Liberale Demokratie in schwierigen Zeiten

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Die Herausforderung des Autoritarismus

Selbsttäuschung aus Enttäuschung
Robert Michels’ Parteiensoziologie auf dem Weg von der Demokratie in den Faschismus

Robert Michels’ Hauptwerk Die Soziologie des Parteiwesens besitzt auch bei heutiger Lektüre nicht nur einen historischen Wert, obgleich der Sozialdemokrat Michels in ausgedehnten Passagen zeithistorisch argumentiert und die parteimäßig organisierte Arbeiterbewegung der verschiedenen europäischen Staaten vergleichend analysiert. Die Leserin lernt vieles über (offenbar) zeitlos gültige Techniken des Machtkampfes, der Positionsbehauptung und der Organisation innerhalb politischer Parteien. Nicht selten beschreibt Michels Zustände, die weiterhin auf jedem Parteitag und in jedem Wahlkampf beobachtet werden können. Schon diese Schrift durchleuchtete die internen Absprachen der Parteiführung und die Lenkung der Basis durch die Lancierung der Tagesordnungspunkte. Er identifizierte zudem die Strategie der Machtabsicherung durch die Rücktrittsdrohung des Parteiführers, wie sie noch Gerhard Schröder als wirksames Mittel einsetzte. Breiten Raum nimmt auch Michels’ akribische Untersuchung der Praktiken ein, deren sich die Parteien bedienten, um im politischen Konkurrenzkampf Geschlossenheit und Schlagkraft zu generieren oder zumindest zu suggerieren. In Empirie und Interpretation wirken viele Passagen seines Werkes ausgesprochen gegenwartsnah.

Bereits solche Befunde rechtfertigen es, Michels’ Parteiensoziologie klassischen Rang zuzusprechen. Überdies bleibt sein kritisches Anliegen eine Herausforderung für jede politische Ordnung, die sich in ihrer Parteiendemokratie bequem eingerichtet zu haben glaubt. Michels zeigt nämlich, dass Parteienpluralismus noch keine innerparteiliche Demokratie garantiert und dass die Erfordernisse der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner, nämlich der Wettbewerbserfolg bei Wahlen, womöglich nur um den Preis des demokratischen Prinzipienverrats zu haben ist. Mit anderen Worten: Jeder Fortschritt in Sachen Führungs- und Organisationseffizienz wird mit dem Verlust an demokratischer Mitbestimmung erkauft. Darin erkennt Michels, der sich zumindest nominell auch in der zweiten Auflage von 1924 noch für die Belange der Demokratie einsetzt, eine immanente Bedrohung. Michels möchte die Demokratie – oder das, was er dafür hält – trotz aller eingestandenen Defizite verteidigen und zur Aufklärung über ihre Selbstgefährdung beitragen. Ganz ähnlich wie 1947 Winston Churchill – „Democracy is the worst form of government – except for all those other forms, that have been tried from time to time“ – verkannte Michels „die immanenten Nachteile der Demokratie“ nicht, hielt an ihr aber dennoch fest, da sie als Regierungsform „das geringere Übel“ sei.1 Damit warnte er vor naiven Fürsprechern der Demokratisierung, welche die inhärenten Widersprüchlichkeiten des bis dato im Hinblick auf Mittel und Zweck unklaren sozialdemokratischen Parteienkampfes nicht zu erkennen vermochten.

Geht es um Michels’ Parteiensoziologie, so steht eine Vielzahl von offenen Fragen im Raum, die sich vor allem vor dem Hintergrund seiner sich wandelnden politischen Überzeugung und Selbstverortung nicht auf einfache Weise beantworten lassen. Sie kreisen vor allem um das Problem, wie Michels’ Kritik an der vielfach erst im Entstehen begriffenen Parteiendemokratie respektive an den sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien mit seinem spätestens Mitte der 1920er Jahre hervortretenden Philofaschismus in Beziehung zu setzen sind. Enthält die Soziologie des Parteiwesens schon den Keim derjenigen Theoreme, die ihn schließlich zu einem Apologeten Mussolinis werden lassen? Offenbart Michels’ Klassiker bereits die Anfälligkeit für seine fragwürdige Unterstützung eines autoritären Regimes? David Beetham hat in den 1970er Jahren so argumentiert – und zu Recht Widerspruch geerntet.2 Wie spätestens Timm Genetts in seiner beeindruckenden Gesamtinterpretation gezeigt hat, bietet allein Michels’ Schlussbetrachtung wenig Anlass, an seiner kritisch-demokratischen Perspektive zu zweifeln.3 Es lag erklärtermaßen in Michels’ Absicht, „an einigen allzu leichten und oberflächlichen demokratischen Illusionen zu rütteln, durch welche die Wissenschaft getrübt und die Massen getäuscht werden“. Michels hoffte, dass „eine gewisse Milderung der oligarchischen Krankheit in dem Prinzip der Demokratie selbst“ liege, und erkannte das „Wesen der Demokratie“ darin, „die geistige Fähigkeit zur Kritik im einzelnen zu stärken und anzuspornen“. In diesem Sinne verstand er seine Arbeit als einen Beitrag zur „sozialen Pädagogik“.4

