Zwei Kontinente auf Reisen

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Z serii: Zwei Kontinente #1
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Kapitel 05

Vier Tage vergingen, bis der Wind ruhig genug war. Schließlich versammelten sich zwölf starke Männer an einem breiten Stück Kante. Ein anderes Dutzend wurde an das andere Ende der Insel geschickt. Khan Elliott hatte verkündet, dass es sicherer sei, wenn sie ein gleich großes Gegengewicht hatten. Die Vorbereitungen hielten bereits den ganzen Tag an, Augustin war zum Mittelpunkt des Treibens geworden. Aaron half ihm dabei, ein Bergsteigergeschirr anzulegen, das in einem der leerstehenden Schaufenster der Ladenstraße gelegen hatte.

»Ich könnte das nicht, Papa«, meinte er blass und ließ einen Karabiner zuschnappen. Seine Finger zitterten so sehr, dass Augustin sie sanft umschloss und lächelte. Vater und Sohn standen etwas abseits von den Männern, die sich ausnahmsweise nicht über irgendetwas stritten. Kira stand in Hörweite auf einer halb verfallenen Veranda und blickte hastig weg, sobald einer der beiden zu ihr herübersah.

»Vielleicht war ich ja in meinem vorherigen Leben Bergsteiger«, lachte Augustin. Aaron fand das gar nicht komisch, stattdessen begann er damit, seine Knöchel zu kneten.

»Ich weiß, dass du dich fürchtest, aber dafür brauchst du dich nicht zu schämen«, beruhigte Augustin ihn. »Du fürchtest dich vor Höhe, na und? Jeder hat vor etwas Angst, das ist ganz normal.«

Aaron betrachtete seinen Vater nachdenklich. »Wovor hast du Angst, Papa?«

Augustin beugte sich zu ihm herab, wobei das Geschirr klapperte. Einen Moment sah er aus, als würde er lediglich mit einem bitteren Lächeln antworten.

»Ich habe Angst vor dieser Insel.«

Aarons Augen weiteten sich erstaunt, doch Augustin lachte plötzlich und schloss ihn in die Arme.

»Aber ich habe dich, damit bin ich furchtlos. Du bist mir wichtig, sogar wichtiger als alles, was um uns herum geschieht.«

»Pass bitte auf dich auf, ja?«, bat Aaron. Sein Kinn bebte, und mittlerweile hatte er das Zittern seiner Knie nicht mehr unter Kontrolle. Sie standen nur wenige Schritte vom ungesicherten Abgrund entfernt. An manchen Stellen der Insel endete einfach eine abgebrochene Straße in der Luft, woanders führte eine trockene Wiese einen steilen Abhang hinunter. Sie waren an einem Ort, der früher ein Sportplatz gewesen sein musste, denn ein verlorener Basketballkorb zeigte in Richtung des Meeres. Vereinzelt konnte man die Linien des Spielfeldes erahnen.

»Und jetzt geh zurück zu Kira, ja? Lass sie nicht zu nah an den Abgrund. Essen wir später Gemüsepizza?«

Aaron schüttelte überlegend den Kopf. »Wir könnten auch eine Wurstkonserve öffnen, zur Feier des Tages.«

»Guter Plan! Das wollte ich hören.« Mit diesen Worten fuhr Augustin durch Aarons dunkles Haar und sah ihn aufmunternd an. Dann hob er den Kopf und winkte Kira zu. Sie drehte sich peinlich berührt zur Seite und tat so, als hätte sie nicht jedes Wort verstanden. Augustin schob seinen Sohn sanft in ihre Richtung.

»Jetzt geh schon, Aaron. Du musst nicht länger als nötig an der Kante stehen. Du zitterst ja schon.«

Aaron nickte. »Viel Glück! Bis gleich.«

Dann eilte er zu Kira auf die zerstörte Veranda.

»Wann geht es denn endlich los?«, begrüßte sie ihn. »Diese Warterei ist langweilig.«

Aaron gesellte sich neben sie. »Es ist gleich soweit.«

»Hoffentlich lohnt sich das alles.«

»Hat doch auch seine Vorteile.« Der Ruaner sah sie aufmunternd an. »Keiner der Erwachsenen konnte uns trennen oder uns etwas verbieten.«

Kira grinste schief und beobachtete die Helfer. »Das können die sowieso nicht.«

Die starken Männer beendeten ihr Gespräch, als Augustin zu ihnen trat. Obwohl der Boden hier nicht zitterte, achtete jeder auf seine Schritte. Plötzlich tauchte Khan Elliott neben Aaron und Kira auf, was das Lächeln beider verschwinden ließ. Da er nichts sagte, war er offenbar nur auf der Suche nach einem Platz in der ersten Reihe.

