Zwei Kontinente auf Reisen

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Z serii: Zwei Kontinente #1
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Kapitel 02

Die Grenze leuchtete als helle Linie auf dem Marktplatz, noch ehe der Rest der benachbarten Insel in die Fluten gestürzt war. Kira saß in ihrem Zimmer fest. Ihr Vater hatte ihr verboten, zurück an die Kante zu gehen. Sie wohnten eine schmale Gasse vom Marktplatz entfernt, die Stadt versperrte die Sicht zum Meer. Wenn Kira sich Mühe gab, konnte sie allerdings ein kleines Stück der weißen Farbe sehen, die zwischen den Häusern aufblitzte. Dafür musste sie sich auf ihren wackeligen Schreibtisch stellen, was ihr ein mulmiges Gefühl gab. Die Erinnerung an ihren Sturz ließ sie schnell wieder heruntersteigen.

Misstrauisch betrachtete sie den Tisch, als wäre er schuld an der ganzen Situation. Da er sich erwartungsgemäß nicht rührte, gab sie auf und sah sich gelangweilt im Zimmer um. Bis unter die Decke standen Bücherregale, denn ihre Mutter nutzte den Raum als Bibliothek. Kira konnte nicht lesen, und sie mochte den Geruch der alten Seiten nicht. Emilia Solomon hingegen meinte, es gäbe auf der Insel kaum etwas Wertvolleres. Wenn sie mit Kiras Vater sprach und den Schatz im oberen Stockwerk erwähnte, wusste Kira nie, ob ihre Mutter die Bücher oder ihre Tochter meinte.

Wut kroch in ihr hoch, verstopfte ihre Kehle wie ein widerspenstiges Wort. Am liebsten wäre sie Kreise gelaufen, bis sie sich beruhigt hatte, doch das Zimmer war zu schmal dafür. Also warf sich Kira auf das Bett und wollte gerade ihr Gesicht in den Kissen vergraben, als ihr das kupferne Taschenteleskop entgegenrollte und an den Kopf schlug.

»Au«, fluchte sie, rieb sich die Schläfe und betrachtete das schöne Werkzeug skeptisch. Warum hatte Augustin es ihr gegeben? Es sah viel zu wertvoll aus, um es grundlos zu verschenken. Außerdem hatte er ihr heute das Leben gerettet, warum machte er ihr danach ein zweites Geschenk? Noch dazu war sie eine Amerikanerin.

Kira sprang vom Bett und griff nach dem Teleskop. Es hatte drei kleine Beine, damit es sicher auf dem Schreibtisch stehen konnte. Sie richtete das Okular aus und sah gespannt durch die große Linse. Alles, was sie sah, war das zerschlagene Fenster des gegenüberliegenden Hauses. Es war winzig und stand auf dem Kopf. Kira zog ihren Kopf ruckartig zurück und betrachtete das Gerät verwirrt. Sie brauchte einen Augenblick, um ihren Fehler zu bemerken. Nervös drehte sie die größere Linse in Richtung der Fensterscheibe, atmete tief durch und wagte einen erneuten Blick.

Jetzt sah sie alles richtig herum, das Fenster war gigantisch. Sie konnte die fein verästelten Risse in der Scheibe sehen, die sie an einen kahlen Baum erinnerten. Sanft bewegte sie das Teleskop. Für einen Moment wurde ihr schwindelig, dann entdeckte sie tatsächlich das weiße Stück Grenze.

Kira blähte die Nasenflügel und wich von dem Teleskop zurück. Hatte sie gerade richtig gesehen? Schnaubend beugte sie sich vor und drückte die große Linse leicht nach unten. Tatsächlich! Genau in der Mitte ihres Sichtfeldes stand dieser dunkelhaarige Zehnjährige und sah zu ihr hoch.

»Frechdachs«, grummelte sie und sprang auf. Kira schnappte sich ihre Strickjacke, die über der Stuhllehne hing, und stürmte aus dem Zimmer. Auf dem Flur erinnerte sie sich, dass ihr Vater ihr Hausarrest erteilt hatte, also lauschte sie aufmerksam. Endlich vernahm sie sein vertrautes Schnarchen, das aus dem Wohnzimmer die hölzerne Treppe hinaufdrang. Gleichzeitig hörte sie ihre Mutter in der Küche mit Geschirr klappern. Kira lächelte, wobei sie angestrengt ihre Zunge zwischen den

Zähnen einklemmte. Sie schlich zur Treppe und nahm jedes Mal eine Stufe, wenn ihr Vater ausatmete. Dabei gab er ein tiefes, schnodderiges Dröhnen von sich, das die Insel durchaus kippen lassen könnte. Kira war aus der Haustür gehuscht, ehe Eugene zehn Mal am Untergang ihrer Heimat gearbeitet hatte.