Es scheint deswegen anachronistisch, faschistische Grundtendenzen schon in Michels’ Hauptwerk hineinlesen zu wollen. Damit sind die beunruhigenden Fragen jedoch nicht vom Tisch. Vielmehr bleibt es rätselhaft, wie sich Michels in den 1920er Jahren von den Einsichten seiner Parteiensoziologie entfernen und Sympathien für eine Antiparteienpartei entwickeln konnte, nachdem er doch zuvor mit Akribie, kritischer Sympathie und wissenschaftlicher Leidenschaft die Partei als das wesentliche Movens politischgesellschaftlicher Selbstorganisation ausgemacht hatte. Timm Genett spricht in diesem Kontext von Michels’ „Totalverzicht auf den Analysebaukasten seiner Parteiensoziologie“.5

So legitim es ist, in Michels’ Parteiensoziologie nach potentiell philofaschistischen und autoritären Dispositionen zu fahnden, so unabweisbar bleibt die Problemstellung, ob er sich nicht von den eigenen demokratie- und sozialtheoretischen Einsichten entfernen musste, um sich die Annäherung an den Faschismus zu ermöglichen. Es liegt eine Ironie darin, dass es ausgerechnet dem skeptischen Analytiker massenpsychologischer Phänomene offensichtlich zu einem gewissen Zeitpunkt gelang, die eigenen aufklärerischen Prämissen zugunsten neuer emotiver Beweggründe zu verabschieden. Er legt innerhalb weniger Jahre einen nur schwer nachvollziehbaren Weg zurück: von einer problemsensiblen Hyperkritik der demokratischen Herrschaft hin zu einer machttrunkenen Apologie totaler Herrschaft.

Zunächst möchte ich drei Überlegungen voranstellen: Erstens favorisierte der frühe Michels einen rousseauistisch getönten, idealistisch aufgeladenen Demokratiebegriff, der ihn zum einen zu scharfer Kritik an den politischen Verhältnissen des Kaiserreichs wie auch an der Sozialdemokratie befähigte, zum anderen aber nur wenig Raum für eine praktische Verbesserung institutioneller demokratischer Praktiken ließ. Das fast notwendige Scheitern dieses Überschusses demokratischer Ansprüche machte Michels anfällig dafür, jede Vorstellung von liberaler Demokratie schließlich vollends zu verwerfen. Zweitens führte ihn seine Faszination für die massenpsychologische Dimension des Politischen dazu, in zweckgeleiteter Mobilisierung das entscheidende Moment für politische Aktion zu sehen. Während der frühe Michels noch auf die Gefahren massenpsychologischer Manipulation abhob, erlag der späte Michels dem Manipulator selbst und hypostasierte dessen Willen. Drittens ist bei Michels eine merkwürdige Ignoranz gegenüber politischen Inhalten auffällig. In seinen Arbeiten über die Sozialdemokratie behandelt er Programmatik und Ideologie fast ausschließlich mit Blick auf propagandistische Instrumentalisierung und deshalb in kritischer Hinsicht als folgenlose Rhetorik. Indem Michels den Schwerpunkt seiner Arbeit auf organisationssoziologische und „gruppendynamische“ Faktoren legt, tendiert er auch später dazu, die Ernsthaftigkeit bzw. Gefährlichkeit politischer Zielsetzungen in Faschismus und Nationalsozialismus herunterzuspielen, wenn nicht sogar zu übersehen.

