Liberale Demokratie in schwierigen Zeiten

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Im umfangreichen Demokratisierungsdiskurs des Ersten Weltkriegs zählten Preuß, Wiese und Weber fraglos zu den progressiven Stimmen. Um die Dynamik der Novemberrevolution zu begreifen, muss man sich vergegenwärtigen, in welcher Geschwindigkeit jahrelang erhobene Forderungen auf einmal Makulatur wurden und von der Wucht der Ereignisse überholt worden waren: Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts, eine parlamentarische Regierungsform, Frauenwahlrecht usw. Im Herbst 1918 waren progressive Liberale in ihrem Selbstverständnis erschüttert: Die noch kaum praktizierte parlamentarische Demokratie sollte revolutionär überwunden werden; Rätesystem und Sozialisierungsforderungen bestimmten die politische Agenda.

3. Der politische Liberalismus in der Novemberrevolution

Das „Traumland der Waffenstillstandsperiode“15 und die unübersichtlichen Startbedingungen waren zugleich von Hoffnungen und Befürchtungen geprägt – zwischen Selbstüberschätzung und Desillusionierung auf Seiten der Liberalen. In jedem Fall gab es keine einhellige „Kultur der Niederlage“ (Schivelbusch); es herrschte sogar bisweilen ein politischer Neugestaltungswille, der zu ignorieren schien, dass die Kriegsniederlage empfindliche Einschränkungen und Obligationen mit sich bringen würde. Zum Idealismus von 1918 gehört ein spezifisch deutscher Wilson-Mythos, der vom Glauben an einen demokratischen Neubeginn ohne die Belastungen des Besiegten erfüllt war.16

Der Riss, der durch das liberale Lager ging, offenbarte sich am deutlichsten in der Neugründung der liberalen Parteien. Zwar kann man hier von der Kontinuität einer Spaltung im liberalen Lager reden, aber sie wurde unter den Vorzeichen der politischen Neuordnung noch einmal verschärft. Und dies geschah, obwohl sich angesichts der nun (aus bürgerlich-liberaler Sicht) drohenden sozialistischen und sozialdemokratischen Dominanz eine Annäherung angeboten hätte.

Ich kann den Prozess, der zur separaten Gründung von DDP und DVP führte, an dieser Stelle nicht genauer beleuchten.17 Festzuhalten ist, dass sich der Graben zwischen einstigen Annexionisten und Befürwortern eines Verhandlungsfriedens, zwischen Wirtschaftsliberalen und gemäßigt Sozialliberalen, zwischen Republikanern und einstigen Monarchisten vertieft hatte. Die Auseinandersetzung um die Figur Gustav Stresemann, an der sich die Konflikte entzündeten, spielte hier zweifellos eine entscheidende Rolle. Dabei profilierte sich Stresemann recht bald als zukunftsoffener, der parlamentarischen Demokratie durchaus zugewandter Politiker.

Der sozialliberale Aufbruch wird vor allem durch den Gründungsaufruf der Deutschen Demokratischen Partei vom 16. November 1918 verkörpert. Wenn man sich die beeindruckende Liste der Unterzeichner (und der später Hinzugestoßenen) vor Augen hält, bekommt man einen Eindruck von der intellektuellen Energie und Zuversicht, die damals diese Neugründung begleiteten: Zu den herausgehobenen Persönlichkeiten gehörten Moritz Julius Bonn, Albert Einstein, Heinrich Herkner, Rudolf Mosse, Hugo Preuß, Alfred Weber, Marianne Weber, Theodor Wolff – später kamen Friedrich Naumann, Walther Rathenau, Ernst Troeltsch und Max Weber hinzu. Ich möchte diesen Aufbruch unter drei Stichworten diskutieren: Utopie der Intellektuellenpolitik, sozialliberale Vision, Vernunftrepublikanismus.