Noch immer war es warm draußen. Der Wind pfiff unangenehm zwischen den Häusern hindurch und fuhr unter ihre Kleidung. Die meisten trugen trotz der Hitze, die sich in den vergangenen neun Monaten kaum verändert hatte, Schals und langärmelige Jacken. Der Wind brachte Staub mit sich, der gegen die Haut prasselte.

Kira schlenderte möglichst gelassen zu Aaron hinüber, obwohl ihr Herz schneller schlug. Sie fand den Jungen ziemlich unheimlich. Warum stand er dort und starrte? Hatte sie ihm nicht deutlich genug gesagt, er solle verschwinden? Eigentlich hatte sie damit nicht nur den Rand gemeint, sondern jeden Ort auf der gesamten Insel.

»Hey, die Insel ist groß. Warum stehst du ausgerechnet hier?«, begrüßte sie ihn möglichst lässig, wobei sie ihre Arme unkoordiniert baumeln ließ. Bis auf den Jungen waren lediglich zwei Menschen auf dem Platz. Ein Schreiner hämmerte an einem der Marktstände herum und ein ruanisches Mädchen lief zwischen den Gassen auf der anderen Seite umher, ohne in die Nähe der Grenze zu kommen.

»Du bist frech«, entgegnete Aaron. Er krempelte die Ärmel seines dunkelroten Pullovers hoch, als wäre das eine Drohung. »Wollte nur sehen, ob du mit dem Teleskop zurechtkommst.«

Kira musterte ihn von oben bis unten und stellte fest, dass er mit der Schuhspitze auf der Grenze stand.

»Ja, komme ich. Ich bin schon groß.«

»Du bist sieben.«

»Ich bin acht, hörst du nicht zu?« Kira zwängte die Augen zusammen und sah ihn durchdringend an. »Du bist ein ganz schön feiges Huhn, Aaron.«

»Das hast du schon einmal gesagt.«

Während Kira sich weiter über die Grenze lehnte, wich Aaron einen halben Schritt zurück und hob die Hände, als wäre sie ein schnüffelnder Jagdhund.

»Kannst du das mal lassen?«, fluchte er.

»Feiges Huhn! Traust dich nicht mal über die Grenze!«, stichelte Kira weiter.

»Ja, weil die Grenze ganz frisch gestrichen ist.« Aaron deutete auf den Boden, die Farbe glänzte kaum noch.

»Ach was«, spottete Kira. »Dann pass auf!«

Sie hob angriffslustig die Arme und ging einen langsamen und großen Schritt vorwärts, direkt über die Linie. Überrascht schnappte Aaron nach Luft und wankte. Schon stand er genau auf der Grenze, blickte hinab und stellte verärgert fest, dass die Farbe klebrig war. Dann erkannte er Kiras süffisantes Grinsen.

»Du hast gehört, dass sich die Erwachsenen um uns sorgen«, meinte Aaron finster. Er löste seinen Fuß vom Weiß und trat zurück auf die ruanische Seite, wobei er dünne Spinnweben aus Farbe hinterließ. »Machen wir es ihnen nicht noch schwerer.«

»Zwei Worte!«, höhnte Kira. Aaron stöhnte und rollte mit den Augen, bevor sie weitersprach. »Feiges Huhn!«

»Ich bin über die Grenze gegangen, was willst du denn noch?«, entgegnete er.

»Was wohl.« Kira blähte die Backen und funkelte ihn wütend an. »Ich möchte wissen, warum mich dein Papa heute gerettet hat.«

»Mein Papa ist nett. Er hält nichts davon, dass sich unsere Völker streiten.« Aaron lächelte schelmisch. »Oder hast du etwa nicht zugehört?«

»Das meinte ich nicht«, widersprach Kira. »Eigentlich wollte ich nicht wissen, warum er mich gerettet hat, sondern warum du es nicht getan hast. Du warst doch gleich da und hättest mich auffangen können.« Innerhalb weniger Worte klang sie traurig.

Aaron erstarrte.

»Tut mir leid«, brachte er hervor. »Ich wollte dir helfen, aber—«

»Ich verstehe schon« giftete Kira. Mit einem großen Schritt trat sie zurück auf die amerikanische Seite, um sich vor Aaron aufzubauen. »Dein Leben als feiges Huhn hat dich daran gehindert.«

Mit diesen Worten stapfte sie davon. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, sich noch einmal umzudrehen, doch dann verschwand sie wie der sandige Wind in den Schatten.