Gemeinsam beobachteten sie, wie diverse Seile an Augustin befestigt wurden. Sie endeten in einer Winde, die an einer Litfaßsäule klebte. Eine Zeit lang hatte Kira versucht, eines der ranzigen Plakate zu entziffern, aber die Männer hatten die Säule systematisch zu einem Anker umfunktioniert, sodass kaum ein Wort unverdeckt geblieben war. Von der Säule führten unzählige Seile zu den umliegenden Häusern. In ihrem Kopf sah es wie eine neuartige Abrisskonstruktion aus, und dieser Gedanke machte Kira Angst. Sie sah sich vor, Aaron davon zu erzählen. Allerdings hatten ein ruanischer Architekt und selbst Kiras Vater, der ehemalige Immobilienmakler, die Konstruktion erarbeitet. Am Vortag hatten sie Getreidesäcke abgeseilt, die sechs Mal schwerer als Augustin waren.

Aaron warf ihr einen fragenden Blick zu. Offenbar machte sie sich solche Sorgen, dass er es ihr anmerkte. Sie versuchte, ihre Maske aus Gleichgültigkeit wieder aufzusetzen.

»Khan Elliott, ich habe eine Frage«, begann Kira. Aaron löste den Blick nicht von ihr, doch sie hütete sich, ihm zu begegnen.

»Ich bin ganz Ohr.«

»Was genau ist ein Khan?«

»Na, ich bin der Khan.« Elliott zwinkerte. Heute hatte er seinen Cowboyhut nicht aufgesetzt, obwohl die Sonne unnachgiebig vom Himmel knallte. Verschlimmert wurde die Hitze dadurch, dass seit Tagesanbruch wenig Wind wehte. »Aber ich wette, du willst eigentlich wissen, was das Wort bedeutet.«

Kira nickte. Sie würde es spannender finden, ihrem Vater beim Schnarchen zuzuhören, während sie in einer Zeitung jedes O ausmalte.

»Der Khan war der Titel eines persischen oder mongolischen Herrschers. Sagt dir Dschingis Khan etwas?«

»Nö. Was ist … persisch und mongolisch?«, fragte sie weiter. Ihr Herz wummerte heftiger, selbst Aaron musste es hören können. Genau in dem Augenblick, als Kira es kaum aushalten konnte, verlor Aaron sein Interesse an ihrer Mimik.

»Das sind asiatische Länder, die es schon sehr lange nicht mehr gibt«, plauderte der Khan.

»Es gibt die meisten Länder nicht mehr«, murmelte Aaron missmutig.

»Persien gab es schon lange vor dem Sturm nicht mehr, Neunmalklug«, meinte Elliott mit zusammengekniffenen Augen. »Der Titel des Khans ist ziemlich alt und sehr ehrwürdig.«

»Okay, und warum bist du dann einer?«, wollte Aaron wissen, er sah Elliott herausfordernd an. Dieser zog wütend seine Augenbrauen zusammen. Im Gegensatz zu Hana konnte er den Jungen nicht einfach ohrfeigen.

»Eigentlich bin ich wie ein Anführer. So wie der einer Bande, bloß könnt ihr euch nicht aussuchen, ob ihr in der Bande seid oder nicht. Ich hätte mich auch König, Scheich oder Basileus nennen können, aber ich habe mich für den Namen des Khans entschieden. Die alte Weltordnung besteht nicht mehr, da darf ich das doch wohl.« Elliott klang wie ein aufmüpfiges Kind, obwohl er bereits graue Haare bekam.

»Basileus?«, fragte Kira kritisch. Von einem König oder Scheich hatte sie schon einmal gehört. Wenn Emilia ihr Märchen vorlas, gab es fast immer einen dieser beiden Herrscher.

»Oh, der Basileus war der Titel von mehreren Herrschern im alten byzantinischen Reich.«

»Denkst du dir das gerade aus?«, fragte Aaron stirnrunzelnd.

»Nein, verdammt!« Elliott wurde allmählich ungehalten. »Du kannst die Basílissa fragen – sie hat sich dafür entschieden, die weibliche Form dieses Titels zu tragen. Ich finde, dass man mit dem Wort Khan viel mehr anfangen kann als mit ihrem Titel, aber ihr findet es ja ausgerechnet albern, dass ich –«

»Es geht los!«, rief einer der Männer, woraufhin Elliott endlich verstummte. Kira sah dabei zu, wie Basílissa Hana zu Augustin hinüberging, der von vier Seilen gehalten wurde und nun von seiner Herrscherin die antike Kamera überreicht bekam.