1. Utopie einer intellektuellen Politik: Sicherlich hat es nie zuvor oder danach in Deutschland ein derart hochkarätiges Engagement von angesehenen Intellektuellen für die Demokratie gegeben. Darin lag Chance und Gefahr zugleich. Ohne die linksliberale intellektuelle Mobilisierung ist der überwältigende Wahlerfolg der DDP bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung nicht zu erklären. Niemals wieder hat eine linksliberale Partei über 18 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen können. Die Novemberrevolution war daher auch eine bürgerliche Revolution – dies zeigte nicht nur das Engagement in Bürgerräten18, sondern auch die gestaltende Rolle liberaler Politiker und Intellektueller im Prozess der Verfassungsgebung.

Die Hoffnung auf „Philosophenkönige“ spiegelte freilich auch ein überkommenes elitär-liberales Moment. Zwar wollte man sich auf linksliberaler Seite gesellschaftlich öffnen, aber in der Personalrekrutierung und in der partizipativen Ausrichtung dominierten honoratiorenliberale bildungs- und großbürgerliche Tendenzen. Eine in Aussicht gestellte Mittelstandspolitik litt damit von Anfang an am Mangel politischer Repräsentanten, wie Lothar Albertin in seiner Pionierstudie herausgearbeitet hat.19

2. In gewisser Weise artikulierte der Weimarer Verfassungskonsens zwischen Sozialdemokratie und progressivem Linksliberalismus eine im 20. Jahrhundert nachhaltig wirksame sozialliberale Vision. Sie zielte auf die Einhegung des Kapitalismus, eine gestaltende Rolle des Wohlfahrtsstaates und auf die soziale Demokratie als Leitwert. Im Gründungsmanifest der DDP wurde „die Gestaltung einer neuen sozialen und wirtschaftlichen Politik“ gefordert.20 Das hieß eine völlig neue Perspektivierung der Staatsaufgaben. Liberale forderten nun einen aktiven Staat; Keynes’ später formulierte Einsicht vom Ende des Laissez-faire war auch in Deutschland verbreitet.21 Die Suche nach sogenannten „dritten Wegen“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus hat eine Wurzel in der Weimarer Debatte. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die anfänglich geäußerte Offenheit gegenüber einer Sozialisierung der Schlüsselindustrien oft mit taktischen Lippenbekenntnissen zu tun hatte, so wurde die Wirtschafts- und Sozialpolitik doch als ein ganz neues Feld begriffen.22

3. Die lange abschätzig benutzte Formel vom Vernunftrepublikanismus, dem wie im Falle Friedrich Meineckes und einiger anderer ein „Herzensmonarchismus“ vorausging, hat in den letzten Jahren eine Neubewertung erfahren.23 Warum sollte die Parteinahme für die Republik aus Vernunft und Einsicht auch tadelnswert sein? Der undifferenzierte Vorwurf eines liberalen Vernunftrepublikanisus verliert aus dem Blick, wie schnell sich allein zwischen 1918 und 1922 (Marsch auf Rom) der Bezugsrahmen des politischen Denkens wandelte: Zwar finden sich auch schon bei wachen Zeitgenossen wie Ernst Troeltsch Bemerkungen über die Bedrohungslage der Demokratie in der Zange von neuen links- und rechtsextremen Massenbewegungen. Aber es braucht keiner langen Erklärung, um Verständnis dafür aufzubringen, dass im Kaiserreich sozialisierte Vernunftrepublikaner noch ohne Konzept waren, wenn es um die Abwehr neuer rechtsnationaler/faschistischer Republikgegner ging. Allerdings bietet die Ideengeschichte des Liberalismus in Weimar – und darauf haben nicht zuletzt Christoph Gusy und Michael Dreyer hingewiesen – eine reiche Debatte darum, wie sich der demokratische Staat gegen seine Gegner wehren kann.24 Auch dies lässt sich durchaus unter dem Aspekt des Innovativen betrachten, denn es handelte sich um eine weitgehend neue, vorher unbekannte Konstellation.