***

Keine einzige Wolke zeigte sich am Himmel, stattdessen war der Mond groß und rund zu sehen. Es war früher Nachmittag, und Kira richtete das kleine Taschenteleskop akribisch auf den Schemen aus, der wie ein blindes Auge über sie wachte. Sie liebte es, wenn der Mond tagsüber zu sehen war.

Seit einer halben Stunde hockte sie mit unendlicher Geduld im Innenhof und hatte sich zum Ziel gesetzt, von Anfang an alles fehlerfrei zu machen. Sie drehte das Gerät richtig herum, putzte eifrig über die Linse und bewegte das Rohr manchmal einige Millimeter vor, um es dann wieder an die ursprüngliche Position zu rücken. Allmählich nahmen kühle Schatten den kleinen Innenhof ein, der hinter dem Haus ihrer Eltern lag. Zu ihrer Linken und Rechten erhoben sich baufällige Häuser, die seit der Katastrophe unbewohnt waren. Ein Amerikaner wühlte sich an diesem Nachmittag durch die lockeren Bodendielen des linken Hauses, wobei er sich nicht bemühte, leise zu sein. Ein metallenes Scheppern unterbrach Kiras Konzentration, sie konnte aber nichts Verdächtiges entdecken. Ihr Blick suchte eilig den Innenhof ab und blieb an den kleinen Gemüsepflanzen hängen, die mitunter das einzige Grün waren, das man im Zentrum der Insel finden konnte. Die meisten Bäume hatten die Katastrophe nicht überlebt. Wenn es nicht der Sturm gewesen war, der sie entwurzelt und fortgerissen hatte, dann waren es die Menschen, die im Anschluss das Holz für den Wiederaufbau benötigen. Von jeder Art war ein Baum geblieben, verteilt über die gesamte Insel. Kira wusste, wo einige zu finden waren, die meisten waren viele Gehminuten entfernt. An heißen Tagen spannten die Völker daher große Sonnensegel zwischen den Ruinen auf, damit sie statt der Bäume Schatten spendeten.

»Na, schau mal einer an!«

Kira schreckte hoch und sah in das spitze Gesicht von Celia. Sie war schon elf Jahre alt und galt als das stärkste Mädchen Amerikas. Der Kopf mit den schulterlangen, akkurat geschnitten Haaren schaute über den Bambuszaun, der den Innenhof säumte. Für einen Augenblick hatte sie geglaubt, dass dort eine hungrige Krähe gelandet war, doch Celia war viel schlimmer.

 

»Kiiira!«, flötete sie. »Magst du nicht mit uns spielen kommen?«

Ihre dünnen, starken Finger spannten sich an der Kante des Zaunes, als wollte die Krähe sich davon abstoßen, um zu ihrem Nest zu fliegen.

»Wir hätten dich so gerne dabei. Vor allem, seit du ein hübsches neues Spielzeug hast.« Von der anderen Seite drang Gekicher herüber.

»Das ist kein Spielzeug«, sagte Kira hastig. Ihre Finger waren wie gelähmt, als sie nach dem Teleskop greifen und es unter ihrer Strickjacke verstecken wollten. Sie wusste, dass das kindisch war.

In diesem Moment hüpfte Celias schwarzes Haar auf und ab. Sie holte kurz Schwung und zog sich mit einem Ruck am Zaun hoch. In einer fließenden Bewegung sprang sie hinüber und landete sicher wie eine Katze im Innenhof.

»Bitte, Celia!«, flüsterte Kira zaghaft, auf der Suche nach einer glaubwürdigen Lüge. »Es gehört meinem Vater!«

»Ist mir egal, wem es gehört.« Celia trat näher. Obwohl der Rest ihrer Bande feige hinter dem Zaun hocken blieb, war sie ebenso bedrohlich wie fünf starke Jungen. »Du bekommst schließlich mehr Ärger, wenn es deinem Vater gehört!«

Mit diesen Worten streckte sie ungeduldig die Hand aus und machte eine vielsagende Bewegung mit ihrem Zeigefinger.

»Verschwinde, mach schon! Oder i-ich rufe meine Eltern!« So entschlossen wie möglich stellte sich Kira vor sie und funkelte böse, doch Wut war nicht das einzige Gefühl, das in ihren Augen stand. Ohne es bemerkt zu haben, hatten sich Tränen angestaut, die nur auf den richtigen Moment warteten, um ihre Wangen herunterzulaufen. Kira wusste, dass Celia ihr das Teleskop wegnehmen würde.