Demokratie – Repräsentation – Vergeblichkeit

Der aktive Sozialdemokrat Robert Michels bleibt als Parteigänger der Arbeiterbewegung ein Skeptiker. Anders als bei anderen Linksintellektuellen wird man bei ihm kaum naiven Idealismus oder revolutionären Überschwang ausmachen können. Michels artikuliert weder das Fernziel eines demokratischen Sozialismus noch beschäftigt er sich mit institutionellen Maßnahmen, die Demokratisierungsschritte ermöglichen könnten. Stattdessen hängt er einer fast tragisch-heroisch zu nennenden Auffassung von der prinzipiellen Vergeblichkeit jeder Demokratisierung an. Eine solche Haltung wirkt überraschend und verwunderlich, da in der Entstehungszeit, nämlich im Deutschen Kaiserreich, ja keineswegs davon die Rede sein konnte, dass die Möglichkeiten institutioneller Demokratisierung ausgeschöpft worden wären.6 Liest man Michels’ vergleichende Analysen der sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien Europas, so finden sich zwar durchaus Unterschiede in Mentalität, Rhetorik und Habitus ihrer Führer. Kaum jedoch wird die Frage berührt, in welcherlei Hinsicht die jeweiligen systemischen Differenzen ganz verschiedene politische Nahziele vorgeben könnten.

Die Engführung von Michels’ Argumentation leitet sich auch aus seiner Einschätzung des politischen Spektrums im deutschen Kaiserreich ab. Für ihn gibt es keinen Zweifel darüber, dass nur die Sozialdemokratie als Erbe der demokratischen und liberalen Traditionen in Frage kommt.7 Für eine bürgerliche Erneuerung und eine Liberalisierung des bestehenden politischen Systems aus sich selbst heraus sieht Michels kaum Hoffnung. Im „Land aus Stuck“ erkennt er allenthalben Autoritätshörigkeit und die Dominanz feudaler Strukturen. Das mag erklären, warum sich Michels nicht für die übrigen Parteien, das Zentrum oder die Fortschrittspartei, interessiert und ihnen keinerlei Bedeutung im Hinblick auf eine Demokratisierung der politischgesellschaftlichen Verhältnisse zubilligt. Die Besonderheit der Sozialdemokratie erkennt Michels in ihrer relativen sozialen Homogenität, die „ihr eine den anderen Parteien fehlende Kohäsion verleiht“ und sie von dem „buntscheckigen Klassengemengsel“ des „in Fraktiönchen zersplitterten“ Liberalismus unterscheidet.8 Nur die Sozialdemokratie genügt den modernen demokratischen Ansprüchen einer Volkspartei und wird gerade deshalb zu einem interessanten Untersuchungsobjekt, weil sich an ihr – wider die eigenen Prinzipien – „die oligarchischen Tendenzen in einer antioligarchischen Bewegung“ feststellen lassen.9

 

Timm Genett hat auf die Schwierigkeiten hingewiesen, Michels’ Demokratieverständnis begrifflich zu fixieren.10 So kennzeichnet Michels bisweilen das „Prinzip der Mehrheit“ als demokratisch oder erinnert an die verschiedenen Erscheinungsformen der Demokratie zwischen unmittelbarer Volksherrschaft und republikanischer Repräsentation. In seiner Beschäftigung mit der Demokratie scheinen jedoch zwei Gesichtspunkte wesentlich zu sein und miteinander in einem nicht auflösbaren Spannungsverhältnis zu liegen: Zum einen artikuliert Michels die rousseauistische Sehnsucht nach identitärer Demokratie, die jede Form der Selbstregierung als direkte Artikulation eines homogenen Volkswillens vor- bzw. als idealisierten Maßstab aufstellt. Zum anderen etabliert er die Demokratie als eine moralische Orientierungsnorm des Politischen. Vor diesem Hintergrund sieht Michels seine Parteiensoziologie als Bestandteil notwendiger „sozialer Pädagogik“, deren Sinn es ist, „eine Reihe freier Individuen“ hervorzubringen, „die, sei es aus Prinzip, sei es aus Instinkt, immer wieder von neuem die Autoritäten ‚revidiert’ und nicht müde wird, die ewige Frage nach dem letzten Warum aller menschlichen Einrichtungen zu wiederholen“.11