Überhaupt liegt spätestens seit der Weimarer Republik das Problem darin, dass Politiker und Parteien, die sich in einer liberalen Tradition verorten (oder von Gegnern als Liberale bezeichnet wurden), mit dem Sammelbegriff des Liberalismus häufig nur sehr kursorisch zu erfassen sind. Wir müssen schon angeben, welche Art von Liberalismus wir meinen – denn normativ anspruchsvolle, an der Demokratie interessierte liberale Denkströmungen hat es in Weimar durchaus gegeben, in nicht geringer Zahl.

4. Langfristige Innovationen liberaler Theoriebildung

Es hieße nicht nur, die innovativen Potentiale zu verleugnen, wenn wir die historischen Verlierer von 1933 ein weiteres Mal bestrafen, indem die geringe Resonanz ihrer Ideen zum Maßstab für ihre Beurteilung wird. Es wäre auch in hohem Maße unrealistisch, wenn wir in irgendeiner Weise davon ausgingen, dass die mannigfaltigen strukturellen und kontingenten Faktoren der Weimarer Staatskrise durch einen einzigen, wie auch immer gearteten Politikentwurf hätten bewältigt werden können.

Meine These ist deshalb: Der Weimarer Liberalismus wurde zwar parteipolitisch immer schwächer, und die liberale Idee wurde zusehends heimatloser, aber das Bemühen um die intellektuelle Erneuerung des Liberalismus war trotzdem nachhaltig. Man kann deshalb die Zwischenkriegszeit – übrigens nicht nur bezogen auf die Weimarer Republik, sondern innerhalb der „Geschichte des Westens“ (H.A. Winkler) – als eine zweite „Sattelzeit“ des liberalen Denkens begreifen.

Innerhalb der ersten Sattelzeit, so wie der Historiker Reinhart Koselleck das Konzept eingeführt hat, bildeten sich die konstitutiven politischen Begriffe der Moderne zwischen 1750 und 1850 heraus25; die zweite passte diese Begrifflichkeiten an das demokratische Zeitalter an. Pointiert heißt dies: Nach der Krise des Weltkriegszeitalters war der Liberalismus erstens nicht mehr ohne Demokratie zu denken, und hier liegt die Bedeutung der Novemberrevolution. Zweitens konnten Liberale fortan den Kapitalismus nur noch als ein vom Staat eingehegtes und auf staatliche Steuerungsfunktionen angewiesenes Wirtschaftssystem begreifen. Drittens schließlich gewannen Liberale Distanz zur nationalen Idee; der Radikalnationalismus der Faschisten und Nationalsozialisten kurierte sie davon, den Machtstaat (wie es noch Max Weber vorschwebte) zum Maßstab erfolgreicher Politik zu erheben – das nationale Interesse konnte sich, wie kluge Liberale nach dem Ersten Weltkrieg wussten, nur im Konzert mit anderen Staaten zur Geltung bringen, war auf internationale Kooperation und die Ausweitung kollektiver Sicherheit angewiesen, sollte dem Frieden dienen, der im Anschluss an Kant als das oberste Ziel der Politik zu betrachten war.26

 

Wenn wir den Liberalismus nicht als eine Ideologie verstehen, deren Grundsätze gleichsam in Stein gemeißelt sind und an deren ewige Wahrheiten lediglich in verschiedenen Lagen zu erinnern ist, sondern als ein wandelbares, konstellationsabhängiges Denken, das Lern- und Transformationsprozessen unterworfen ist, dann lassen sich als langfristige Wirkungen der demokratischen Revolution von 1918 für die 1920/30er Jahre womöglich drei wichtige Gebiete aufzeigen, auf denen es zu neuen liberalen Positionsbestimmungen kam:

