Zwei Ozeane auf Abwegen

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Z serii: Zwei Kontinente #2
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Kapitel 04

Juniper Hewlett war eine Dame ohne besondere Eigenschaften. Reinlich, ruhig und routiniert. Sie war Forscherin von Insel 002, aber sie selbst bezeichnete sich stets als Neurowissenschaftlerin. Juniper konnte Muster in Gehirnen erkennen, wo andere nur Wirbel und Wolken sahen. Ihre Aufgabe war es, die gestrandeten Seelen ihrer Insel zu kalibrieren, ihren Leben einen neuen Sinn zu geben. Meistens gelang das, und das machte sie glücklich.

Heute war sie allerdings mit einem mulmigen Gefühl aufgewacht, das sich im Laufe des Tages verschlimmert hatte. Erst erlitt ihre Freundin einen Nervenzusammenbruch, dann entpuppte sie sich als Flüchtling einer weit entfernten Insel. Schließlich erfuhr Juniper, dass sie den Namen der Frau vergessen hatte, die sie am meisten liebte. So sehr sie sich auch konzentrierte: Der einzige Name, der ihr sofort einfiel, war Carla. Doch Carla war offenbar diese Kira gewesen, der Name ihrer Seele. Und Juniper verfluchte diese Seele. Wie konnte es dieses junge Ding wagen, sich in einen fremden Körper zu schleichen und die alte Seele zu überschreiben? Das gehörte sich nicht. Innerhalb kurzer Zeit hatte sie das Leben auf Insel 002 aus dem Gleichgewicht gebracht.

Mortimer hatte das Programm verlassen und sie angewiesen, unverzüglich zu folgen. Noch saß Juniper allein auf dem hellen Sofa in der Bibliothek und betrachtete die unberührte Tasse Tee. Sie hatte geahnt, dass es passieren würde. Befürchtet. Nun war auch der Körper von Carla fort. Die Fremde hatte ihn mitgenommen, dieses Biest. Jetzt hatte sie weder den Namen noch den Körper der Person, die sie liebte. Der Verlust nistete wie ein Kuckuck in ihrem Brustkorb.

Immer wieder fuhr sie mit dem Daumen über die Stelle, an der sich in der Realität das U-USB-Kabel befand. Es schickte ihre Seele regelmäßig von ihrem eigentlichen Körper in das Programm, aber nie dauerhaft. Sobald das Kabel gezogen wurde, war sie zurück. Nur ein Teil von ihr lebte auf Insel 002, obwohl es sich längst anfühlte, als wäre dies ihre wahre Heimat.

Sie brauchte nur den Stecker ziehen und sich hinter die Monitore klemmen, vielleicht fand sie dann einen Hinweis auf den gefräßigen Vogel in ihrem Herzen. Doch etwas hielt sie zurück. Wie konnte es sein, dass sie vergessen hatte, wer mit ihr zusammenlebte? Sie hatte ihr Gesicht vor Augen, ihr Lachen im Ohr. Juniper war keine umprogrammierte Seele. Sie war nicht nur Bestandteil eines Codes, der beliebig erweitert oder verkürzt werden konnte. Juniper hatte ein Recht auf ihre Erinnerungen.

Nervös nestelte sie an dem Stecker herum. Gleich würde sie ihn ziehen. Aber was, wenn der Administrator wieder so unwirsch zu ihr war, keine Zeit hatte? Sie teilte schon seit zehn Jahren das Labor mit ihm und kannte seine Launen.

Juniper holte tief Luft und ließ die Hand wieder sinken. Warum scherte sie sich um ihr Herz? Dort draußen gab es Probleme, die größer waren als ihre. Und sie hatten in all den Jahren keine nennenswerten Fortschritte gemacht. Allmählich ging ihnen die Zeit aus.