»Ich hoffe, sie funktioniert«, murmelte Aaron. »Ich will unsere Insel auch sehen.«

Hana entfernte sich nun von den Männern und erlaubte den Beginn des außergewöhnlichen Spaziergangs. Augustin winkte, während er Stück für Stück unter der Kante der Insel verschwand. Kira zögerte nicht länger und sprang auf. Die Basílissa gebot ihr mit einer raschen Handbewegung Einhalt.

»Störe die Männer nicht, Kira«, fuhr sie das Mädchen an. Sie blieb murrend auf der Terrasse stehen und streckte sich, trotzdem konnte sie Augustin nicht mehr sehen. Da waren nur noch zwölf starke Männer, etliche Seile und der blaue, ruhige Ozean.

Kira beugte sich auf dem Geländer vor und wollte den Khan gerade bitten, ein wenig zur Seite zu gehen, als dieser nach hinten sackte.

»Ähm, Khan Elliott?«, fragte sie, um kein weiteres Aufsehen zu erregen. »Ist alles in Ordnung?«

Mit einem lauten Schnarchen beantwortete Elliott ihre Frage. Am liebsten hätte Kira ihm ins Gesicht geschlagen, und auch Aaron stand vor Empörung der Mund offen. Was für eine Unverschämtheit, einfach einzuschlafen! Entnervt standen sie auf und gingen zu der Basílissa, die nur wenige Schritte von der Terrasse entfernt stand.

Die Angst ließ nicht lange auf sich warten, dieses Mal spürte selbst Kira, was in Aaron vorging. Er wurde bleich und stolperte zitternd voran. Kira griff nach seiner Hand und sah ihn beunruhigt an, während die Basílissa vom Geschehen abgelenkt wurde.

»Etwas weiter nach links!« Augustins Stimme klang dumpf und fern, seine Befehle waren höflich. »Und geht das bitte etwas ruhiger? Ein Foto habe ich schon verschossen!«

»Wie sieht es aus?!«, rief Kira und drückte Aarons Hand fester. Hana hielt ihr reflexartig den Mund zu, während sie über das Mädchen schmunzelte.

»Du bist wirklich ungeduldig, kleine Amerikanerin«, stellte sie fest und löste ihre Hand wieder. »Aber das wundert mich nicht, Elliott ist genauso.«

Ihr Blick schweifte auf der Suche nach dem Khan ab, als hätte sie sich gerade erst an dessen Anwesenheit erinnert. Sie entdeckte ihn auf der Terrasse, mit dem offenen Mund gen Himmel.

 

Hana erbleichte.

»Kira, Aaron – tut mir einen Gefallen«, sagte sie langsam und griff nach ihrem Handgelenk, als fühlte sie ihren Puls.

»Was ist denn?«, hakte Kira besorgt nach. Auch Aaron wurde hellhörig, sein Händedruck wurde fester.

»Es ist alles in Ordnung, aber ich muss mich kurz hinsetzen, ja? Macht euch keine Sorgen.« Mit diesen Worten sank die ruanische Herrscherin in sich zusammen. Aaron und Kira starrten sie mit offenem Mund an.

»W-was war das denn? Ist sie tot?«, brachte Aaron heiser hervor. Er beugte sich vor, wobei ihm offenbar immer noch schwindelig war.

»Quatsch«, kommentierte Kira und machte eine zustimmende Bewegung mit ihrer freien Hand, als ein zartes Schnarchen von Hana zu hören war.

»Das ist seltsam, Elliott ist eben auch einfach eingepennt«, meinte Aaron. »Schlafen die alle nicht genug?«

Kira schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich glaube, es ist etwas Anderes«, meinte sie. »Vielleicht eine Krankheit oder so etwas.« Eilig hob sie ihren Arm und verdeckte ihren Mund mit dem Ärmel der Strickjacke. Aaron schüttelte etwas orientierungslos den Kopf und beugte sich zu der Herrscherin hinunter. Bis auf ihren Brustkorb und den Boden unter seinen Füßen bewegte sich anscheinend nichts.