Interessant im Hinblick auf Michels’ Demokratiekonzeption erscheint der Hinweis auf die „menschlichen Einrichtungen“, könnte man in diesem Kontext doch eine Auseinandersetzung mit Institutionen vermuten. Das Besondere seiner politischen Theorie liegt allerdings darin, institutionelle Aspekte, die für die Verstetigung und Sicherung demokratischer Prozeduren sowie für das Gelingen einer parlamentarischen Regierung unerlässlich erscheinen, völlig auszusparen. Michels misstraut allen Formen intermediärer Gewalt. Natürlich ist bei ihm viel von innerparteilichen Institutionalisierungsprozessen, von Bürokratisierung und vom Verhalten der Politiker in Amt und Parlament die Rede, aber der Eigenwert, die Funktion oder der Sinn von Institutionen spielen bei ihm keine Rolle.12 Das mag nicht weiter verwunderlich sein, denn Michels strebte ja keineswegs die Verteidigung eines Systems liberaler parlamentarischer Demokratie an (von dem das deutsche Kaiserreich seiner Zeit weit entfernt war und das er zumindest zur Zeit der Erstauflage noch nicht vor sich sah), sondern begleitete den aus seiner Warte beeindruckenden und unaufhaltsamen politischen Aufstieg der Arbeiterbewegung, die sich gegen staatlich-institutionelle Repression erst einmal zu wehren hatte.

Unter dem Eindruck des sogenannten „Massenzeitalters“ stellen für Michels Organisation und Bürokratisierung unvermeidliche Wesenszüge des politischen Lebens dar. „Ohne Organisation ist Demokratie nicht denkbar“, weiß Michels, sieht aber darin doch so etwas wie den Sündenfall des Politischen, denn: „Wer Organisation sagt, sagt Tendenz zur Oligarchie. Im Wesen der Organisation liegt ein tief aristokratischer Zug.“13 Durch Organisation etabliert sich unweigerlich die Zweiteilung jeder Partei in eine anführende Minorität und eine geführte Majorität. Deshalb ist „mit zunehmender Organisation […] die Demokratie im Schwinden begriffen“, oder wie es an anderer Stelle heißt: „die Organisation ist die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler“.14 Zu dieser Einschätzung kann Michels nur gelangen, weil er grundsätzlich in der Entfremdung der Parteiführung von der Basis eine Eigengesetzlichkeit des Politischen erkennt, induziert durch Verselbständigung und eigennützige Mandatshandhabung der einmal gewählten Amtsträger. Diese Degenerationserscheinungen in der Interaktion zwischen Führer und Geführten haben für Michels zum Teil quasi-anthropologische Evidenz, etwa im Burckhardtschen Sinne, dass Macht immer böse sei bzw. Korrumpierbarkeit nach sich zieht. Sie haben aber auch systemische Gründe: Konkrete Entscheidungen können nur von einem kleinen Zirkel getroffen werden; politische Initiative ist für Michels nur von oben nach unten denkbar; Führung ist eine unentbehrliche Komponente des politisch-sozialen Lebens. Die durch Führungsfunktion akkumulierte Macht neigt jedoch zur Selbsterhaltung und tendiert folglich ins Konservative.

Wichtig werden für Michels vor allem die sozialpsychologischen Faktoren, durch welche die normativen Prämissen der Demokratie unterspült werden, weshalb sie zur antidemokratischen Verformung politischer Führung beitragen. Auf der einen Seite verändert sich die Selbstwahrnehmung der Führung. Die regelmäßige Delegation von Macht lädt dazu ein, das Amt als Eigentum zu betrachten und die Erfahrung einer weitgehend treu ergebenen Parteigefolgschaft setzt innerhalb der Führung Selbstüberschätzung oder Größenwahn frei. Auf der anderen Seite diagnostiziert Michels ein manifestes Führungsbedürfnis der Masse, deren generelle Gleichgültigkeit, Ohnmacht und Apathie sie empfänglich dafür werden lässt, politische Verantwortung bereitwillig abzugeben. Kompensatorisch – und aus dem Zustand der Halbbildung der Parteimitglieder/ Wähler heraus – erkennt Michels Dankbarkeit, Loyalität und Verehrungsbedürfnis als Stabilisatoren der Führer-Gefolgschaft-Beziehung, deren emotionale Momente den sachlichideellen Ursprung bald überlagern.