Dann schüttelte sie den Kopf und zog an dem unsichtbaren Stecker. Einen Moment lang war alles so weiß, dass sie hoffte, endlich zu sterben und im Programm bleiben zu können, ohne Verpflichtungen. Für immer in dem schönen Haus, für immer versorgt, für immer jung, aber für immer allein. Sie riss die Augen auf und versuchte, ihre Atmung zu kontrollieren. Mortimer sollte sie nicht hören, denn es hatte etwas furchtbar Erniedrigendes, wenn er sie direkt nach der Rückkehr aus dem Programm sah. Juniper setzte sich langsam auf und stellte fest, dass sie nassgeschwitzt war. Beim Anblick ihrer faltigen Hände, die nach dem grauen Pullover griffen, wurde ihr schwer ums Herz. Wyoming Wonders stand unter dem orangenen Dreieck, das drei minimalistische weiße Bäume zeigte. Das Logo prangte auf ihrer Brust, obwohl es hier niemanden gab, der nicht wusste, wo er sich befand. Wozu brauchte es Konformität, wenn alle im selben Boot saßen? Juniper schüttelte die Gedanken hinfort und setzte sich mühevoll auf. Ihre Knie knackten. Sie ging an dem winzigen Spiegel vorbei, der zu gern ihr wahres Alter offenbarte. Seit zehn Jahren hatte sie ihre weißen Haare nicht mehr geschnitten. Sie waren schon in ihren Vierzigern ergraut und erinnerten Juniper stets an die Grausamkeit der Zeit.

Neben der Tür zum Monitorraum blieb sie stehen. Sie lauschte, hörte aber nur ein technisches Brummen und Finger auf einer Tastatur. Also verkniff sie sich ein Seufzen und trat ein.

»Mortimer.«

»Mo«, korrigierte er sofort.

»Juniper«, entgegnete sie.

»Hm?«

Der Administrator hatte keinen Humor. »Ich habe zu tun«, stellte er klar. »Kannst du warten?«

»Nun, Mortimer, ich bin die leitende Forscherin dieses Experiments. Meinst du nicht, dass ich mich selbst um meine Angelegenheiten kümmern kann?«

Beim Wort Angelegenheiten hob der Administrator die Augenbrauen.

»Aha«, machte er nur. »Dann sei bitte leise. Wir müssen uns konzentrieren.«

Erst jetzt bemerkte Juniper den R1 zu ihrer Rechten, der eng an der Wand stand und mit Kabeln an die zentrale Konsole angeschlossen war. Sein Lämpchen blinkte so schnell, dass es fast durchgängig leuchtete. Ein derart altes Modell hatte sie schon ewig nicht mehr gesehen. Warum legte sich Mortimer ausgerechnet so eine lahme Ente zu?

»Was macht er hier? Wenn er länger bleibt, solltest du ihn mir vorstellen«, scherzte sie.

»Sollte ich?«, fragte der Administrator schmunzelnd und drehte sich auf seinem Stuhl herum. »Das ist Augustin.«

»Er hat … einen Namen?«

»Ja. Auf Phil reagiert er ungern. Wir werden eine Weile mit ihm zusammenarbeiten. Und jetzt entschuldige mich bitte, es ist spannend.«

»Spannend?«, wiederholte Juniper und trat näher, ihre Hände in die Hüften stemmend. Wann war denn zum letzten Mal etwas Spannendes passiert? Doch als sie einen genaueren Blick auf die Bildschirme warf, erkannte sie, dass dort nicht Insel 002 zu sehen war. Stattdessen nahm tiefe Nacht die Monitore ein, nur unterbrochen von schummrigen Lichtern und Zahlenkolonnen, die der Administrator in einem beachtlichen Tempo bearbeitete oder löschte. Zeile für Zeile ratterte über das Bild, ein unaufhaltsamer Strom aus Informationen.

»Ich sehe nichts«, murmelte sie.

»Lies den Code, meine Güte. Für alles andere ist es ja offensichtlich zu dunkel.«

Juniper beugte sich vor, doch sie wurde nicht schlau aus dem, was in den Zeilen geschah. »Sieht chaotisch aus.«

»Nicht wahr? Ein richtiger Kampf, Frau gegen Frau! Herrlich.«

»Wenn Sie das meinen …«, meldete sich Augustin zu Wort. Juniper erschrak so sehr, dass es ihr peinlich war. Allerdings gehörte es sich nicht für einen Roboter, so einen drohenden Unterton in die Stimme zu legen – oder überhaupt unaufgefordert zu sprechen. Juniper fragte nicht weiter, sondern stellte sich neben Mortimer und zog eine Tastatur heran.

»Ich brauche gerade die gesamte Rechenleistung, June«, unterbrach er sie.

»Was zum Teufel tust du da genau? Ich möchte mich um meine Arbeit kümmern, und das, was du da machst, hat offensichtlich nichts mit Insel 002 zu tun.«

»Die können sich untereinander helfen«, winkte Mortimer ab und grinste, während er in eine Schüssel mit Popcorn griff.