»Er sagte, wir sollen ihn weiter herunterlassen!«, fluchte einer der Männer. Erschrocken sahen Kira und Aaron auf. Einer der Amerikaner – er hatte die größten Muskeln und die wenigsten Haare – diskutierte angeregt mit einem ehemaligen Profiboxer, der auf der ruanischen Seite den Gottesdienst leitete.

»Das ist Blödsinn, er hat gerade erst gerufen, dass wir anhalten sollen!«

»Hast du etwas an den Ohren? Das war bevor er hier hochbrüllte, dass er noch weiter runter will. Warum hat euer blödes Fliegengewicht kein Walkie-Talkie dabei, hä? Ich lasse mich nicht gerne von euch anschreien!«

»Ach, halt die Klappe!«, entgegnete der Ruaner und stampfte wütend auf, während er eine Hand vom Seil löste und wild damit gestikulierte. Im selben Moment erzitterte der Erdboden.

»Halt verdammt nochmal deine dummen Füße still, du Idiot!«, fluchte einer der Amerikaner. Noch ehe Protest aufkommen konnte, erzitterte die Erde erneut, mit einer völlig anderen Intensität.

Kira versuchte, Aaron zurück in den halbwegs sicheren Bereich der Klippe zu bringen, doch er glich einer Marmorstatue.

»Papa!«, keuchte er atemlos. In dem Chaos aus Männern konnte er erahnen, dass einige das Seil losgelassen hatten, andere klammerten sich daran, als wären sie diejenigen, deren Leben einzig und allein daran hing. Das Beben wollte nicht aufhören, rüttelte sie weiter durch.

Vor Kiras inneren Auge zerschmetterte Augustin an der Insel. Fieberhaft sah sie sich nach einer Möglichkeit um, festen Halt zu finden.

»Sieh mal, die beiden schlafen immer noch!«, rief sie aufgeregt und deutete auf Hana und Elliott, die sich trotz der Bewegungen des Bodens nicht aufrichteten, sondern friedlich weiterschliefen. Aaron hörte gar nicht zu. Er versuchte, die Männer zu erkennen, die das Seil hielten, und warf einen prüfenden Blick zu der Litfaßsäule. Die Tatsache, dass sie sich nicht gerührt hatte, beruhigte die beiden nur so lange, bis Kira und Aaron die fehlenden Seile entdeckten. Plötzlich vernahmen sie ein peitschendes Geräusch, gefolgt von einem Aufschrei.

»PAPA!?«

Aaron stürzte zur Kante und bahnte sich atemlos einen Weg durch die Männer, die entsetzt am Boden lagen.

»Verdammt, wie konnte das passieren?«, rief jemand. Fassungslos blickte er in die Tiefe und dann in seine leeren Finger. »Wieso haben wir losgelassen?«

Aaron sank auf die Knie, die Erde schüttelte seine Knochen durch. Kira folgte ihm, erreichte die Kante mit einer schrecklichen Ahnung. Die Welt um sie herum wurde zu einem einzigen Tunnel, an dessen Ende Aaron saß und weinte. Schmerz zuckte durch ihre kleine Brust, drückte ihre Lungenflügel zusammen.

»NEIN! P-PAPA!«, rief Aaron aus vollster Kehle. Er beugte sich über die Kante und schreckte sofort zurück. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, sogar mehr als das. Kira kam es vor, als hätte Aaron seinen Körper verlassen. Einzig das unaufhörliche Zittern bewies, dass er noch lebte. Kira konnte nicht anders, als ihn fest in die Arme zu schließen. Er war starr und kalt, kein Laut kam über seine Lippen.

So plötzlich, wie das Beben begonnen hatte, hörte es wieder auf. Elliott und Hana stürmten aus dem Nichts zu den am Boden liegenden Männern, wobei Hana direkt zu Aaron und Kira eilte.

»Es tut mir leid«, brachte sie hervor, als hätte sie den Sturz verhindern können. »Aaron, bitte entschuldige … wir hätten es niemals so weit kommen lassen dürfen.«

Doch Aaron hörte nicht, versank in Kiras Armen und ergab sich endlich seinem Schmerz.

***

Augustin fiel in die Fluten hinab. Sein Schrei war verstummt, kein Platschen war zu hören. Er spürte nicht einmal, wie das Wasser ihn umschloss und verschluckte.

Es kam ihm vor, als wäre sein Leben schon lange vor dem Aufprall beendet gewesen. Als zöge es sich noch ein letztes Mal in die Länge, um den freien Fall zu genießen.

