen den neuralgischen Punkt, weil dessen Annexion durch das Kaiserreich in Berlin wie Paris – wohl auch von vornherein – als dauernder potentieller Kriegsanlass gesehen wurde.

Aus dieser Grundkonstellation lassen sich einige Folgerungen ableiten: Zunächst ist die Offenheit des deutschen Staatsgebiets nach allen Himmelsrichtungen zu betonen, die von vornherein einen Austausch von Menschen, Gütern und Ideen begünstigte. Aber unter Umständen rief das auch Gefühle von Bedrohung und Verletzbarkeit hervor. Ostsee und Nordsee waren wichtige Verkehrsräume; gerade die Nordsee war das Tor nach Übersee (schon vor den kolonialen Bestrebungen des Reichs). Die geopolitische Lage legte gute nachbarschaftliche Beziehungen eigentlich nahe, zumal das Kaiserreich zu einer immer wichtigeren Exportnation wurde. Relativ entspannt war sein Verhältnis zu den kleineren Nachbarn, aber auch zu Österreich-Ungarn.

Problematischer entwickelten sich seine Beziehungen zum Zarenreich und zu Großbritannien, die in Deutschland als grundsätzliche Konkurrenten wahrgenommen wurden; dauerhaft konfliktträchtig war das Verhältnis zu Frankreich oder besser: zur französischen Krone, schon seit dem 17. Jahrhundert. In Erinnerung war noch die Rheinkrise von 1840, bei der französische Forderungen nach einer deutsch-französischen Grenze entlang des Stroms zu einer großen politischen Krise geführt hatten. Die populären Kompositionen »Die Wacht am Rhein«10 und das »Lied der Deutschen«11, die aus patriotisch-nationalbewegten Motiven entstanden waren, blieben auch im Kaiserreich oft gesungene Lieder. Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 und die anschließende deutsche Annexion Elsass-Lothringens verschärften diesen Konflikt nun wieder. Aber ungeachtet der politischen Spannungen blieben die großen Nachbarn die wichtigsten Handelspartner, und besonders Richtung Westen verflochten sich Transportwesen und Kommunikationsnetz über die Staatsgrenzen hinweg.

Ein Kaiser, viele Landesherren: Die politische Ordnung des Deutschen Reichs

Moderne Staaten definieren einen Binnenraum, der politisch und rechtlich klar »innen« von »außen« trennt. Laut der Reichsverfassung von 1871 bestand das Reichsgebiet aus den folgenden Staaten: Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Mecklenburg-Schwerin, Sachsen-Weimar, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, Braunschweig, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Coburg-Gotha, Anhalt, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, Waldeck, Reuß ältere Linie, Reuß jüngere Linie, Schaumburg-Lippe, Lippe, Lübeck, Bremen und Hamburg.12 Das waren insgesamt 25 Bundesstaaten. Elsass-Lothringen wurde erst 1911 zum 26. Bundesstaat. Vorher hatte es den rechtlichen Status eines »Reichslandes«, war also unmittelbar den obersten Reichsbehörden unterstellt mit dem Kaiser als Landesherrn.

Diese Bundesstaaten waren von extrem unterschiedlicher Größe und entsprechend im politischen System unterschiedlich gewichtet. Preußen war mit 348 000 Quadratkilometern Fläche (64 Prozent) und 24,7 Millionen (60 Prozent) Einwohnern 1871 bei weitem der größte der Bundesstaaten. Auf Platz zwei folgte mit großem Abstand Bayern mit 75 000 Quadratkilometern (14 Prozent) und 4,9 Millionen (12 Prozent) Einwohnern. Alle anderen Länder waren noch kleiner. Das Kaiserreich war also immer – an den Grundverhältnissen änderte sich bis 1918 nichts – zu etwa zwei Dritteln preußisch.

Allerdings waren auch die größeren Bundesstaaten keine monolithischen Blöcke. Preußen bestand aus 13, ab 1881 mit Herauslösung Berlins aus Brandenburg, dann 14 Provinzen (diese wiederum waren unterteilt in 36 Regierungsbezirke). Territorial untergliedert waren daneben noch Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen und Elsass-Lothringen. Diese politischen Zwischeneinheiten besaßen unterschiedlich ausgeprägte Zuständigkeiten und Grade an Autonomie. Das soll nochmals unterstreichen, dass das föderale Prinzip nicht allein das Kaiserreich insgesamt strukturierte, sondern auch dessen Glieder.