»Hast du … den Mais geplündert?«, flüsterte Juniper entgeistert, aber er reagierte nur mit einer gelupften Augenbraue. Na klar, er war der Administrator. Er hatte das Sagen. Außerhalb der Experimente gab es nur ihn. Alle anderen Forscher verbrachten ihre Zeit in den Laboren und auf den Inseln. Sie warf Augustin einen zweifelnden Blick zu und ließ die Hände sinken.

»Eine Seele ist aus unserem Programm verschwunden, ich muss mich darum kümmern«, murmelte sie.

»Welchen Namen hat die Seele?«, fragte Mortimer, ohne sonderlich interessiert zu klingen. Er schob sich galant drei weitere Popcorn in den Mund und tippte mit der anderen Hand.

»Das … weiß ich nicht.«

»Dann solltest du dich besser informieren, June. Es ist immerhin dein Experiment, klar?« Sein Tonfall wurde frostig.

»Diese Carla Frenton hat die gesuchte Seele überschrieben, und irgendwie wurde auch der Name in … in meinem Kopf überschrieben, obwohl das gar nicht geht. Kannst du mir das erklären, Mortimer?«

Im nächsten Moment stand er auf, schnippte ein Maiskorn auf den Boden und sah dabei tief in Junipers Augen.

»Ich dachte, du hättest mir zugehört«, knurrte er. »Es wäre besser, wenn du mir den Gefallen tust und dich selbst darum kümmerst. Ich habe hier wichtige Dinge zu erledigen, die dich nichts angehen.«

»Die Bezeichnung ihrer Seele steht aber auf dem Bildschirm. Was stellst du mit ihr an?«

Plötzlich drängte Mortimer sie gegen die Wand neben Augustin und schnürte ihr mit seinem Unterarm die Luft ab. Juniper schnaufte, ins Mark erschüttert. Sie kämpfte gegen den Druck, trat nach ihm, ohne Erfolg. Seine hochgekrempelten Ärmel offenbarten zwei hellblau leuchtende Flächen. Direkt vor ihr leuchtete jenes Tastenfeld, das er nutzte, um die Roboter zu steuern. Wofür der Rest gut war, wusste Juniper nicht, aber sie ahnte, dass Mortimer einige Geheimnisse unter seiner Haut verwahrte.

Abrupt ließ er los. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, Mortimer schüttelte den Kopf. »Verzeihung, das hätte nicht sein müssen. Ich bin etwas gestresst.«

Juniper hätte es eher explodiert genannt. Schwer atmend trat sie zur Seite, weiter von ihm fort. Ihre Gedanken jagten einander und wurden dabei immer schneller.

Mit einem frustrierten Laut legte Mortimer seine Hände in den Nacken, wandte sich von ihr ab und ging zurück zu den Monitoren. »Ich kann mich nicht um dich kümmern, aber wir bekommen das hin. Hab ein wenig Geduld, June.«

 

Ihr Puls hatte sich längst nicht beruhigt, im Gegenteil. »Sicher«, presste sie hervor.

Der Administrator warf einen kurzen Blick über seine Schulter, seine Mimik verriet nichts. »Danke.« Dann widmete er sich einem Bedienfeld auf seinem rechten Arm und kontrollierte mit eiligen Kopfbewegungen die großen Bildschirme. »Ich kümmere mich persönlich um Carla, verlass dich darauf.«

Kapitel 05

Das Meer war verschwunden. Ihr Leben lang hatte Kira das Rauschen in ihren Ohren getragen, nun war es totenstill. Sekundenlang schwebte sie im endlosen Weiß. Dann entstanden darin undeutliche Streifen, die sich zu Polygonen formten. Aus dem Boden erhoben sich dünne Grashalme, die an Farbe gewannen und Schatten erhielten. Steine erschienen dazwischen, als würde eine unsichtbare Hand sie woanders aufsammeln und sorgfältig platzieren. Bäume sprossen aus der Erde, ihre Wurzeln hoben den Boden an. Dann öffnete sich der Himmel, tiefblau. Der Mond strahlte so hell, dass es unangenehm war.

Kiras Beine waren butterweich. Sie stolperte ins Gras und atmete hektisch. Ihre Lungenflügel fühlten sich an, als hätte sie jemand herausgenommen und halbherzig wieder eingesetzt. Die Venen brannten zustimmend. Als Kira an sich herabsah, stellte sie fest, dass es ihr eigener Körper war. Nicht jener von Carla oder der Person, die Carla zu sein schien. Außerdem trug sie wieder das grüne Sommerkleid, das sie beim Sprung von Insel 317 getragen hatte. Sie fröstelte und ließ ihren Kopf fallen, sank in die Wiese wie in ein weiches Bett, in dem sie sich verstecken konnte.