Sein Leben flimmerte nicht vor seinem inneren Auge vorbei, für einen Moment wusste er nicht einmal, ob er je eines besessen hatte. Augustin war sich sicher, dass das nicht an den Mechaniken seines Geistes lag, sondern an den wenigen Höhepunkten seines Lebens.

Seine Gedanken waren nur bei Aaron. Er dachte daran, wie er ihm das Laufen beigebracht hatte, an seine ersten Worte. An den fulminanten Schokoladendiebstahl, den Augustin nach Aarons Meinung immer noch nicht aufgeklärt hatte. An das schwarze Teleskop mit den weißen Punkten, das er ihm zum sechsten Geburtstag geschenkt hatte. An die Linsen für das kupferne Teleskop mit den türkisen Ranken, die nun für immer in dieser einen Schublade versteckt blieben würden. Der Schlüssel lag auf dem Tresen, dort hatte Augustin ihn erst heute Morgen gesehen. Er wünschte sich, dass er ihn mitgenommen hätte. Für einen schmerzlichen Augenblick begriff er, dass er keine Geheimnisse mit in den Tod nahm.

Augustin hatte sein Leben lang meist das ausgesprochen, was er dachte, und was er für richtig hielt. Er hatte der ganzen Welt gezeigt, wie sehr er nach dem Tod von Aarons Mutter getrauert hatte. Er hatte Aaron nie ein Gefühl vorenthalten, ihn nie wirklich belogen. Bis auf dieses eine Mal.

Doch er, der Idiot, hat den Schlüssel einfach auf dem Tresen liegen lassen.

Kapitel 06

Sowohl Amerika als auch Ruan verfielen in eine Schockstarre, als sie von Augustins Tod erfuhren. Doch schon am Abend verkündete Elliott, dass die Grenze möglichst bald erhöht werden sollte. Es gab vereinzelte Proteste, der Khan wurde als gefühllos und vorschnell beschimpft. Im selben Atemzug wurden Zweifel laut. Wie lange die Trauer um Augustin anhalten könnte, wann die Konflikte erneut beginnen würden. Hana legte schließlich fest, dass es zum Wohl der Kinder geschah, und damit war die Grenze beschlossen.

Die Amerikaner und Ruaner plünderten ihre Trümmerbauten und rissen Teile eines alten Parkhauses auseinander. Die Mauer, die sich schließlich quer über den Marktplatz zog, ähnelte einer Barrikade aus der französischen Revolution, allerdings erfüllte sie ihren Zweck. Die Kinder konnten die Seiten nicht mehr wechseln, und die Erwachsenen wurden am Durchgang auf dem Marktplatz abgezählt, damit Gleichgewicht herrschte. Gleichzeitig wurden die gefährlichen Kanten abgesperrt, was Kiras Spielflächen erheblich verringerte. Da Aaron vorübergehend von Hana aufgenommen wurde, war sie ohnehin allein. Nach dem Vorfall hatte sie keine Gelegenheit mehr gehabt, mit ihm zu sprechen. Alles war nur noch Nebel.

Kira beschloss, dass sie sich nicht in der Nähe der Grenze aufhalten sollte, um Celias Bande zu entgehen. Seit die Krähe und Malik voneinander getrennt waren, trafen sie sich beinahe täglich an einer bestimmten Stelle der Mauer. Sie befand sich hinter dem verwilderten Park, in dessen Mitte der silberne Tower stand. In der Nähe der Gewächshäuser, in denen Tomaten, Auberginen und Kartoffeln herangezüchtet wurden, gab es ein Schlupfloch, das niemand bewachte. Manchmal war Kira die Einzige, die darauf Acht gab. Sie saß mit dem schwarzen Teleskop in einer nahen Ruine und beobachtete die anderen Kinder. Aaron fehlte ihr, allerdings konnte sie ihn nie entdecken. Immer, wenn sie ihr Teleskop nach Ruan richtete, spielte sie mit dem Gedanken, ihrer Mutter davon zu erzählen. Sie war traurig geworden, als sie von Augustins Tod hörte, sie würde bestimmt verstehen, dass Aaron ihr fehlte. Aber seit dem Sturz hatte Kira der Mut verlassen. Als sie an einem Morgen versehentlich Celia begegnete, lief sie einfach davon. Tage vergingen ohne Streitereien, ohne Beben, doch Kira war nicht glücklich. Ganz und gar nicht.

An einem trüben Tag machte sie es sich in ihrer liebsten Ruine gemütlich, was praktisch unmöglich war. Dieser Ort war ziemlich seltsam, denn er besaß unzählige Räume, die ähnlich eingerichtet waren. Hinter jedem der unzähligen Tische befand sich ein metallener Stuhl, und an den Wänden hingen Poster mit kaum erkennbaren Zeichen und Formen.