1. Kapitalismus und Demokratie: Die Debatte um die politische Gestaltbarkeit der Ökonomie war eine der fruchtbarsten und bewegtesten nach 1918; sie ergriff die liberale Nationalökonomie ebenso wie sie Brücken zwischen demokratischen Sozialisten und Sozialliberalen schlug. Von Weber bis Schumpeter glaubte man einen nahezu unausweichlichen Zeittrend zum Sozialismus diagnostizieren zu können. Wie konnte man ihn abfedern, lenken oder gar mit kapitalistischen Überlegungen in Einklang bringen? Wie ließ sich die Dynamik der Industriemoderne zum Wohl breiter Bevölkerungsschichten nutzen? Die Antworten darauf waren vielfältig – von den allfälligen Sozialisierungsdebatten seit der Novemberrevolution (sogar Konservative und Liberale nahmen die Forderung nach der Sozialisierung von Schlüsselindustrien in ihre Parteiprogramme auf) bis zu den Diskussionen über einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Natürlich gab es weiterhin standfeste Wirtschaftsliberale wie den Wiener Ludwig von Mises, dessen Bücher über die Gemeinwirtschaft (1922) und über Liberalismus (1927) bis heute als Schlüsseltexte des Marktliberalismus gelten.27 Aber sogar Mises sah die Demokratie als günstigste Regierungsform für ein kapitalistisches Wirtschaftssystem an. Moderner und pragmatischer gab sich der 1873 in Frankfurt geborene, aus einer alten jüdischen Bankiersfamilie stammende Nationalökonom Moritz Julius Bonn. Der anglophile Liberale, der übrigens 1925 ein hellsichtiges Buch über die Krisis der europäischen Demokratie verfasste, wollte der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft ein umfassendes Amerikanisierungsprogramm verschreiben. „Demokratischer Kapitalismus“ hieß seine Zauberformel.28 Damit war gemeint, dass das Wirtschaftssystem sich über seinen Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlstand zu rechtfertigen hatte. Kurz: Nur wenn der Kapitalismus den breiten Bevölkerungsschichten zugutekomme, verdiene er sich seine Legitimität. Für Bonn war damit die – wie man neumodisch sagen könnte – Output-Seite eines demokratischen Kapitalismus entscheidend: seine Konsumentenorientierung, seine Innovationsfähigkeit und seine Gewährleistung sozialer Durchlässigkeit. In seinen Büchern, Broschüren, Aufsätzen und Leitartikeln, die in den großen liberalen Organen seiner Zeit erschienen, griff Bonn denn auch hauptsächlich die Kartellierungstendenzen in der deutschen Industrie an, kritisierte die Bestrebungen der Wirtschaftseliten, sich den Einflüssen demokratischer Politik zu entziehen. Bonn hatte frühzeitig einen Modus industrieller Interessenpolitik identifiziert, der dazu führte, ökonomische Gewinne zu privatisieren und Verluste zu verstaatlichen. Sein Plädoyer für hohe Löhne, ja sogar seine Anregung von Mindestlöhnen zur Steigerung der Kaufkraft zeigten außerdem an, dass er sich bereits deutlich jenseits der rein wirtschaftsliberalen Konzeptionen bewegte.29 Ins breite Spektrum der liberalen Wirtschaftskonzeptionen gehören auch die später so bezeichneten Ordoliberalen, eine recht heterogene Gruppe von Ökonomen, zu denen vor allem Walter Eucken, Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke zählten. Sie gaben Impulse für eine neuliberale Ordnungsökonomik, die die Rolle des Staates völlig neu konzipierte, nämlich unter der Prämisse, dass ideale Marktbedingungen erst herzustellen seien. Freilich sahen insbesondere Eucken und Rüstow die Interessengruppen einer pluralistischen Gesellschaft eher als Störfaktoren an, und für die parlamentarische Parteiendemokratie hegten sie kaum Sympathien.