»PAPA!«, rief Kira über ihre Schulter. Als sie den Kopf zurückdrehte, griff Celia rabiat nach dem Teleskop und lachte. Das Schnarchen aus dem Wohnzimmer verstummte zwar, aber Kira wusste, dass es zu spät war. Ihre Finger rutschten ab und überließen Celia das kupferfarbene Gerät. Die Krähe sah das Teleskop nicht einmal an. Mit einem bösartigen Lächeln hob sie es und öffnete nacheinander ihre Finger.

»Nein!«, rief Kira. Die Linse traf genau auf die hervorstehende Kante eines Pflastersteines und zerbrach mit einem fremdartigen, beängstigend lauten Knacken. Celia grinste, als sie Kiras Tränen fließen sah.

»Tja«, murmelte sie, zuckte mit den Schultern und war wenige Bewegungen darauf hinter dem Bambuszaun verschwunden.

Kira ließ sich auf den Boden sinken und versuchte, nicht laut zu weinen. Sie hob das Teleskop auf, aber drehte es nicht, denn sie wusste, dass es zerstört war. Ihr Geschenk von Augustin, dem tapferen Vater des feigen Huhnes. Ihrem Lebensretter.

In diesem Moment wurde die Tür zum Innenhof zur Seite geschoben, Eugene tauchte darin auf.

»Hast du gerufen? Warum weinst du?« Er blieb stehen, um die Lage zu überblicken, dann beugte er sich besorgt zu ihr herunter und streichelte über Kiras Rücken. »Ach, Kind, hast du es fallen gelassen? Du bist aber auch ungeschickt.«

Kira schüttelte unter Tränen den Kopf und wagte es nicht, von Celia zu erzählen.

»Ist alles nur halb so wild«, meinte Eugene und hob sie hoch. Kira umklammerte das Teleskop und versuchte, nicht daran zu denken, wie die zersplitterte Linse aussah.

»Kannst du es reparieren, Papa?«

Eugene lachte kurz auf. »Hach, du bist süß. Du weißt doch, dass ich zwei linke Hände habe.«

Das stimmte. Überall im Haus, wo Ausbesserungen nötig waren, sah es aus, als wäre ein kleiner Junge mit seinem ersten Werkzeugkasten aktiv gewesen. Eugene schaffte es nicht einmal, ein Bild gerade aufzuhängen. Er war der Meinung, dass zwei Nägel dafür nicht ausreichten und hämmerte oft so lange Löcher in die Wände, bis Emilia ihm den Hammer wegnahm und ihn fluchend anwies, Mörtel und Farbe zu besorgen.

Diese Tatsache bekümmerte Kira so sehr, dass sie kurz überlegte, ihrem Vater das Teleskop an den Kopf zu werfen und ihn dafür anzuschreien, ein schlechter, unfähiger Mensch zu sein. Er war vor der Katastrophe ein Immobilienmakler gewesen, ihn brauchte mittlerweile niemand mehr. Die Leute bezogen die Häuser, die am wenigsten zerstört waren, und stahlen sich Möbel und Ersatzteile aus den Ruinen. Manche Häuser waren erst durch die Plünderungen unbewohnbar geworden.

Seit einem halben Jahr arbeitete Eugene jede Nacht als Wachmann in einem Lagerhaus für Lebensmittel, wodurch er tagsüber meistens im Bett, in seinem samtblauen Lieblingssessel oder auf dem Marktplatz bei einer Diskussion zu finden war. Nun trug er Kira ins Haus und redete weiter auf sie ein, doch sie hörte nicht mehr zu.

Ihr Vater setzte sie mitten im Wohnzimmer ab und streichelte ihr unbeholfen über den Kopf, dann wartete er darauf, dass Kira in ihr Zimmer ging. Schließlich rümpfte sie die Nase, machte kehrt und lief in die Küche.

»Mama«, flüsterte sie. »Mama!«

Emilia Solomon saß am Küchentisch und löste ein Kreuzworträtsel, während auf ihrem Gasherd ein Topf mit Tomaten-Kartoffelsuppe köchelte. Ihre langen, hellroten Haare waren ihr ins Gesicht gefallen, wo unzählige Sommersprossen gezählt werden wollten. Kira wusste, dass sie vier Punkte mehr als ihre Mutter besaß. Auf der Fensterbank hinter ihr standen in bunten Töpfen Emilias letzte Kräuter, daneben ruhte eine winzige Gießkanne. Das einzige Geräusch war ein sanftes Blubbern.