Manchmal ärgerte es Kira, dass sie nicht lesen konnte. Emilia hatte es schon oft versucht, doch Kira hatte nicht einmal Interesse daran, die sechsundzwanzig Buchstaben unterscheiden zu können. Oder waren es achtundzwanzig?

Missgelaunt betrachtete sie die heruntergekommenen Wände. Das Gebäude sah nicht aus, als stünde es erst seit neun Monaten leer, aber sie konnte mit eigenen Augen beobachten, wie die Stadt zu zerfallen begann. Manche sagten, dass das an der Hitze und den sandigen Winden lag. Eugene behauptete, dass das Magnetfeld schuld war. Als es ausgeschaltet wurde, prasselten Trümmer von draußen auf die Stadt nieder. Viele Menschen wurden von Schutt erschlagen, denn an diesem Tag hatten sich alle auf dem Marktplatz versammelt, um dabei zu sein, wenn sich ihnen der neue Himmel zeigte. Doch dieser Himmel traf nichts anderes als den Ozean. Wo vorher Land war, war nun Wasser. Doktor Mortimer, ein längst ergrauter Ruaner, hatte bei den meisten einen schweren Schock diagnostiziert, der bei einigen offenbar noch immer anhielt. Auch Kira fiel es schwer, sich an diesen Tag zu erinnern.

Heute saß sie auf zwei zusammengeschobenen Tischen, trank Wasser aus einer Plastikflasche und sah durch ihr schwarzes Teleskop. Wie konnten die anderen Kinder von dem Ort wissen, den Aaron ihr gezeigt hatte? Als er Kira versprochen hatte, dass er einen sicheren Ort kannte, an dem die Erwachsenen sie nie finden würden, hatte er diesen gemeint. Direkt neben den Gewächshäusern lag eine Ansammlung von uralten Garagen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Autos der Insel waren die dortigen nicht auseinandergenommen worden. Sie waren muffig, knallrot und historisch. Aaron behauptete bei ihrem ersten Besuch, dass sie einem verrückten Reichen gehört hatten. Sie hatten sich in eine Garage geschlichen und hinter das Steuer gesetzt, das helle Leder gestreichelt und vergeblich nach Autoschlüsseln gesucht.

Seufzend sah Kira dabei zu, wie Celia, Finja und Raik sowie einige andere Kinder das Loch in der frisch gezogenen Grenzmauer durchkletterten und mit einem alten Pappschild tarnten. Ihr Blick reichte kaum über die hohe Mauer, allerdings ahnte sie, dass auf der anderen Seite eine Menge ruanischer Kinder waren. In dieser Gegend wohnte niemand – im Zentrum standen schließlich genügend Häuser frei, und die meisten entschieden sich nach freiem Ermessen für irgendeine Bleibe – aber trotzdem fand Kira es mutig, dass die Anderen Lärm machten. Hatten sie keine Angst, entdeckt zu werden? Oder war das eine Form der Rebellion?

Kira schnalzte mit der Zunge. Sie wusste nicht genau, was eine Rebellion war. Eugene hatte das Wort immer wieder in den Mund genommen, nachdem Augustin gestorben war. Es klang so, als wäre es etwas Schlimmes. Doch da es ihr Vater war, der das Wort in diesem Zusammenhang verwendete, war sie sich dabei nicht sicher.

Am Ende des Tages verließen die Kinder das Versteck wieder. Jemand machte Handzeichen, und Kira glaubte, von ihren Lippen ein »Die Luft ist rein« ablesen zu können. Für eine Sekunde verspürte sie das Verlangen, ein Teil der Bande zu sein. Als die schwarzhaarige Anführerin auftauchte, überlegte sie es sich jedoch anders.

Als es Abend wurde, spielte sie mit dem Gedanken, nach unten zu gehen und nach Aaron zu fragen. Kira hatte keine Gewissheit, dass er dort war. Was, wenn Celias Freund, dieser Malik, ihr begegnete und Celia davon erzählte? Darauf konnte sie verzichten. Sie wartete, bis der Wind das einzig verbleibende Geräusch war, dann machte sie sich auf den Heimweg.