Walter Eucken gestand nach 1945 selbstkritisch ein, in der Endphase der Weimarer Republik „das Unbedingte“ angestrebt zu haben. Sinnvoller wäre es gewesen, an die gesellschaftlichen „Bedingungszusammenhänge“ anzuknüpfen. Damit meinte er die Berücksichtigung von öffentlicher Meinung und den Ausgleich der verschiedenen gesellschaftlichen Interessen.30

Es scheint mir wichtig, vor allem die Heterogenität dieser Gruppe zu betonen, die dann in der Bundesrepublik so einflussreich werden sollte, weil sie den Mythos der Sozialen Marktwirtschaft mit begründete. Eucken kam aus national-konservativem Milieu und hatte mit der Weimarer Republik anfangs wenig im Sinn: sein politischer Weg ist ein Lernprozess, der ihn über die Begeisterung für liberale Wirtschaftstheorie langsam in die moderne Demokratie führte; Rüstow stand ursprünglich sozialistischen Positionen um Franz Oppenheimer nahe, machte aber bereits in Weimar Karriere als Lobbyist und gehörte zum Schattenkabinett Kurt von Schleichers; eigentlich war nur Röpke zu Weimarer Jahren schon als politischer Liberaler anzusehen. Die in den letzten Jahren populär gewordenen, sehr gegensätzlichen Interpretationen des Ordoliberalismus zeigen die Schwierigkeit, diese Ökonomen politisch zu interpretieren: So gibt es einerseits Foucaults Lesart von einer neuen ordoliberalen Regierungstechnik (Gouvernementalität), die still und leise dem Liberalismus all seine normativen Elemente nimmt und den Freiheitsbegriff eliminiert.31 Andererseits hat Philip Manow versucht, die vormodernen Sittlichkeitsvorstellungen und die Elemente einer christlichen Ethik im Denken der Ordoliberalen herauszustellen, die es fraglich erscheinen lassen, hier überhaupt noch von Liberalismus zu reden.32

Schon dieser kursorische Blick zeigt, wie vielstimmig und uneins die Weimarer Liberalen waren, wenn es um eine Einhegung des Kapitalismus ging. Die Erfahrung von Inflation und Wirtschaftskrise bewies lediglich, dass es ohne eine politische Rahmung nicht funktionierte; wie diese jedoch zu konzeptualisieren war, blieb umstritten. Dass es vor allem darum ging, die Demokratie über sozialstaatliche Leistung und wirtschaftspolitische Steuerungsfähigkeit zu legitimieren, zeigten nicht zuletzt die – vom Weimarer Personal weitergeführten – Debatten im Exil. Walter Lippmanns Entwurf The Good Society von 1937 eröffnete den exilierten Ökonomen eine neue gesellschaftliche und politische Dimension des Liberalismus.33 Nicht zuletzt fanden sich in der nach dem legendären Lippmann-Colloquium gegründeten Mont Pelerin Societé verschiedene Schulen zusammen, die für den Cold War Liberalism wichtig werden sollten.34

2. Antitotalitarismus: Einen Einschnitt bedeutete die Auseinandersetzung mit dem Faschismus, die zu einer Renormativierung liberalen Denkens führte. Liberale erkannten in der faschistischen Politik der Gewalt, in der Suspendierung des Rechtsstaates, im Antiparlamentarismus und im Führerkult die Symptome einer neuartigen europaweiten Bedrohung. Die Berichterstattung der Frankfurter Zeitung, die Schriften von Bonn oder von Hermann Heller lassen darüber keinen Zweifel aufkommen. In den Grundzügen entwickeln die Verteidiger der Republik, die sich in den 1920er Jahren von den links- und rechtsideologischen Massenbewegungen bedroht sehen, bereits eine Vorform der Totalitarismustheorie.35 Die Erfahrung des Faschismus und des Nationalsozialismus führten schließlich zu einer strengen kategorialen Trennung von Diktatur und Demokratie. Weder konnte die Diktatur als Verfassungsinstitut der Demokratie inkorporiert werden, noch die Vorstellung aufrechterhalten werden, dass eine kombinatorische Lösung möglich sei, die den Diktator jenseits von ihm selbst initiierter Plebiszite wirklich demokratisch legitimierte. Gegen Rechtsbrüche, Terror und die Suspendierung bürgerlicher Freiheiten gab es keinen Schutz mehr, sobald der Weg des demokratisch verfassten Rechtsstaates verlassen war. Die Haltung zum Faschismus wurde zum Lackmustest für liberale Standhaftigkeit.