Diese geographische, ökonomische oder demographische Bedeutung spiegelte der Bundesrat, an sich das wichtigste Organ der Verfassung, allerdings nicht wider. Der Bundesrat war die erste Kammer des Parlaments. Er wurde nicht von Staatsbürgern gewählt, sondern setzte sich aus Regierungsvertretern der Bundesstaaten zusammen. Im Bundesrat waren 58 Delegierte vertreten, von denen lediglich 17 (30 Prozent) auf Preußen entfielen. Das entsprang dem Kompromiss, aus dem die Reichsgründung erfolgt war, und politischer Rücksichtnahme auf die vormals unabhängig regierten Bundesmitglieder, die sich an der Zeit des Deutschen Bundes 1815–66 orientierte. Gewissermaßen wurde damit der Freiwilligkeit des Zusammenschlusses Rechnung getragen. Da Abstimmungen im Bundesrat mit einfacher Mehrheit stattfanden, suggerierte das, die anderen Bundesstaaten könnten Preußen leicht in Schach halten. Aber Art. 78 der Verfassung legte fest, dass konstitutionsändernde Gesetze vom Bundesrat mit 14 Stimmen abgelehnt werden konnten (d. h., lediglich Preußen konnte diese im Alleingang ablehnen). Zudem wurde der größte Bundesstaat noch auf verschiedentlich andere Art privilegiert, so dass er faktisch doch den Bundesrat kontrollierte. Ausnahmen waren Angelegenheiten, die verfassungsmäßig nicht alle angingen. Dabei durften nur jene abstimmen, die direkt betroffen waren.

 

Die politische Ordnung des Reichs verknüpfte unterschiedliche Traditionen. Die teils altertümliche patrizische Ordnung der Hansestädte und die leidlich erstarrte preußische, die konservative sächsische sowie die liberal geprägte südwestdeutsche mussten miteinander in Einklang gebracht werden. Die Ordnung, die 1871 ins Leben gerufen wurde, war aus Gewalt (und Siegeseuphorie) entsprungen und übernahm Bausteine aus der politischen Struktur des Teilstaates, der auch die Hauptlast des Deutsch-Französischen Kriegs getragen hatte. Mit anderen Worten: Preußen. Grundlage des neuen Staatswesens bildete indes nicht die preußische Verfassung, sondern die Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867.

Es war eine föderale, konstitutionelle Monarchie, die in allgemeinen Prinzipien »westlicher« politischer wie staatsphilosophischer Art wurzelte. Männerwahlrecht, Gewaltenteilung, Zwei-Kammern-System, Parlamentarismus usw. waren Standards fast aller sich modernisierenden Territorialstaaten jener Zeit. Das entsprach auch der politischen Ordnung vieler Nachbarstaaten Deutschlands, freilich mit unterschiedlich gewichteten Kompetenzen der Verfassungsorgane und Partizipationsmöglichkeiten der Staatsbürger.13 Als wahlberechtigten »Staatsbürger« stellte man sich stets einen erwachsenen Mann vor, der zumeist auch über ausreichend Besitz und/oder Einkommen verfügte. Innerhalb Europas erlangten Frauen überhaupt nur in Finnland (1906) und in Norwegen (1913) vor dem Ersten Weltkrieg das Wahlrecht. Und das finnische war letztlich nur ein regionales Frauenwahlrecht – es bezog sich lediglich auf diesen autonomen Teil des Zarenreichs.

Was für ein Staat wurde nun durch die Verfassung von 1871 geschaffen? Nach Hans-Peter Ullmann war das Kaiserreich ein Verfassungsstaat, ein Rechts- und ein Verwaltungsstaat, schließlich auch ein Militärstaat und in Ansätzen ein Parteienstaat – darin glich es fast allen europäischen wie nord- und südamerikanischen Staaten. Ihm fehlte aber ein mächtiges Parlament, das die Regierung wählte oder abwählte (Parteien konnten daher Maximalforderungen stellen – da sie niemals in Regierungsverantwortung kamen, wurden sie nicht daran gemessen). Die Justiz war ein wichtiges Element des Staates – das öffentliche wie private Leben war verbindlich reglementiert, Rechtsmittel konnten eingelegt werden, der Instanzenzug war definiert und funktionstüchtig. Die Gesetzgebung lag in Händen zweier Kammern, Parlament und Bundesrat. Das Parlament hatte zwar (wenngleich begrenzt) Budgetrecht, kontrollierte die Regierung aber nicht. Dennoch waren das durchaus Voraussetzungen für eine demokratische Struktur. Vieles hing von der tatsächlichen Praxis ab.

Das Regieren im Kaiserreich war im Wesentlichen von vier Elementen bestimmt: Kaiser, Bundesrat, Reichstag und Reichskanzler.14 Der Kaiser war das Oberhaupt des Staates. Er musste aus dem Hause Hohenzollern stammen, daher handelte es sich um eine Erbmonarchie. Der Kaiser vertrat das Reich nach außen; er berief Reichstag und Bundesrat ein und hatte das Recht, beiden Häusern die Vertagung einer Sitzung oder die Schließung zu verordnen. Die Auflösung des Reichstages verfügen durfte er indes nur nach Beschluss des Bundesrates. Er berief auch den Reichskanzler und war in der Gesetzgebung die letzte Instanz (er verkündete die Gesetze und sorgte für deren Ausführung).

Der Kaiser war zudem Oberbefehlshaber der Armee und Marine – als solcher ernannte er Admiräle sowie Generäle und hatte Einfluss auf alle Offiziersstellen. Gleiches galt formal für die Reichsbeamten. Art. 68 gab ihm sogar die Befugnis, den Kriegszustand über Teile des Reichs zu verhängen, in denen die öffentliche Sicherheit gefährdet erschien. Ob und inwiefern der Kaiser sich mit dem Kanzler beriet oder eher auf seine eigenen Berater setzte – wie es vor allem Wilhelm II. (1859–1941) tat –, blieb dem Monarchen überlassen.