 

***

Kira schreckte auf. Ein feines Klackern hatte sie geweckt. In ihrem Traum kam es von unendlich hohen Pfennigabsätzen. Basílissa Hana war einfach in ihr Zimmer gelaufen, quer über ihr Bett. Sie hatte Mutters geliebte Bücher aus dem Regal gefegt, eines nach dem anderen. Mal schleuderte sie eines aus dem Fenster, mal in Kiras Gesicht. Das Mädchen klammerte sich hingegen mit aller Macht an den kleinen schwarzen Karton, in dem das Teleskop schlummerte, und hoffte, dass alles nur ein Traum war. Sie setzte sich auf und sah sich atemlos um. Tatsächlich, hier lagen keine Bücher herum. Was hätte Hana auch in ihrem Zimmer verloren? Lächerlich.

Sie wollte sich gerade die Decke über den Kopf ziehen, als sie das Klackern erneut hörte. Schon saß sie kerzengerade zwischen den Laken und blickte zögernd zum Fenster. Kam das von draußen?

Langsam ließ sie sich zu Boden gleiten. Ihre Füße berührten das angenehm kühle Holz nur kurz, schon sprang sie auf den Schreibtisch und sah hinunter auf die Straße. Ein weiteres Steinchen flog gegen das Fenster und ließ sie zusammenzucken.

Aaron stand dort unten in der morgenblauen Düsternis und sah sich regelmäßig nach allen Seiten um. Als er Kira entdeckte, winkte er sie heran. Sie nickte und stieg eilig vom Tisch herunter. Noch im Nachthemd öffnete sie vorsichtig die Tür, schlich die Treppe in den schummrigen Flur hinunter und schlüpfte in die großen Gartenschuhe ihrer Mutter, die direkt neben der Kommode standen. Einen von Eugenes Stiefeln schob sie in den Rahmen der Tür, damit sie nicht zufiel.

»Aaron!«, flüsterte sie freudig. »Ich habe dich schon vermisst!«

Der Junge machte einen verlorenen Eindruck auf sie. Jemand hatte sein Haar kürzer geschnitten, es wirkte beinahe militärisch. Er trug engere Kleidung, die jener von Hana ähnelte. Nur der schwarze Ohrring war ihm geblieben.

»Hey, Kira«, begrüßte er sie. »Ich bin ein feiges Huhn.«

»Ich weiß«, meinte sie kichernd. »Warum bist du diesmal eines?«

»Weil ich mich tagsüber nicht über die Grenze traue. Hast du es schon gesehen? Unser altes Versteck wurde von den Banden eingenommen. Sie haben ein Loch in die Grenze geschlagen und die Garage geöffnet, in der dieser alte Mustang steht. Der, in dem ich dir gezeigt habe, wie man Auto fährt.«

»Ach, das rote Auto meinst du«, lachte Kira. »Ich dachte kurz, du redest von Pferden.«

»Manchmal bist du ganz schön doof«, lachte Aaron, doch sein Lachen verstummte sofort wieder. Er sah sich erneut um, konnte jedoch niemanden entdecken. Selbst jetzt gab es keine Laternen, auch an der Grenze nicht. Es war für ihn kein Problem gewesen, sich an dem laut schnarchenden Wachmann vorbeizuschleichen. Kira lehnte sich zur Seite, um hinter Aaron zu blicken. Das charakteristische Schnarchen ihres Vaters drang zu ihnen hinüber. Sie fragte sich, wann er einmal nicht schlief.

»Wie geht es dir?«, fragte Kira etwas ungelenk.

»Ganz okay«, meinte er und atmete so lang und zitternd aus, dass sie ihre Frage bereute.

»Tut mir leid, dass ich gefragt hab. Ich wundere mich nur oft, was du den ganzen Tag machst.«

»Ja, das frage ich mich auch oft. Es gibt leider keinen Weg, dich häufiger zu sehen.«

»Wie meinst du das?«

»Die Basílissa hat mich aufgenommen. Sie will mich unterrichten, in ihrer Schule.«

»Ihrer … was

»Ihrer Schule. Lehrer kommen und bringen mir tausend langweilige Dinge bei. Hana sagt, sie wird auch einige Stunden übernehmen. Sie meint, irgendjemand müsse mir etwas Sinnvolles beibringen.«

»Aber wozu solltest du etwas lernen? Du kannst schon alles!«

Der Junge lachte, wobei der Ohrring erzitterte. »Kira, das ist nicht alles. Hana will, dass ich ihr Nachfolger werde. Sie sagt, ich sei schlau genug dafür.«

»Ich finde auch, dass du schlau bist«, strahlte Kira. »Wenn du noch Zeit hast, darfst du gerne auch mein Nachfolger werden.«

Aaron lächelte gequält. Er schwankte unruhig von einem Bein zum anderen. »Ich versuche, dir etwas zu sagen.«

Sie legte den Kopf schief und sah ihn verständnislos an.