Ihre Augen hellten sich auf, als Emilia sie erblickte. Sie senkte den Stift und zeigte innerhalb weniger Sekunden Freude und Besorgnis zugleich. Schon schob sie den Stuhl zurück und eilte zu Kira, die ihre Tränen immer noch nicht aufhalten konnte.

»Schatz! Was ist denn passiert?«

»Die blöde Celia hat mein Teleskop kaputt gemacht!«, wimmerte sie und hielt ihr das leicht zerbeulte Metall entgegen. Ihre Mutter runzelte die Stirn und ignorierte das Teleskop völlig.

»Celia? Ich dachte, du warst nicht auf der Straße, Schatz.«

»Sie ist über den Zaun geklettert, die blöde Krähe. Ich will nicht mehr draußen spielen, Mama!«

Emilia schüttelte den Kopf, nahm ihr mit einer galanten Bewegung das Teleskop ab und schloss ihre Tochter in die Arme.

»Es wird alles gut, Kira. Ich wurde früher oft geärgert, und sieh mich an. Mir geht es gut. Deine Wut wird verfliegen.«

»Die hat mein Teleskop kaputt gemacht!«, zeterte Kira und trommelte mit der flachen Hand auf dem Rücken ihrer Mutter herum. »Diese fiese Krähe hat mein Teleskop einfach kaputt gemacht!«

»Ich habe schon einmal mit Celias Mutter über ihr Verhalten gesprochen, mehr kann ich nicht tun«, meinte Emilia hilflos. »Soll ich etwa Celia zur Rede stellen und züchtigen?« Sie sagte das, als käme es überhaupt nicht infrage.

Kira blähte die Nasenflügel. »Ich fände das gut.«

»Och, Schatz …« Emilia schloss sie fester in die Arme. »Die Welt kann ungerecht sein. Aber auf unserer Seite der Grenze müssen wir zusammenhalten, das weißt du doch.«

Sie verstand das alles falsch, dachte Kira. So lieb sie ihre Mutter hatte, manchmal sagte sie dumme Dinge.

»Mama, kannst du es reparieren?«

Emilia löste die Umarmung und warf einen genaueren Blick auf das Teleskop. Ihre Augen verengten sich plötzlich.

»Woher hast du das? Es ist … schön«, meinte sie, ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. »Hat Papa es dir geschenkt?«

Kira schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. Mit Eugene hatte sie abgemacht, dass sie nichts von dem Beinahe-Absturz erzählen wollten, Emilia würde sich nur unnötig aufregen. Andererseits saß ihr der Schreck so tief in den Knochen, dass sie in der vergangenen Woche nicht einmal am Markttag auf die Straße gegangen war.

»Ich habe einen Jungen getroffen«, begann sie.

»Oh«, machte Emilia erfreut. »Einen Freund?«

»Einen Ruaner.«

»Oh«, wiederholte die Mutter, dieses Mal deutlich enttäuschter. »Wie das denn?«

»Ganz zufällig. Er wollte nicht mehr weggehen. Er heißt Aaron und hat einen Papa namens Augustin.«

Kurz sah Emilia aus, als würde ihr der Name etwas sagen. Sie öffnete die Lippen ganz leicht und atmete tief ein. »Von ihm hast du das Teleskop bekommen?«

»Ja, er hat es mir einfach geschenkt! Er sagt, damit kann ich Dinge beobachten, die ganz weit weg sind. Die anderen Inseln zum Beispiel, oder die Sterne! Kennst du Aarons Papa?«

»Er ist der Optiker.«

»Was ist ein Optiker?«

»Ein Mann, der sich mit Gläsern auskennt. Von Brillen zum Beispiel, oder von deinem Teleskop. Er ist der Einzige auf der Insel, der das macht.«

Noch ehe sie diese Worte ausgesprochen hatte, zuckten Emilias Finger, als wollten sie vor ihren Mund springen und den letzten Satz verhindern. Doch schon strahlten sie zwei bettelnde Augen an.

»Dann kann Augustin das Teleskop reparieren, oder? Oder? Bitte, Mama, lass mich zu Augustin gehen!«

»Du weißt, dass du nicht auf die andere Seite der Insel gehen darfst, Schatz. Allen Kindern wurde es verboten, und das ist auch gut so.«

»Aber du darfst!«

»Ich werde nicht zu Augustin gehen.«

»Warum denn nicht?« In Kiras wütend blitzenden Augen sammelten sich schon wieder Tränen. »Ist es dir egal, was mit dem Teleskop ist?«

Emilia schüttelte den Kopf. »Ich werde deinen Vater bitten, sich darum zu kümmern. Ich kann den Herd nicht unbeaufsichtigt lassen, Schatz.«

Kira nickte eifrig und steckte ihren Kopf aus der Küchentür. Im Wohnzimmer lag Eugene in seinem Sessel und war offenbar gerade erst eingeschlafen.