Was gäbe sie dafür, allein zu sein, für den Rest ihres Lebens. In Frieden. Keine Aufregung mehr, keine durchgeknallten Administratoren oder Roboter. Ein Stich zuckte durch ihr rasant schlagendes Herz. Kein Aaron.

Wo er auch steckte, er existierte. Er wollte garantiert nicht allein leben, in dieser Hinsicht unterschied er sich von Kira. Er hatte Marv, Raik und Malik, seine Freunde. Selbst Celia und Finja würde er auf eine gewisse Weise vermissen. Aber Kira? Wer würde an sie denken, wenn sie verschwand?

Sie kniff die Augen zusammen und musterte den Mond über ihr. War er schon immer so groß und leuchtend? In einer Mischung aus lähmender Angst und unheimlicher Faszination beschloss sie, nicht wie ein kopfloses Huhn aufzuspringen und herumzurennen. Erst einmal wollte sie ein wenig nachdenken. Vielleicht half das, ausnahmsweise.

Leider hatte der Himmel andere Pläne. Gerade, als sich ihr Atem normalisiert hatte, schwebten schwere Wolken vor die einzige Lichtquelle. Aus tiefblau wurde schwarz.

Kira fuhr hoch und lauschte. Ihre Haut prickelte, weil sich die feinen Härchen zu einer Armee aufstellten. Natürlich war da nichts, kein Ungeheuer, keine Bedrohung. Es waren nur Wolken. Zumindest nahm sie nichts anderes wahr.

Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte sie sich nach oben, dehnte kurz ihre Schulter und vernahm ein wohltuendes Knacken. Im Stand erkannte Kira, dass sie nicht allein gewesen war. Zwischen den Bäumen zu ihrer Linken lauerte ein verschlafenes Dorf mit schiefen Laternen, glimmenden Fenstern und rauchenden Schornsteinen. Der Rest lag in dicht gewobener Schwärze. Das Gras unter Kiras Füßen war zwar zu hören, wenn sie darauf lief, aber mehr gab ihre Umgebung nicht her. Hatte der Administrator das Licht ausgeschaltet? Eine Sekunde lang spielte sie mit dem Gedanken, nicht auf ihn hereinzufallen. Aber er würde sie selbst in einem Schwarzen Loch finden, nur anhand einer Codezeile.

Vorsichtig trat sie den Weg in die Siedlung an, die Fäuste geballt, aber nicht erhoben. Künstliche Wasserläufe zogen sich durch das Straßenpflaster, das matte Licht der Häuser ließ die Rinnsale schimmern. Die Menschen auf dem Dorfplatz hatten dunkle Gesichter, in denen kaum ein Funken Leben zu finden war. Niemand zeigte Interesse an ihr, noch weniger als die Seelen von Insel 002. Vielleicht ging die Sonne in diesem Experiment niemals auf. Vielleicht waren dies Verstorbene, die aus anderen Experimenten hergebracht worden waren, um neu programmiert zu werden. Dieser Ort war dann so etwas wie das Gegenteil von Insel 002. Kira wusste nicht, wie schnell das Programm die Seelen verteilen konnte. Gerade, als sie diesen Gedanken abschließen wollte, erblickte sie die Gestalt einer jungen Frau. Sie stand mit dem Rücken zu ihr, aber trotzdem erkannte Kira sie. Jetzt ahnte sie, warum sie hergebracht worden war.

Basílissa Hana von Ruan, Forscherin von Insel 317, hatte lange versucht, genetisch perfekte Paare zusammenzubringen. Sie startete mit ihrem Ziehsohn Aaron und der schüchternen Franca. Im Gegensatz zu Aaron hatte Franca sich allmählich mit der ganzen Sache angefreundet. Sie hatte sich in ihn verliebt. Als Kira über die Grenze geschlichen war, um Aaron im Kampf gegen die beiden Herrscher zu unterstützen, hatte sie gleichzeitig Francas Beziehung zerstört. Schließlich war die Situation eskaliert. Als Aaron, Kira und Augustin den finalen Versuch starteten, die beiden Forscher von Insel 317 loszuwerden und an das Passwort für das Experiment zu kommen, kippte die Insel. Dieser Zustand ließ sich nicht aufhalten, ohne dass Kira und Aaron das Programm veränderten. Kira musste sich dabei mit Franca zusammentun, da das Mädchen zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen war. Kiras Fäuste schmerzten. Wenn sie Franca doch bloß in den Gassen zurückgelassen hätte! Dann hätte sie keinen Kampf begonnen und wäre nicht von der Insel gefallen. Nach ihrem Aufprall hatte das System sie aufgefangen. Für die Bewohner von Insel 317 war sie jedoch gestorben.