Im Sinne der Vergeblichkeitsthese (Albert O. Hirschman) kann der Realist Michels also die Unersetzlichkeit politischer Führung konstatieren und zugleich in der „Bildung eines berufsmäßigen Führertums“ den „Anfang vom Ende der Demokratie“ sehen. Diese Aporie gilt es auszuhalten, denn für den Fürsprecher der Demokratie Michels bleibt es eine Unmöglichkeit, dass „die Kulturmenschheit ohne eine herrschende oder politische Klasse existieren könne“.15 Die herrschende Klasse – von Michels synonym mit den politischen Führern verwendet – nährt stets die Illusion, lediglich Ausführende des Volkswillens zu sein. Michels verwirft dabei die verbreiteten Argumentationsfiguren zur Legitimation politischer Führung in der Demokratie: Weder hält er ein rätedemokratisches imperatives Mandat der Willensübertragung für realistisch, noch kann er sich mit dem Gedanken der Repräsentation anfreunden. Der moderne Gedanke, die Volkssouveränität eher als eine hilfreiche Fiktion und normative Richtlinie zu begreifen, anstatt ihre materiale Verwirklichung zu suchen, ist Michels fremd.16 Das hat schon Max Weber angemerkt, der ihm in dieser Hinsicht Naivität vorwarf – und damit (wohl zu Recht) unterstellt, dass Michels von den Idealen Rousseaus geprägt blieb. „Aber – ach wie viel Resignation werden Sie noch über sich ergehen lassen müssen! Solche Begriffe wie ‚Wille des Volkes’, wahrer Wille des Volkes, existieren für mich schon lange nicht mehr, sie sind Fiktionen“, schrieb ihm Weber 1908 in einem Brief.17 Für Michels jedoch bleibt die notwendig scheiternde Repräsentation des Volkswilles das virulente Problem. Seiner Auffassung nach dankt „eine Masse, die ihre Souveränität delegiert, d.h. einzelnen wenigen Männern aus ihr überträgt, […] als Souverän ab; denn der Wille des Volkes ist nicht übertragbar, nicht einmal der Wille des einzelnen“.18

Diese schonungslose Dekonstruktion der Volkssouveränität lässt es wenig plausibel erscheinen, dass Michels einem rousseauistischen Demokratieideal nacheifert; vielmehr wird der Genfer Kritiker der Repräsentation für ihn zum Gewährsmann der Vergeblichkeit jeder fortschrittsgewissen Demokratisierung. Nicht nur hat es die Demokratie in der Geschichte bislang gar nicht gegeben, sondern ihre Verwirklichung ist in hohem Maße unwahrscheinlich. Dies liegt einerseits an der Führungs- und Organisationsabhängigkeit der „Masse“, respektive also der Parteien, die bekanntlich dem „ehernen Gesetz der Oligarchie“ unterliegen. Das Element der Personalisierung von Politik bleibt für Michels so zentral, dass jedes basisdemokratisches Ideal zwangsläufig unterlaufen wird. Sogar die demokratischen Parteien haben aufgrund der „Impotenz der direkten Demokratie“ darauf verzichtet, „die Prinzipien der direkten Volkssouveränität für den eigenen Hausgebrauch“ anzuwenden.19 Anderseits erkennt der Sozialist Michels in den „gewaltigen ökonomisch-sozialen Abhängigkeitsverhältnissen“ der kapitalistischen Gesellschaft einen Hemmschuh, der „die Existenz einer Idealdemokratie im Staatsleben unter den heutigen Verhältnissen unmöglich“ mache.20

Es bleibt weitgehend unklar, wie eine dem Soziologen Michels gemäße ideale Demokratie eigentlich auszusehen hätte und welches institutionelle Arrangement dafür vorgesehen wäre. Deutlich wird nur, dass sie kaum auf parlamentarischem Wege erreichbar ist. Für ihn – und hier reiht er sich in die antiliberale Kritik seiner Zeit ein – steht „Parlamentarismus gegen Demokratie“. Neben dem bereits angesprochenen Problem der Entfremdung des „delegierten“ Parlamentariers von seiner Wählerschaft, sorgen die systemischen Zwänge der parlamentarischen Prozeduren dafür, dass die parlamentarisch erstarkte Partei „mit wachsender Organisation immer mehr immobilisiert“ wird. „Das heißt, sie verliert ihren revolutionären Schwung, sie wird träge und schwerfällig, faul nicht nur im Handeln, sondern selbst im Denken.“21 Während die parlamentarische Arbeit also einerseits den Abstand zwischen den Abgeordneten und den einfachen Parteimitgliedern vergrößert, birgt die parlamentarische Praxis andererseits die Gefahr der „Cameraderie“, die sich zwischen den „Abgeordneten der verschiedensten Parteien“ bildet. Nach Michels’ Überzeugung „droht hier der Parlamentarismus zu einer Vermischung der Gegensätze zu führen und das Spiel der natürlichen Kräfte zu paralysieren“.22 Michels glaubt also nicht an die Mechanik komplexer Willensbildungsprozesse, die in Abwägung verschiedener Argumente und Positionen einen Mittelweg gangbar machen, sondern favorisiert die Durchsetzung eines quasi ursprünglichen demokratischen Willens.23

