Das Prinzip .garage

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Hast du dich spezialisiert, um dich von der Konkurrenz abzuheben?

Also alles fotografiere ich nicht. Ich glaube, ich bin vielseitig und mein Alleinstellungsmerkmal ist wahrscheinlich meine Doppelprofession. Das, was ich gut kann, ist, mit Menschen zu arbeiten und Menschen zu fotografieren, die sich nicht für besonders fotogen halten. Ich schaffe einen Rahmen, in dem sich meine Kunden, auch Fotoangsthasen, wohlfühlen. In dieser Atmosphäre entstehen Bilder, mit denen sich die Menschen identifizieren können. Von April bis September fotografiere ich Hochzeiten. Alles, was zu Emotionen und Natürlichkeit gehört. Trotzdem entwickeln sich weitere Themen. Mein Faible für Natur hat mir auch Felder eröffnet. So habe ich Kunstkarten erstellt, die von einem Förderverein hier aus der Gegend, in der ich lebe, verkauft werden. Dann habe ich eine Anfrage von einem Hotel, welches sich atmosphärische und emotionale Imagebilder wünscht.

Ich probiere mich aus. Mein Kerngeschäft ist aber die Arbeit mit Menschen. Hochzeiten, als ein Schwerpunkt und Porträts im weitesten Sinne als einen anderen Schwerpunkt. Ich habe aber auch andere kleine Samen gesät und schaue mal, was daraus sprießt. Zum Beispiel diese Postkarten, von denen ich eingangs erzählte. Oder es gibt ein Porträtprojekt hier im Ort mit Interviews. Das sind so kleine Geschichten, die sich nebenher ergeben.

Könntest du dir vorstellen, noch einmal angestellt zu sein?

Nein, im Moment nicht.

Wie ist es, trägt sich dein Geschäft schon? Kannst du davon leben, jetzt nach eineinhalb Jahren?

Es ist knapp. Die Förderungen sind ausgelaufen, das heißt, ich habe jetzt noch die Verlängerung des Gründungszuschusses beantragt. Aber auch der läuft ja irgendwann aus und dann erhöhen sich automatisch die Krankenkassenbeiträge. Dann kommt dazu, dass wir in diesem Jahr so einen langen Winter hatten, was sich negativ auf das Geschäft ausgewirkt hat. Ich habe wirklich das große Glück, dass ich notfalls auf Ersparnisse zurückgreifen kann. Also ganz ehrlich und konkret: Wahrscheinlich hätte ich diesen Weg gar nicht gehen können, wenn ich das Ersparte nicht gehabt hätte, was mir einfach auch eine gewisse Sicherheit gibt. Gut ist, dass ich relativ niedrige Investitionskosten hatte. Ich habe keinen Laden oder kein großes Studio, das ich finanzieren muss. Mal abgesehen von einigen technischen Ausrüstungsgegenständen, die ich einfach benötige, um professionell arbeiten zu können, halten sich also die Ausgaben im Rahmen. Ich musste aber in einigen Monaten immer noch etwas dazulegen, um über die Runden zu kommen. Es ist halt auch ein Saisongeschäft – also zum Beispiel die Hochzeitssaison. Die geht im Frühsommer los, da kommen große Aufträge, die mich wahrscheinlich über den Winter tragen. Aber allgemein gesagt, sind meine finanziellen Ziele definitiv noch nicht erreicht.

Hast du dir ein Budget gesetzt nach dem Motto: Das gebe ich rein und wenn das nicht reicht, muss ich mir doch etwas anderes suchen?

Es ist so, dass ich jetzt am Ende des Jahres Tabula rasa mache. Ich war bereits an dem Punkt, wo ich das Gefühl hatte, dass es knapp wird und da habe ich mir schon auch überlegt, wie es perspektivisch weiter geht. Ob ich mir noch einen Job suche, um auch sozialversicherungstechnisch abgesichert zu sein. Aber wenn ich darüber nachdenke, kommt sofort die Frage: Was soll ich machen? Wenn ich mir einen Job suche, bei dem man mich als ungelernte Kraft für 20 Stunden einstellt, dann verdiene ich kaum Geld. Da mache ich zwei oder drei Fotojobs und habe am Ende unterm Strich dasselbe raus. Natürlich könnte ich wieder in meinen alten Beruf zurückgehen, aber genau das wollte ich ja nicht mehr.

Hast du Angst davor, dass du – um es mal bildhaft zu sagen – das Pferd immer noch reitest, obwohl es schon tot ist? Oder dass du an den Punkt kommst, wo du dich zu stark selbst ausbeutest?

Natürlich gibt es diese Angst. Aber da habe ich durch mein Burnout gelernt, auf mich selbst aufzupassen.

Hast Du einen Plan B?