»Mist«, flüsterte sie wütend. »Als ob der sich heute noch um mich kümmert!«

Emilia machte ein betroffenes Gesicht. »Gedulde dich ein wenig.«

Aber Kira war längst durch die Stube gestiefelt. Wenn es niemanden sonst scherte, musste sie eben selbst auf die ruanische Seite gehen.

Kapitel 03

Wenn das Teleskop nicht kaputt gewesen wäre, hätte Kira keinen Gedanken daran verschwendet, die Grenze zu überqueren. In der amerikanischen Hälfte gab es genügend Orte, an denen sie ungestört spielen konnte – zumindest, solange Celia und ihre Freunde nicht in der Nähe waren.

Es war so früh am Morgen, dass die Sterne noch nicht ganz verschwunden waren. Wie ein galaktisches Band spannten sie sich über die Insel. In der allumfassenden Stille war nur das entfernte Rauschen des Ozeans zu hören. Manchmal hatte Kira das Gefühl, dass er die Insel fest umschloss und unentwegt versuchte, an ihr emporzuklimmen. Sie stellte sich vor, wie die Wassermassen bei dem Versuch immer wieder abrutschten. Die Insel hatte keinen Namen, denn die Völker hatten sich nie auf einen einigen können. Für Khan Elliott war dies Amerika, für Basílissa Hana war es Ruan. Manche behaupteten, dass auch das Gestein der Insel aus zwei Kontinenten geformt war.

Kira erinnerte sich kaum an die Katastrophe. Ihre Mutter sagte immer, dass die meisten Menschen schlimme Erinnerungen verdrängten, und dass sie froh darüber sein sollte.

Mit einem Lederbeutel, in dem sie das Teleskop und einige Münzen verstaut hatte, um Augustin zu bezahlen, stieg sie die dunkle Treppe hinunter. Eugene war auf der Arbeit und Emilia schlief. Sie ließ sich nicht leicht wecken, allerdings wollte Kira kein Risiko eingehen. Als sie das untere Ende der Treppe erreicht hatte, atmete sie erleichtert auf. Breit grinsend streifte sie ihre Schuhe über und ließ die Haustür sanft ins Schloss einrasten. Die Tür zum Innenhof hatte sie schon am Abend aufgelassen, da sie keinen Schlüssel für das Haus besaß. Wenn Celia es schaffte, über den Bambuszaun zu klettern, schaffte Kira das auch.

Gebannt blieb sie stehen und blickte die Straße hinunter. Keine einzige Laterne brannte, dazu fehlte schon seit Monaten der Strom. Ohnehin sollte niemand zu dieser Uhrzeit auf den Straßen umherirren. Kira überlegte, dass es trotzdem ganz gut wäre, zumindest ein paar Lichter anzuschalten – dann würde niemand aus Versehen vom Rand der Insel fallen.

Die Gasse zum Marktplatz war nachtblau und schummrig, trotzdem keimte in ihrem Inneren Wärme auf. Es kam ihr nicht vor, als würde sie etwas Verbotenes tun.

Die Luft war abgekühlt, der Ozean rauschte in der Ferne und den Ohren. Sie hatte ihre flachen Schuhe angezogen, damit sie niemanden mit dem Geräusch der Absätze aufweckte. Ihre Mutter liebte es, wenn sie schöne Lackschuhe trug, obwohl Kira sie bei jeder Gelegenheit zerkratzte und beschmutzte.

Sie trat auf den Marktplatz und sah sich angestrengt um. In den Schatten waren weder Wachleute noch die Betreiber der Marktstände zu sehen. In einigen Stunden würden sie kommen, um ihre wenigen Waren für den neuen Tag vorzubereiten.

 

Kira bemerkte erst, dass sie die Grenze übertreten hatte, als sie sich nach ihr umdrehte. Sie war mitten über den Platz gegangen und blieb nicht stehen.