Auch wenn Michels mit Weber eine gewisse Faszination für das Phänomen personaler politischer Führung teilt, ergeben sich doch deutliche Unterschiede im Hinblick auf die Rekrutierung und Bewährung der Führer. Aus Webers politischen Schriften gewinnt man den Eindruck, dass angesichts der unaufhaltsamen Versachlichung und Bürokratisierung von Verwaltung und Politik das Führertum des charismatischen Einzelnen, der sich in den Ausleseverfahren von Partei und Parlament durchgesetzt hat, mit der Hoffnung auf eine kreative, entscheidungsstarke Aufweichung des ansonsten „stahlharten Gehäuses der Hörigkeit“ verbunden ist. Man könnte also glauben, dass die beiden lange Zeit befreundeten Sozialwissenschaftler verschiedene Epochen erleben: Während Weber den handlungsmächtigen Charismatiker als Gegenmacht zum erstarrten Komplex des bürokratisierten Institutionellen entwirft, fürchtet Michels allenthalben die Verselbständigung quasi-diktatorischer Macht des Führungspolitikers in Partei und Staat. Dass Weber als Anhänger des Parlamentarismus überdies auf die gewaltenteiligen Kontrollfunktionen des Parlaments abhebt (die Michels überhaupt nicht interessieren), bezeichnet weitere, unüberbrückbare Differenzen zwischen den beiden.24

Die Optik Michels lässt drei Besonderheiten erkennen: Erstens geht es Michels keinesfalls um den Interessenausgleich in einer pluralistischen Gesellschaft, in der verschiedene Gruppen, vertreten durch Parteien, Kompromisse aushandeln. Michels steht auf der Seite der Sozialdemokratie und sieht die Verwirklichung von gleichen Rechten und – weitaus vager – sozialer Gerechtigkeit als Aufgabe an, die einen umfassenden gesellschaftlichen Wandel erforderlich macht. Dies sind die just causes, die eine an demokratischer Aufklärung interessierte soziale Pädagogik zu gewärtigen hat. Zweitens wurzelt Michels’ Vorstellung von Demokratie in einer Romantik des Ursprungs. Er macht sich zwar nicht Rousseaus Konzeption eines volonté generale zueigen, verinnerlicht jedoch dessen Kritik am Prinzip der Repräsentation. In der Konsequenz gilt es einen nicht eigentlich benennbaren demokratischen Ursprungswillen zu enthüllen, der allerdings wegen der Künstlichkeit der institutionellen Arrangements und durch die sie begleitenden Praktiken der machtfixierten Positionskämpfe, die das politische System ausmachen, verschüttet bleibt oder nur entstellt zum Ausdruck kommt. Dass dieses Entbergen einer demokratischen Vernunft einer Sisyphos-Aufgabe gleichkam, hielt Michels nicht davon ab, es zur Richtschnur seines politischen Denkens zu machen. Freilich wurde es mit zunehmender Entfernung von der SPD für Michels immer unmöglicher, diesen Kern demokratischer Urüberzeugungen überhaupt zu explizieren. Damit geht drittens einher, dass bei Michels nur noch ein kaum mehr fassbares Prinzip der Demokratie übrigbleibt. Das Festhalten am normativen Regulativ der demokratischen Ideen, so mag man Michels und sein einprägsames Bild von den demokratischen Strömungen verstehen, die gleich den Wellen in der Brandung brechen, mobilisiert immer wieder neue Energien für den Freiheitskampf. Dieses Freiheitsstreben löst sich stets von vorgegebenen institutionellen Zwängen und beruht gleichsam egalitär-individuell auf einer demokratischen Bildungsoffensive, die sukzessive die Zahl der urteilsfähigen Bürger vergrößert: „Erhöhte Bildung bedeutet aber erhöhte Fähigkeit zur Kontrolle. Die Führung der gebildeten Massen ist immerhin weniger uneingeschränkt als die Führung der Massen Ungebildeter.“25 Diese Kontrolle – „das elementarste Sicherheitsventil der Demokratie“ – wird durch die „häufige Wiederkehr der Wahl“ ausgeübt. Es ist bemerkenswert, dass Michels eher auf die Kritikfähigkeit und die Urteilskraft des Einzelnen setzt, als institutionellen Arrangements zu vertrauen. Dieser emanzipative Impuls erscheint heute noch als sein stärkstes Argument für eine Demokratisierung. Darum ist es umso irritierender, dass beim späten philofaschistischen Michels nicht mehr von Kritik die Rede ist und umgekehrt dem Duce nahezu unbeschränktes Vertrauen entgegengebracht wird.