Nein. Volles Risiko im Moment. Ich habe ein natürliches Urvertrauen. Vielleicht auch durch meine Reise. Damals habe ich gelernt, dass das Leben gut für mich sorgt. Ich habe immer eine Lösung gefunden und auch in Krisensituationen ging es immer irgendwie weiter. Für mich ist klar, dass man die Augen vor bestimmten Dingen und Problemlagen nicht verschließen darf.

Wie weit würdest du gehen?

Ich möchte mich nicht finanziell ruinieren und mit einer Insolvenz aus der Sache herausgehen. Ich möchte mich aber auch nicht wie viele andere total unter Wert verkaufen und jeden Job annehmen. Dafür bin ich nicht selbstständig. Ich bin diesen Schritt in die Selbständigkeit ja gegangen, weil ich mir einen Beruf ausgewählt habe, in dem ich arbeiten will, in dem ich selbstbestimmt arbeiten kann und mich nicht mit Kunden herumärgern muss, bei denen es mir wirklich innerlich gegen den Strich geht. Aus diesem Grund habe ich auch schon mal eine Hochzeit sausen lassen und den Auftrag abgelehnt, weil ich gemerkt habe, dass es mit diesen Menschen einfach nicht passt. Und das hätte sich definitiv negativ auf meine Arbeit ausgewirkt. Das heißt, die Kunden hätten am Ende vielleicht ein Ergebnis bekommen, mit dem sie nicht zufrieden gewesen wären, weil ich meine Arbeit widerwillig und uninspiriert gemacht hätte.

Die Kunst ist wahrscheinlich, die richtige Mischung zu finden. Also auch mal Brotjobs zu machen, die Geld bringen, an denen aber nicht das Herz hängt und dann aber auch die anderen Projekte zu haben, bei denen man mit Herz und Leidenschaft dabei ist. Ich glaube, es ist sehr wichtig für jeden Freelancer, abzuwägen und immer ein Gefühl zu der Frage zu entwickeln: Was mache ich da eigentlich gerade? Nur so lernt man aus seinen Erfahrungen und weiß: Okay. Das habe ich jetzt einmal gemacht, das muss ich nicht unbedingt wieder tun. Wichtig ist auch, dass man offen ist, immer wieder Dinge ausprobiert und diese dann genau betrachtet und überprüft.

War es schwierig für dich den Wert der eigenen Arbeit, also den Preis, zu bestimmen?

Ja. Sehr sogar. Das fand ich ganz schwer. Am Anfang habe ich ja viel für Privatkunden gearbeitet und erst so nach und nach kamen die Geschäftskunden dazu. Die Preise habe ich meist aus einem Bauchgefühl heraus bestimmt. Erst mit dem Wissen aus der .garage habe ich angefangen ganz klar zu kalkulieren. Ich habe geschaut, wie viel ich denn eigentlich ganz realistisch brauche und dann ausgerechnet, wie viele Jobs zu welchem Preis ich in einem Jahr machen müsste, damit das reinkommt.

Das schwarz auf weiß auf dem Papier zu sehen war sehr wertvoll. Am Anfang wollte ich gar kein Geld haben. Es fühlte sich irgendwie komisch an, mich für etwas bezahlen zu lassen, das mir so leicht fiel. Ich habe mich ein bisschen auf dem Gründungszuschuss ausgeruht. Es war ein weicher Start und ich habe mich schon gefreut, wenn mir jemand 50 Euro für meine Arbeit gegeben hat. Aber je länger ich dabei war und je mehr mir klar wurde, was ich zum Leben brauche, was ich investiere, um besser zu werden, indem ich mich weiterbilde, technisch aufrüste, desto schneller entstand auch ein anderes Selbstverständnis für mich und mein Business. Dann sind 50 Euro nicht mehr in Ordnung. Oder es ganz umsonst zu machen, nur weil es für Freunde ist. Das ist dann nicht mehr okay. Für eineinhalb Stunden Fotografie und drei Stunden Nachbereitung.

Mein Gefühl ist, dass sich solch ein Preissystem bei vielen Freelancern erst entwickelt. Anfangs hatte ich, wie gesagt, Bauchschmerzen wegen des Geldes, aber das hat sich entwickelt, weil ich verstanden habe, dass meine Arbeit viel mehr wert ist. Gleichzeitig ist es aber auch so, dass man natürlich nicht permanent seine Preise erhöhen kann. Es macht definitiv Sinn, sich vor der Gründung ausreichend Gedanken über die Preisgestaltung zu machen. Am besten auch mit Hilfe einer Beratung. Und dann von Anfang an Preise zu nehmen, die ein gutes, angemessenes Niveau haben – also von denen man leben kann, mit denen man aber auch leben kann. Das letzte ist ein wichtiger Punkt, denn wenn man seine Preise innerlich nicht vertreten kann und schon beim Aussprechen der Zahlen im Erdboden versinke, hinterlässt das bei dem Kunden auch keinen guten Eindruck. Aber es ist schon eine spannende Geschichte, sich wirklich damit zu beschäftigen und sich klarzumachen, dass die Preiskalkulation bei Freelancern und Freien natürlich viel auch mit dem eigenen Selbstwert zu tun hat.