Die Insel war nicht allzu groß. Kira wusste, dass sie Augustins Geschäft schon einmal gesehen hatte, allerdings konnte sie sich kaum an den genauen Standort erinnern. Sie beschloss, eine kleine Runde durch die Stadt zu drehen, und betrat eine Gasse, die auf der rechten Seite des Platzes tiefer in die Häuserschluchten der Ruaner führte. Zu dieser Uhrzeit waren die Ruinen ziemlich unheimlich. Der Wind bewegte die zerschlagenen Fenster mit unsichtbaren Händen, alles knarrte und schien zu leben. Bunte Tücher hingen über der Straße, sie wehten wie Gespenster. Kira folgte den Gassen an einigen halbwegs intakten Wohnhäusern vorbei, bis sie in einer langen Ladenstraße endeten. Früher waren diese Geschäfte voller Leben, heute waren sie verwaist. Die Ladenbesitzer hatten die Innenleben geplündert, um aus ihnen Stände für den Markt zu bauen. Kiras Herz wummerte, trotzdem blieb sie nicht stehen.

Zersprungene Leuchtreklame warb für einen vergangenen Sommerschlussverkauf und die Schuhkollektion einer ihr völlig unbekannten Prominenten namens Debra Hemingway. Von einem gigantischen Plakat sah diese Frau auf sie herab, ihr bleiches Gesicht durchbrach die Nacht wie ein mageres Monster. Nur die Wangen waren aufgespritzt, und ihre Lippen glühten förmlich. Sie hatte modifizierte, hellblaue Augen und trug trotzdem eine topmodische Brille, was Kira absurd vorkam. Sie wusste, dass die Modifikation dafür sorgen sollte, dass sie keine Brille mehr benötigte, aber vor der Katastrophe waren runde Brillen bei allen der letzte Schrei gewesen. Nirgendwo auf dem Plakat war ein Schuh der angepriesenen Kollektion zu sehen.

Kira wappnete sich mit einem Lächeln gegen das Model und zog kopfschüttelnd daran vorbei, um schließlich in der Mitte der Ladenstraße stehen zu bleiben. Schuhe, Bücher, eine Apotheke … sie ließ den Blick schweifen, bis sie das große Drahtmodell einer Brille an einem der Häuser entdeckte. Zufrieden näherte sie sich dem Schaufenster. Darin lagen auf flachen Regalen Sehhilfen, die meisten von ihnen hatten kreisrunde Gläser. Eine Brille mit eckigen Gläsern zu bekommen war seit der Katastrophe schwer, aber bei Weitem nicht das größte Problem der Bevölkerung.

Ihr Blick fiel auf einen eigenartigen Kasten, der inmitten der Brillen auf einem hölzernen Quader thronte. Es hatte einen runzeligen Schlauch, der sie an eine Ziehharmonika erinnerte, und besaß nur eine Linse. War das auch ein Teleskop?

Kira presste ihre Nase gegen die Scheibe, konnte dadurch jedoch nicht besser sehen. Dafür fiel ihr etwas Anderes auf.

»Oh«, machte sie und trat von dem Schaufenster zurück.

Das Geschäft hatte geschlossen. Warum hatte sie nicht gleich daran gedacht? Wenn die ganze Insel schlief, war es nicht gerade klug, ein Optikergeschäft zu betreiben. Obwohl diese klare Nacht zugegebenermaßen perfekt dafür war, ein Teleskop zu erwerben. Unschlüssig ging Kira einige Schritte zurück und betrachtete die Fenster des Hauses. Augustin wohnte bestimmt oberhalb des Geschäftes. Sie hatte keine andere Wahl, als ihn aufzuwecken. Sobald die Sonne aufging, konnte ein halbwegs intelligenter Ruaner feststellen, dass sie auf dieser Seite nichts verloren hatte.

Etwas hilflos sah sie sich um und versuchte, kleine Steine auf dem Boden zu entdecken. Sie ging in die Hocke und tastete sich durch die Dunkelheit, wobei die Münzen in ihrem Lederbeutel klimperten. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, Augustin seinen Lohn auf unkonventionellem Wege zu übergeben, da fand sie eine Handvoll kleiner Kiesel.

Sie wählte einen mittelgroßen, ovalen Stein für ihren ersten Versuch. Kira entschied sich für das rechte Fenster, zielte und warf. Das Geräusch konnte selbst sie kaum wahrnehmen. Wie sollte jemand davon aufwachen?

Sie ließ die Steinchen unwirsch zwischen ihren Fingern kreisen, dann schleuderte sie alle auf einmal gegen das Fenster. Ein kurzer Regenschauer ergoss sich darüber, trotzdem regte sich im Inneren nichts. Wütend suchte Kira nach einer Alternative.

Sie fand vor dem Schaufenster einen größeren Stein, der wie ein Ball in ihrer Hand lag. Ihre Zungenspitze lugte zwischen ihren Lippen hervor. Kira kniff angestrengt die Augen zusammen und steckte all ihre Kraft in den Wurf.