»Wir werden uns ab sofort nicht mehr sehen. Heute ist der letzte Abend vor Unterrichtsbeginn. Hana sagt, ich solle ihr Haus nicht mehr verlassen, bis sie mich für reif genug hält oder … oder so ähnlich. Sie will nicht, dass Elliott ihr reinpfuscht. Wenn du verstehst, was ich meine.«

Doch Kira verstand nur eines. Unablässig schüttelte sie den Kopf. »Wir dürfen uns nicht mehr sehen? Nie wieder?!« Sie wich zurück, ihre Lippen bebten.

»Für eine lange Zeit, fürchte ich«, gestand Aaron. »Ich kann versuchen, abzuhauen. Heute Nacht hat es ja auch geklappt.« Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, doch Kira erwiderte es nicht.

»Das kaufe ich dir erst ab, wenn wir uns das nächste Mal sehen«, schimpfte sie und baute sich vor ihm auf.

»Kira, es tut mir leid, aber … es geht hier nicht nur um dich.« Aarons Augen flimmerten. »Mein Papa ist gerade gestorben, ja? Ich kann nicht weitermachen wie bisher.«

»Aber ich kann dir helfen!«, meinte Kira und versuchte, nach Aarons Hand zu greifen. Er zog sie zurück und schüttelte langsam den Kopf.

»Ich … ich komme dich besuchen, wenn ich es schaffe. Aber ich möchte keinen Ärger mehr bekommen.« Er sah sich erneut um und lauschte kurz dem scheußlichen Schnarchen von Eugene Solomon. »Gute Nacht, Kira.«

Mit diesen Worten ging er erst einige Schritte rückwärts, winkte halbherzig und wandte sich ab, um über die Grenze in ein anderes Land zu verschwinden.

***

In den kommenden Nächten tat Kira kein Auge zu. Sie klammerte sich eine ganze Weile an das Teleskop, bis sie es schließlich auf dem Schreibtisch platzierte und versuchte, es auf das Tor in der Grenze auszurichten. Leider konnte sie nur einen Teil der Mauer erkennen, der aus alten Paletten und einem Stück Beton errichtet worden war. Es wäre auch zu schön gewesen, wenn sie von hier oben aus ihrem Vater beim Schnarchen zusehen könnte. Heute sah sie ihn jedoch immer wieder auf den verschiedenen Seiten der Grenze patrouillieren. Kira fragte sich, welchen Sinn es hatte, dass die Erwachsenen Tag und Nacht verhinderten, dass ein Kind auf die andere Seite kam. Sie mussten sich ziemlich sicher sein, dass sie nie gerettet wurden – und dass die Kinder darum umso kostbarer waren.

Doch eine andere Frage beschäftigte sie noch stärker. Wo war Augustin nun? Sie schaffte es, nicht allzu genau über eine Antwort nachzudenken, denn allein der Gedanke daran verursachte ein kaltes Loch in ihrer Brust. Jedes Mal, wenn sie sich an Augustins Lächeln erinnerte, schüttelte sie es fort, doch sein Gesicht tauchte auf, sobald sie die Augen schloss. Sie stellte sich schaudernd vor, wie seine Seile nachließen, den kurzen Moment des freien Falls. Den Aufprall, das Nichts danach. Vier Nächte schlief sie nicht, sah ständig auf die Straße herunter. Betrachtete die kleinen Dellen in der Scheibe, welche die Steinchen dort hinterlassen hatten. Dann wurde ihr Blick abgelenkt, von anderen kleinen Punkten, die oben am Himmel funkelten.

Sie richtete ihre Linse dort hinauf. Zwischen den Häusern erstrahlten aberhunderte Sterne, obwohl die Dächer viele verdeckten. Jeder einzelne von ihnen war wunderschön. Kira konnte gar nicht anders, als sie unablässig anzusehen. Sie versuchte, sich ihre Positionen zu merken, benannte einen Stern nach Augustin. Schon bald scheiterte sie bei dem Versuch, sich all die neu entdeckten Bilder zu merken.

Die Tage verbrachte Kira so, wie ihr Vater es am liebsten tat: Leise schlummernd in ihrem Bett oder dem blauen Sessel im Wohnzimmer. Nachts wartete sie auf Aaron und studierte die Sterne.

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