Es war also auch mental eine Schwierigkeit, Geld zu nehmen für etwas, das Spaß macht?

Na klar. Fotografieren fällt mir leicht, es ist ja nichts Besonderes, es macht mir auch noch Spaß. Ich glaube, das ist so eine Art Gehirnwäsche, die wir alle irgendwann mal erfahren haben, dass Spaß und Geldverdienen nicht zusammenpassen. Und da neue Synapsen und Verschaltungen zu finden und offen zu sagen: „Ja aber so soll das doch sein!“ ist schwierig. Es ist wirklich total verrückt, dass wir das offensichtlich alle anders gelernt haben. Eigentlich sollten wir alle das tun, was uns leicht fällt und was uns Freude macht.

Gibt es eine Vision? Wo möchtest du in fünf oder zehn Jahren sein?

In zehn Jahren habe ich meinen Campingplatz. Aber ich fotografiere auch und stelle meine Bilder aus. Ich bin überzeugt, dass ich vielseitig bin und dass ich viel Energie habe. Und ich habe einfach auch noch so viele andere Ideen. Das heißt, ich kann jetzt gar nicht sagen, ob ich in zehn Jahren ausschließlich als Fotografin arbeiten werde. Wichtig ist mir, an mir selbst dran zu bleiben und immer wieder hinzufühlen, was mich inspiriert und begeistert. Meine Fühler auszustrecken und zu schauen, was es um mich herum noch gibt. Mit dem, was jetzt gerade ist, bin ich wirklich sehr zufrieden und glücklich. Trotzdem gibt in meinem Business noch so vieles zu entdecken und zu lernen. Schließlich bin ich erst eineinhalb Jahre selbständig, da gibt es noch einige Fallgruben, Anfängerfehler aber auch viele Möglichkeiten. Herausforderungen, an denen ich wachsen kann und die mich weiter bringen. Was ich definitiv weiß, ist, dass ich gern selbstständig bleiben möchte. Und ich wünsche mir mittelfristig mehr Zusammenarbeit mit anderen Freelancern. Eine Ateliergemeinschaft oder eine Bürogemeinschaft könnte ich mir gut vorstellen. Das müssten gar nicht unbedingt nur Fotografen sein. Aber was ich während meiner Zeit als Angestellte schon sehr geschätzt habe, war, in ein Team eingebunden zu sein.

 

Immer für sich selbst zu stehen, mit jeder Frage, von der Preiskalkulation über die Bildauswahl für den Flyer und die Texte der Homepage bis hin zu Motivationslöchern und Aufstehschwierigkeiten, das ist schon eine Herausforderung. Da ist so ein Team auch ein Gerüst. Man bestellt für den anderen einen Kaffee mit, wenn der mal einen schlechten Tag hat und tauscht sich aus. Das fehlt mir jetzt. Zumal ich ein sehr kommunikativer Mensch bin und gern im Team arbeite.

Eine Überlegung für die nächsten Jahre ist also, wie ich das mehr in mein Leben holen kann. Im Team zu sein oder allein beim Kunden, mit dem man ja auch gesellschaftlichen Austausch hat, ist nicht das Gleiche. Mir ist auch wichtig, einen kreativen Austausch zu haben. Ich meine, na klar kann ich mir den Austausch holen, aber das muss ICH eben auch organisieren. Im Grunde hole ich jeden Tag alles aus mir heraus und das in jedem Bereich.

Wenn wir mal die Hypothese wagen, dass dein Geschäft nichts wird und du an den Punkt kommst, wo du aufhören musst. Was wird dann für dich der größte Gewinn gewesen sein? Was sagst du denen, die dich dann fragen, was es dir gebracht hat, solch ein Risiko eingegangen zu sein?

Dass es sich lohnt, mutig zu sein und etwas zu tun, das sich richtig und gut anfühlt. Erfahren zu haben wie es ist, über seine Ängste hinausgehen zu können. Sich selbst auf eine ganz neue Art und Weise kennengelernt zu haben. Wenn man sein eigenes Unternehmen gründet, tut sich eine neue Welt auf. Es ist wahnsinnig vielfältig und lebendig und ein großartiger Selbsterfahrungstrip. Weil man sehr viel über sich lernt. Weil man ganz schnell merkt, wo es gut läuft, wo genau die wunden Punkte sind. Besonders als Freelancer ist man immer sofort mit sich selbst konfrontiert. Das muss man wollen, aber dann ist es eine großartige Möglichkeit daran zu wachsen.