Rückwärtsgehend wollte Kira zurück ins Dunkel. Andererseits – was konnte das schmächtige Mädchen gegen sie ausrichten? Vielleicht half es ihr sogar weiter, mit ihr zu reden. Es würde nicht angenehm werden, auf keinen Fall. Franca nahm ihr die Entscheidung ab und drehte sich um, als hätte sie auf ein geheimes Codewort gewartet. Ihr feixendes Gesicht schimmerte wie Perlmutt.

»Ich würde an deiner Stelle stehen bleiben«, zischte sie. Keine der apathischen Gestalten reagierte auf sie. »Wir sollten uns unterhalten, so von Geist zu … was bist du? Bist du nicht auch tot?«

»Nein, wir können nicht sterben«, entgegnete Kira und kam ihr einige Schritte entgegen. »Geht es dir gut?«

»Klar doch«, grummelte Franca und ließ ein Messer in ihrer Rechten aufblitzen. »Ein Leben in vollkommener Dunkelheit statt mit Aaron auf einer sommerlichen Insel. Wer möchte das nicht?«

»Meinst du wirklich, dass du und Aaron eine gemeinsame Zukunft gehabt hättet?« Kira hätte sich gerne umgesehen, aber sie wollte Franca keine Sekunde aus den Augen verlieren.

»Wenn du nicht gewesen wärst – ja. Er hätte sich nicht blenden lassen, alles wäre beim Alten geblieben. Die schöne Grenze, die Überwachung, unsere geliebte Basílissa … das fehlt mir furchtbar. Diese Insel hier ist anders, sie ist verdammt langweilig, Kira. Und stockfinster. Es gibt hier keine Möglichkeit einer Rettung, und es gibt auch kein Meer, in das ich springen könnte.«

»Es gibt hier kein Meer?«, wiederholte Kira stirnrunzelnd. Dass es solche Orte gab, war ihr neu. Das erklärte das fehlende Rauschen.

»Nein«, grinste Franca. »Aber weißt du, das ist gar nicht schlimm. Es gibt viele andere Arten, zu sterben.«

Kira zuckte zurück, als Franca losrannte. Ihr Messer glitt durch die Luft, touchierte Kiras Kleid und hinterließ einen dünnen Schnitt.

»Was willst du von mir?«, keuchte Kira.

»Aaron. Er ist bei dir.«

»Nein, ist er nicht.«

Francas Augen zitterten wütend. Hatte der Administrator ihr etwas versprochen, das er nicht eingehalten hatte? Von der alten, schüchternen Franca war so oder so nichts geblieben. War dieses Experiment daran schuld? Oder war sie schon immer so gewesen, und Kira hatte es nicht bemerkt?

Plötzlich schwang Franca das Messer direkt vor Kiras Nase. Sie wollte zurückweichen, aber die Klinge streifte über ihre Wange. Kira schrie auf, riss den Kopf zurück und schlug reflexartig mit der Hand nach Franca.

»Der Schmerz ist echt, hm?«, summte sie. »Auch als Geist kann ich dir wehtun. Auf verschiedene Weisen. Doch am meisten schmerzt etwas anderes, findest du nicht?« Sie hielt einen Moment inne. »Ich werde den Gedanken nicht los, dass du Aaron nie geliebt hast. Kannst du mir das Gegenteil beweisen?«

Kira ging einen weiteren Schritt rückwärts und stieß gegen einen Pfahl, der vielleicht eine kaputte Straßenlaterne war.