3. Wehrhafte Demokratie: Die Erkenntnis, dass die demokratische Lebensform einen besonderen Schutz benötigte und kontinuierlicher Pflege bedurfte, rückte von der Peripherie ins Zentrum liberalen Denkens. Auch dies zeigten die vielfältigen Beiträge zur notwendigen Wehrhaftigkeit und Verteidigungsbereitschaft der Demokratie in den 1930er Jahren, wie z.B. Karl Loewensteins Konzept der „militant democracy“, das sich zu wesentlichen Teilen der Weimarer Erfahrung verdankt.36 Loewenstein hatte auf der Staatsrechtslehrertagung 1931 in Halle bereits erste Ansätze dazu formuliert. „Der Staat, der von zwei radikalen Flügelparteien bewußt bedroht wird, muß sich entschlossen dagegen zur Wehr setzen“, forderte er damals.37 Loewenstein sollte später aber auch herausstellen, dass der wirksamste Schutz in der Einübung und Pflege einer demokratischen Kultur liege.

So beinhaltete die liberale Thematisierung der „wehrhaften Demokratie“ beides: das Nachdenken über Maßnahmen zum Schutz von Staat und Verfassung und zugleich eine Hinwendung zur Demokratietheorie. Denn angesichts existentieller Bedrohungen durch Gewaltregime gewann für Liberale die demokratische Lebensform als zivilisatorische Errungenschaft der Moderne an Gewicht. Charakteristisch dafür war der neuerliche Rekurs auf den Humanismus und die Menschenrechte. Das Bekenntnis zu Werten und die Frontstellung gegen den Totalitarismus schufen den neuen common ground für einen demokratischen Liberalismus. Die klare Feindbestimmung erlöste Liberale davon, Toleranz und Relativismus als konstitutive Eigenschaften der eigenen Weltanschauung verteidigen zu müssen. Vielmehr war es zwingend geworden, die Grenzen der Toleranz zu bestimmen, und dies war angesichts der politischen Verhältnisse nicht mehr nur eine theoretische, sondern eine praktische Operation.

5. Fazit

Die Ereignisse des Jahres 1918/19 werden bisweilen mit der Epochenzäsur von 1989 verglichen. Tatsächlich liegt ein verbindendes Element darin, dass nicht wenige eine vermeintliche Alternativlosigkeit westlicher Werte zu erkennen meinten. Sicherlich, eine solche Sichtweise ignoriert die parallelen zeitgenössischen Hoffnungen, die sich auf den Sozialismus und die Ausbreitung der Revolution stützten. Aber von liberaler Warte aus wähnte man sich mit der Durchsetzung der liberalen Demokratie an einem „Ende der Geschichte“. In einem „Wilsonian Moment“ glaubte man an die Universalisierung des gerade geborenen westlichen Modells, das Demokratie, liberalen Konstitutionalismus und internationale Verständigung im Rahmen des neu zu gründenden Völkerbundes vereinte.38 So lassen sich – in der Vielfalt der Perspektiven – die Weltkriegsniederlage und die damit einhergehende Staatsgründung in ihren Effekten als eine Transformationsphase begreifen. Unter den Bedingungen der Massendemokratie musste der Liberalismus sich gesellschaftspolitisch in einer Weise modernisieren, die einer Neuerfindung gleichkam.