Da die Verfassung eine Bundesverfassung war, die souveräne Fürsten beschlossen hatten, kam dem Bundesrat eine wichtige Stellung zu. Erstens war er der eigentliche Sitz der Souveränität, denn er war ein Bund gleichgestellter Herrscher. Zweitens hatte er auch das Recht, Gesetze vorzuschlagen, die sogenannte Gesetzesinitiative. Drittens waren alle Gesetze an die Zustimmung des Bundesrats gebunden, und viertens stand dem Bundesrat zu, eine Auflösung des Reichstages anzuregen. Aus Sicht der Verfassungsväter sollte bei ihm also das Schwergewicht der Entscheidungen liegen.

Dagegen war der Reichstag ›nur‹ eine gesetzgebende Versammlung. Er verfügte zwar über das Budgetrecht – allerdings mit weitreichenden Ausnahmen, was das Militär betraf (und das betraf einen großen Teil des Budgets). Ferner war ihm jegliche Kontrolle der Regierung versagt, da der Kanzler, de jure der einzige Minister im Staat, vom Kaiser berufen wurde und keinerlei Bestätigung durch das Parlament bedurfte. Die Leitung der Reichsämter wurde Staatssekretären übertragen, die dem Reichskanzler unterstanden. Nicht Parteien stellten Regierungen, sondern das Parlament wurde mit Reichskanzlern und deren Kabinetten konfrontiert, die wechselnde Mehrheiten suchten, wenn es um die Durchsetzung von Maßnahmen oder Gesetzen ging.

Allerdings wurde der Reichstag in freier, geheimer und allgemeiner Wahl durch alle Männer ab 25 Jahren bestimmt. Die Legislaturperiode war zuerst dreijährig, ab 1888 fünfjährig. Wenngleich das Parlament also durch Kaiser, Bundesrat und Regierung beschränkt war, wuchs ihm über die Gesetzgebungskompetenz doch immer mehr Entscheidungsbefugnis zu, denn zunehmend wurden Bereiche des öffentlichen wie privaten Lebens per Gesetz geregelt. Ebenso wuchs der Finanzbedarf des Reichs stetig, so dass das Parlament immer stärker einbezogen wurde. De facto konnten die Reichskanzler nicht gegen den Reichstag regieren – sie mussten sich um Mehrheiten bemühen und Zugeständnisse an jene Parteien machen, die für die Mehrheiten sorgten. Die wachsende Bedeutung des Parlaments nahmen auch Interessenverbände und Parteien wahr, die sich darauf ausrichteten und sich professionalisierten.

Was zunächst widersprüchlich aussieht, ist das damalige Wahlrecht. Wie kam es – anders als in allen Bundesstaaten (mit Ausnahme Badens) – zu einem allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht aller Männer ab 25 anstelle des preußischen Dreiklassenwahlrechts, das stets für komfortable konservative Mehrheiten im preußischen Landtag sorgte? Das entsprang Bismarcks Kalkül der späten 1860er Jahre. Erstens konnte er so den Eindruck vermeiden, dass er einfach nur preußische Regelungen auf das Kaiserreich ausweite, zweitens war bereits die Verfassung des Norddeutschen Bundes mit diesem Wahlrecht versehen, die die Grundlage der Reichsverfassung bildete. Drittens rechnete er damit, dass die ländlichen, konservativen Wähler die liberalen Städter dominieren würden. Das Parlament, das er ohnehin als zweitrangige Kraft sah, wäre damit eher sein Verbündeter gegen liberale Kräfte als ein Gegner.

Die von Bismarck festgelegte Wahlkreiseinteilung, die bis 1918 bestand, ist ein zusätzlicher Beleg für seine Strategie. So wurden 1871 zunächst 382 Wahlkreise festgelegt (dazu kamen 1873 weitere 15 Wahlkreise für Elsass-Lothringen).15 Die Wahlkreiseinteilung sollte eine Einwohnerschaft von 100 000 pro Wahlkreis spiegeln. Die Daten beruhten aber auf Volkszählungen von 1864, und bis 1918 wurde auf der einmal geographisch festgelegten Einteilung beharrt. Dabei hatte sich die Zahl der Wahlberechtigten in den einzelnen Wahlkreisen stark verändert. Dementsprechend gab es 1912 reichsweit zwölf Wahlkreise mit weniger als 75 000 Einwohnern, der kleinste Wahlkreis war das Fürstentum Schaumburg-Lippe mit nur 46 650 Einwohnern. Dagegen standen aber auch zwölf Wahlkreise mit mehr als 400 000 Einwohnern. Der größte Wahlkreis war Teltow-Beeskow-Storkow-Charlottenburg mit 1 282 000 Einwohnern – da die stark angewachsenen Wahlkreise eher die städtischen waren, wirkte sich diese Entwicklung zum Vorteil der von Bismarck bevorzugten Landbevölkerung aus.