»So etwas kann man nicht beweisen«, murmelte sie. »Warum willst du mir ständig einreden, dass ich Aaron nicht liebe?«

»Wir sind in einem Programm.« Franca machte eine ausschweifende Handbewegung. »Wir alle. Wie kannst du wissen, was echt ist? Und man kann hier sehr wohl etwas beweisen.«

»Gefühle nicht.«

»Das bekümmert mich. Meinst du wirklich, dass du im Fall der Fälle nicht beweisen könntest, dass du ihn liebst? Würdest du für ihn von einer Insel springen, selbst wenn du weißt, dass du nicht zurückkehrst?«

»Das habe ich getan. Und es ist ein verdammt schreckliches Gefühl, nicht zu wissen, wo Aaron gerade ist«, flüsterte Kira. Sie fuhr mit dem Handrücken über den Schnitt und versuchte, das Blut zu ignorieren, obwohl ihre Knie weich wurden. Dann ließ sie die Hand nach vorne schnellen. Sie traf Franca im Gesicht. Das Mädchen gab einen erstaunten Laut von sich und holte mit dem Messer aus. Kira war flinker, sprang erst zurück und trat im nächsten Augenblick wieder vor, um Franca in die Magengrube zu boxen. Plötzlich traf sie ein Schlag an ihrer rechten Schläfe, der sie benommen machte, aber nicht zu Boden gehen ließ. Orientierungslos suchte sie nach der Hand, die das Messer führte, und erkannte sie zu spät. Ein zweiter Schwung streifte ihre Nasenspitze knapp. In einer unbeholfenen Bewegung riss sie die Arme hoch und schaffte es, Franca zu überraschen und die Waffe aus ihrer Hand zu schleudern. Allmählich klärte sich ihr Blick, doch in der Dunkelheit war das Messer verloren. Jetzt blieb ihr rohe Gewalt. Kira hatte sich nie im Nahkampf geübt und wäre lieber dem Instinkt gefolgt, wegzulaufen, doch in ihr züngelte eine kolossale Wut. Franca sollte dafür bestraft werden, was sie gesagt hatte. Sie sollte Aaron endlich aufgeben! Und vor Kira sollte sie sich fürchten.

Jetzt ballte sie die Fäuste und schlug erst mit ihnen zu, dann mit dem Ellenbogen. Kira wusste, dass sie stümperhaft aussah, aber immerhin war sie schnell genug, um Franca zu überraschen. Das Mädchen sagte etwas, doch sie hörte nicht hin. Stattdessen schlug sie ihr direkt ins Gesicht. Das dumpfe Knacken zeugte von einer gebrochenen Nase. Zumindest hoffte Kira das.

»Gib auf«, höhnte sie und ließ für einen Moment ihre schwache Deckung gänzlich fallen. Erst spürte sie einen Tritt an ihrem rechten Knöchel, der ihr den Boden unter den Füßen entriss, dann einen zweiten auf Kniehöhe. Francas Hände schnellten vor, trafen ihre rechte Wange und die linke Schulter. Im nächsten Moment lag das Mädchen auf ihr und schlug mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft auf sie ein. Kira versuchte, ihr Gesicht mit den Armen zu bedecken. Keuchend überlegte sie, ob sie kapitulieren sollte. Doch ihr Zorn war längst nicht verpufft, ihre Kräfte nicht gänzlich aufgebraucht. Sie trat Franca in die Lenden und erhielt ein erzürntes Keuchen. Unter Zuhilfenahme ihrer Fäuste und Ellenbogen schlug Kira nach dem mittlerweile rot leuchtenden Kopf, bis sie sich von Franca lösen und torkelnd aufstehen konnte. Franca grummelte etwas Unverständliches und erhob sich ebenfalls. Ihr Blick konnte Stahl schneiden und sorgte für einen glutroten Schimmer in der Dunkelheit. Mit einem Schrei lief sie erneut auf Kira los, die nicht lange zögerte, sondern ihrem ureigenen Trieb Folge leistete: Sie machte kehrt und rannte. Wie eine Furie kreischend folgte Franca ihr, griff erfolglos mit ihren Klauen nach ihr. Was hatte das Programm aus ihr gemacht? Welche Macht hatten drei Jahre Dunkelheit?

Dieses Experiment hatte keine verschlungenen Gassen, sondern klar strukturierte Linien. Beinahe trat Kira in einen der vielen Wasserläufe, aber sie schaffte es rechtzeitig mit einem großen Schritt hinüber. Sie warf einen Blick zurück und erkannte Franca knapp hinter ihr. Im nächsten Moment spürte sie glitschigen Untergrund unter ihrem linken Fuß, Wasser drang in ihre Schuhe. Sie rutschte zu Boden und landete auf dem Kopfsteinpflaster. Erst hörte sie Franca lachen, dann traf sie ein betäubender Schlag an der Schläfe.

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