 

Demokratische Führung zwischen Partei und Staat

Für Michels gehört es zu den Gesetzlichkeiten des Politischen, dass Führung personal ausgeübt wird und dass in jedem politischen System Einzelpersönlichkeiten zur Macht streben. Während Max Weber im freiheitlichen Voluntarismus des charismatischen Politikers ein notwendiges Element sah, um die von Erstarrung bedrohte Institutionenordnung mit Leben zu erfüllen, sah Michels zwar die Notwendigkeit persönlicher Führung, betonte jedoch die Gefahr ihrer Entgleisung und die inhärente Selbstgefährdung der Demokratie. Weber hoffte auf das Surplus plebiszitärer Legitimation, damit aus dem ambitionierten Politiker auch ein machtvoller mover and shaker werden könne.26 Michels hingegen sah mit Sorge, dass der gewählte Führer „kraft des demokratischen Prozesses seiner Wahl in höherem Maße befähigt“ sei, „sich als Ausdruck des Gesamtwillens zu betrachten und als solcher Gehorsam und Unterwerfung unter seinen Eigenwillen zu beanspruchen als der geborene Führer der Aristokratie“. Die Führerschaft in der Demokratie baue nämlich „ihr Kommandorecht auf der Fiktion der demokratischen Allmacht der Massen auf“.27

Nimmt man Michels’ These vom „ehernen Gesetz der Oligarchie“ ernst, so ist daran zu erinnern, dass er nicht unbedingt die Abkopplung eines Einzelnen, sondern einer elitären Parteiführung von der Basis im Sinn hat. Für die Sozialdemokratie nach Lassalle, dessen Neigung zur „persönlichen Diktatur“ Michels noch herausgestellt hatte28, beobachtet er also eher die Herrschaft einer Gruppe, als dass er die Dominanz eines einzigen Führers kommen sieht. Eine Elite verselbständigt sich, trifft Absprachen, führt Parteitagsregie und bestimmt auf strategische Weise die politische Agenda, während sie die eigene Stellung absichert. Es ist ja die Pointe von Michels’ Parteiensoziologie, dass unter den Bedingungen der Massendemokratie, die er als konstituierende Form der Moderne begreift, gerade die sozialistischen Parteien am anfälligsten für die ihrer demokratischen Programmatik widersprechende Oligarchisierung sind. Was ein allgemeines Wesensmerkmal jeder Organisation ist, nämlich die Verengung der Einflusssphäre auf wenige Entscheider, lässt sich vor den normativ hochgespannten Zielen einer demokratischen Partei als besonders dynamischer Vorgang beobachten: die Herstellung neuer Hierarchien, die dem Gleichheitsgebot zuwiderlaufen.