Die Scheibe zersplitterte krachend, Scherben fielen vor ihre Füße. Kira zuckte zusammen, dann hörte sie jemanden fluchen – allerdings aus dem linken Zimmer. Dort wurde eine Flamme entfacht, der Schein einer flackernden Lampe nahm den Raum ein. Alles in Kira schrie danach, zu verschwinden, aber ihre Füße waren wie festgenagelt. Das Licht verließ das linke Zimmer, um gleich darauf im rechten aufzutauchen. Jemand fluchte erneut, und Kira glaubte, die Stimme zu erkennen. Im nächsten Moment sah sie Aaron, der wutentbrannt in der zerbrochenen Scheibe auftauchte und auf Kira herunterstarrte.

»DU!«, rief er aus. »Was fällt dir ein!«

»Ich, ähm, habe das Ei gefunden, das du gelegt hast!«, entgegnete sie. »Es tut mir leid, dass ich damit euer Fenster kaputt gemacht habe, wirklich!«

»Willst du dich für irgendetwas rächen oder so? Man geht nicht zu fremden Leuten und wirft ihnen die Scheiben ein!«

»Ich habe mich doch entschuldigt!«, rief Kira. »Außerdem ist dein Papa Optiker, ihr habt bestimmt genug Glas da!«

Einige Häuser weiter öffnete sich ein Fenster. »Ruhe, ihr blöden Blagen! Wir wollen verdammt nochmal schlafen!«

»Dann halt den Mund!«, brüllte Aaron. Er hatte die Lampe abgestellt und das Fenster aufgestoßen, wobei sich eine Scherbe aus dem Rahmen löste und klirrend in einem leeren Blumenkasten landete. Der Junge beugte sich vor, um Kira besser sehen zu können.

»Was willst du?«, fragte er unwirsch.

Hastig zog sie das Teleskop aus dem Beutel hervor. »Jemand hat es kaputt gemacht, dein Papa ist der Einzige, der es reparieren kann.«

Aaron stöhnte. »Und jetzt willst du, dass ich ihn wecke, richtig?«

»Das wäre furchtbar nett«, meinte Kira. »Dann kaufe ich dir auch ab, dass du kein feiges Huhn bist.«

»Was soll das denn schon wieder!? Meinst du, ich traue mich nicht, meinen eigenen Vater zu wecken?« Aufgebracht wedelte er mit den Händen in der Luft herum. Kira hob die Schultern und machte ein unschuldiges Gesicht.

»Verdammt, mir reicht es!«, fluchte Aaron und schloss das Fenster. Seinem Blick war anzumerken, dass ihm die Sinnlosigkeit dieser Aktion zu spät auffiel. Er starrte durch die zersprungene Scheibe in den Morgen und atmete langsam aus. Dann stieß er das Fenster wieder auf, betrat mit Schwung das Fensterbrett und nahm plötzlich den Rahmen ein.

»Siehst du! Ich bin kein feiges Huhn!«, rief er.

»ABER DAFÜR BIST DU VERDAMMT LAUT!«, brüllte der Nachbar so deutlich, dass vermutlich auch alle anderen Bewohner der Ladenstraße aufgewacht waren. Aaron verkniff sich seinen bissigen Kommentar, stattdessen wurde er bleich.

»Wow, in einem Fensterrahmen kann ich auch stehen«, rief Kira unbeeindruckt. Aaron hingegen krallte sich fester in das Holz des Rahmens, als plötzlich zwei Hände seine Hüfte umfassten.

»Was zum Teufel tust du da?«

»Papa!« Aaron ließ sich erleichtert zurückfallen, was sein Vater mit einem gedämpften Stöhnen quittierte.

»Uff, mit wem sprichst du?« Ein unausgeschlafenes Gesicht tauchte im Fenster auf. »Oh. Hallo, Kira!« Augustin fragte gar nicht erst, was sie auf dieser Seite der Insel verloren hatte. »Aaron, wir unterhalten uns später. Geh bitte runter und öffne ihr die Tür.«

Widerwillig verschwand Aaron, begleitet von unzufriedenem Grummeln.

»Die Scheibe ist ja kaputt«, bemerkte Augustin matt.

»Es tut mir sehr leid, wirklich!«, beteuerte Kira ängstlich. »Ich wollte nur–«

»Alles ist gut, ja? Komm erst mal herein, dann sprechen wir in Ruhe darüber.« Augustin lächelte und war im nächsten Moment nicht mehr zu sehen.

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