Der ideelle Aufbruch, als der die Novemberrevolution in vielerlei Hinsicht zu betrachten ist, traf allerdings auf schwierige gesellschaftspolitische und ökonomische Bedingungen. Dazu zählte vor allem die drastische Spielraumverengung für die soziale Demokratie in den Krisen der Republik. Reparationslasten, Inflation und Weltwirtschaftskrise schränkten die Möglichkeiten wohlfahrtsstaatlicher Politik in einer Weise ein, welche die hochfliegenden Hoffnungen auf soziale Gerechtigkeit und Prosperität an fiskalischen Zwängen und an einer auf die Spitze getriebenen Austeritätspolitik zerschellen ließen. Ein weiterer unvorhergesehener Krisenfaktor lag darin, dass der Parlamentarismus – gerade erst mit wirklicher politischer Verantwortung ausgestattet – unter Beschuss geriet. Während sich liberale Theoretiker mühten, die Illusionen einer direkten Demokratie und die Gefahren plebiszitärer Stimmungsschwankungen zu enthüllen, verlor der Weimarer Parlamentarismus rapide an Vertrauen. Der Ruf nach einer starken Exekutive und nach einer autoritären Überwindung gesellschaftlicher Fragmentierung erschwerte daher jede Argumentation für Rationalität, Kompromiss- und Verantwortungsfähigkeit der repräsentativen Regierungsform. Trotz oder gerade aufgrund ihrer realpolitischen Marginalisierung entwickelten allerdings die liberalen Weimarer Demokraten eine bewunderungswürdige theoretische Standfestigkeit.

Die Ideengeschichte lässt sich gewiss nicht als stringente Kette von Lernprozessen und Anpassungsleistungen verstehen. Aber die Krise der Demokratie, ihre enttäuschten Erwartungen und die politischen Niederlagen in Weimar bewirkten langfristig unstreitig eine umfassende Neujustierung liberalen Denkens. Es beinhaltete ein neues Kontingenzbewusstsein, eine Wende zur Skepsis und den geschärften Sinn für politische Gewalt. Das Wissen darum, dass demokratische Gesellschaften nicht davor gefeit sind, in zivilisatorische Regression und eine Herrschaft des Unrechts abzugleiten, prägte ein normativ erneuertes, aber zugleich realistisch gewordenes liberaldemokratisches Denken.39

 

Demokratie, so die aus der fragilen Weimarer Republik gewonnene Grundeinsicht, war nur als parlamentarisch-repräsentative Regierungsform funktionsfähig, benötigte eine strikte Gewaltenteilung und durfte den Pfad der freiheitsgarantierenden Rechtsstaatlichkeit nicht verlassen. Doch darin erschöpft sich das Vermächtnis der liberalen Weimarer Demokraten nicht. Sie wussten auch, dass die demokratische Verfassung keine Existenzgarantie kennt. Hans Kelsen sah den Identitätskern der Demokratie darin, ihren Feinden nur mit Argumenten begegnen zu dürfen. Gegen eine demokratische Selbstpreisgabe gab es aus seiner Sicht kein probates Mittel.40 Diese Haltung rief bei wehrhaften Republikanern Widerspruch hervor. Aber auch sie sahen, dass Republik- und Verfassungsschutzmaßnahmen stumpfe Schwerter blieben, solange sie sich nicht auf breite Mehrheiten stützten. Kelsen hatte erkannt, dass die Demokratie ethisch autark war, also ihre Bestandsvoraussetzungen selbst erhalten und pflegen musste. Dazu braucht es die erneuerungsfähige Vision einer demokratischen Gesellschaft, die Erziehung zur Demokratie, alltägliche Einübung ihrer Praktiken, die Pflege ihrer Institutionen und die Sorge um die sozial Benachteiligten.

Die Demokratiedebatte der Zwischenkriegszeit gehört fraglos zu den Sternstunden der politischen Ideengeschichte. In der Auseinandersetzung mit den Vordenkern der liberalen Demokratie lässt sich der existenzielle Ernst der Argumentation nachempfinden. Ihre Einsichten bleiben aktuell, weil sie uns daran erinnern, wie anspruchsvoll das Projekt der liberalen Demokratie tatsächlich ist.