Michels arbeitet diesen Widerspruch im Modus einer „Sinnverkehrungsthese“ (Hirschman) heraus und vermisst damit erst einmal die Lücke zwischen theoretischem Anspruch und erfahrbarer Wirklichkeit.29 Gleichwohl weiß er – und das bleibt auch im Hinblick auf seine spätere Analyse des Faschismus zu bedenken –, dass „die Bildung von Oligarchien im Schoße der modernen Formen der Demokratie“ ein universelles Phänomen ist, dem neben der sozialistischen und libertären auch jede andere Organisation unterliegen muss.30 Aufschlussreich und zugleich irritierend bleibt Michels’ begriffliche Engführung von Partei und Organisation, gipfelnd in der häufigen Rede von „Parteiorganisation“. Zwar legt er ausdrücklich eine „Soziologie des Parteiwesens“ vor, aber er betont auch, dass die Tendenz zur Oligarchisierung für alle sozialen Organisationen zutrifft. (Politische) Organisation wird zum notwendigen Vehikel für Machterwerb; der Politiker bleibt auf sie angewiesen. Gleichzeitig transformiert sie sich „aus einem Mittel zum Zweck zu einem Selbstzweck“.31 Soll heißen: Aus einem Führer, der anfangs nur Diener der Masse bzw. ihr gewählter Wortführer war (seltener: der charismatische Gründer einer Partei) und der sich einer Ursprungsidee verpflichtet fühlt, wird in Anpassung sowohl an die Erfordernisse des Konkurrenzkampfes als auch „an die neue, undemokratische oder den vertretenen Ideen feindliche Umgebung“ ein machtbewusster „Oligarch“. Im Politiker findet eine „psychische Transmutation“ statt.32 Michels aktiviert in diesem Zusammenhang eine Denkfigur, die bald zum Kernbestand der konservativen Modernekritik von Arnold Gehlen bis Niklas Luhmann gehören wird: Jeder Idealismus ist dazu verurteilt, an den Funktionslogiken und systemischen Zwängen gesellschaftlichen Lebens zu scheitern. „Wie immer und überall“, schreibt Michels, „ist auch in der Demokratie der Erfolg des Idealismus Tod.“33

Der Kampf um politische Macht, den Max Weber ohne Vorbehalte zum Wesen des Politischen erklären konnte, weil er ihn eingebettet sah in eine von Bürokratisierung und Versachlichung geprägte Institutionenordnung, war auch für den ehemaligen Sozialdemokraten Michels die beherrschende Zeiterfahrung. Der Klassenkampf und die emanzipative Selbstbehauptung der Arbeiterbewegung waren nicht lediglich mit dem Ziel der Interessendurchsetzung in einem bestehenden politischen System behaftet, sondern der politische Kampf hatte eine existentielle Dimension. Die von Michels registrierte Militarisierung der politischen Sprache belegt dies ebenso wie seine Überzeugung, dass die sozialistischen Parteien als Prototyp der modernen massendemokratischen Partei „ihrem Wesen nach nach dem Staate“ tendieren: „Sie [die Partei, JH] ist ein Staat im Staate. Ihre Tätigkeit ist konzentrisch darauf gerichtet, Staat zu werden, einerlei ob sie in ihn ‚hineinwachsen’, sich zu ihm ‚auswachsen‘ oder ihn ‚erobern‘ will“.34 Eben weil Michels das Wesen dieses existentiellen Kampfes anerkennt, muss jede Suche nach Ausgleich und Kompromiss, wie ihn die parlamentarische Arbeit vorsieht, als Verrat an den Ursprungsideen und eigentlichen politischen Zielen begriffen werden. Wenn Michels mit analytischem Scharfblick den Pragmatismus der Führer in zahlreichen Fallbeispielen beschreibt, so liefert ihm dies doch allenthalben Belege für Verrat an und Entfremdung von den Parteimitgliedern und dem Wählerwillen.

Das Verhältnis von Staat und Partei bleibt bei Michels spannungsreich. Zwar wird der Staat einerseits – aus Sicht der Sozialdemokratie nach der Erfahrung der Sozialistengesetze – als Feind bzw. als Beute aufgefasst. Anderseits teilen Staat und Partei nach Michels gewisse gemeinsame Charakteristika: „Ein Staat oder eine Partei, in denen die Elite einen zu engen Kreis umfasst, mit anderen Worten, deren Oligarchie aus zu wenig zahlreichen Oligoi zusammengesetzt ist, läuft Gefahr, in einem Moment demokratischer Aufwallung der Massen überrannt zu werden. Darum sind der moderne Staat wie die moderne Partei bestrebt, ihrer Organisation (Parteiregierung) eine möglichst breite Basis zu verleihen, möglichst viele Elemente auch finanziell an sich zu fesseln. Auf diese Weise entsteht, im Verein mit den sich aus der Vermehrung der Aufgaben, die der modernen Organisation gestellt sind, ergebenden Bedürfnissen auch in der Partei die Notwendigkeit einer starken Bürokratie.“35 Aus dieser Analogie wird plausibel, wie Michels – ohne ein konkretes Ziel vorzugeben – die SPD als klassenübergreifende Catch-all-Party konzeptionalisiert, die (zumindest war dies wohl zeitweise seine Hoffnung) als Staat im Staat stark genug wird, um „den Gegenwartsstaat auszuhöhlen und zu untergraben, um ihn endlich durch ein von Grund auf verschiedenes Staatswesen zu ersetzen“.36

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