Ich habe das Gefühl, in den letzten eineinhalb Jahren hat sich so viel verändert in meinem Leben und mit mir, das lohnt sich einfach. Und jetzt weiß ich wieder ein Stückchen mehr über mich. Was mir gefällt, was mir gut tut und was nicht. Ich kenne eine Frau, die hat gegründet und sie sagt, Selbstständigkeit ist zwar gut, aber eben nicht nur. Sie bräuchte noch eine 20-Stunden-Stelle, dann hätte sie ihre Freiheit in dem einen Bereich und in dem anderen hätte sie ein Team und ein festes Einkommen. Und das ist es – egal, wie man es umsetzt, ob als Freie oder halbe-halbe. Ich glaube, aus Angst an einem Ort zu verharren und eine Arbeit zu machen, die vielleicht nicht einmal Spaß macht, auf der Stelle zu treten, das tötet die eigene Lebendigkeit. Also wer den Wunsch verspürt und finanziell so aufgestellt ist, dass es kein allzu großes Risiko darstellt, dem würde ich immer raten, den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen.

Du hast vorhin gesagt, dass du am Ende des Jahres Tabula rasa machst. Also hast du für dich eine Schmerzgrenze festgelegt, wo dein Sicherheitsbedürfnis einhakt. Würdest du anderen auch raten, solche Punkte für sich zu fixieren?

Würde ich machen. Einfach blindlings in die Selbstständigkeit hineinzurennen, ohne irgendwelche finanziellen Rücklagen, würde ich keinem empfehlen. Ich muss konkret wissen, wie ich über den Monat komme. Ob ich eine nette Oma habe, mein Mann mich finanziert oder ich eine Million erbe, irgendwoher muss das Geld kommen. Und dann ist noch die Frage, in welchem Bereich man startet und wie viel man investieren muss. Braucht man viel oder kann man sozusagen mit sich selbst starten? Das ist unterschiedlich. Einen Finanzplan sollte jeder machen. Genau zu schauen: Was habe ich jetzt, womit rechne ich und wie lange könnte ich im schlimmsten Falle, also wenn gar kein Geld reinkommt, aushalten? Und – wie viel Zeit brauche ich dann noch, um mich umzuorientieren? Wenn man all diese Fragen beantworten kann, dann ist das ein gutes Gerüst, das Halt gibt. Eine Art Rahmen, in dem man sich einigermaßen sicher bewegt.

Zum Businessplan. Du sagtest ja, die Schmerzen waren groß – war es denn trotzdem hilfreich ihn zu schreiben?

Definitiv. Auch wenn das natürlich in meinem Fall sehr mit der heißen Nadel gestrickt war. Aber am Ende sind es auch 25 Seiten geworden und ich habe die Zeit intensiv genutzt. Ich wusste, ich muss mich um meine Preisgestaltung kümmern. Ich wusste, ich muss mein Alleinstellungsmerkmal herausarbeiten. Wenn man den Businessplan geschrieben hat, ist einfach klar, was kein Thema mehr ist und worum man sich kümmern muss. Das ist extrem hilfreich. Dann kennt man seine blinden Flecken und die, die ausradiert werden müssen, wenn man erfolgreich sein will.

Zwei goldene Regeln, die du anderen mit auf den Weg gibst?

Erstens: Sich umschauen nach einer Beratung oder einem Existenzgründercoaching, damit man ein Basiswissen bekommt. Herausarbeitet, was man wirklich braucht. Klar kann man sich das anlesen, aber professionelle Unterstützung ist doch etwas anderes. Es sei denn, man ist ein Freigeist, der einfach macht. Aber bestimmte Dinge vorab zu klären hat mir persönlich sehr geholfen.

Zweitens: Einen realistischen Finanzplan aufstellen. Egal wie die Situation aussieht. Erst dann kann man sehen, wo man steht, was man noch braucht und wie man an Fördergelder kommt, um starten zu können. Bei allem Herz, Talent und Leidenschaft ist das der Punkt, an dem man baden gehen kann, wenn man den Tatsachen nicht ins Auge sieht.

Was ist das Schönste an deinem Freelancer-Leben?

Dass ich den Freiraum habe, selbst zu entscheiden und meinen Tag selbst zu gestalten. Dass ich tun kann, was mich inspiriert und wofür mein Herz schlägt. Dass ich mich nicht mehr verbiegen und gegen meine Überzeugungen handeln muss. Ich meine, als ich angestellt war, habe ich auch entschieden, angestellt zu sein, habe mich also auch für diesen Arbeitgeber entschieden. Dazu hat mich ja niemand gezwungen. Aber wenn ich mich erst einmal entschieden habe, dann auch zu den Bedingungen, die dort eben vorherrschten. Ich habe viele Dinge gemacht, die gegen meine Natur, meine innere Überzeugung und meine Werte waren. Und das muss ich jetzt nicht mehr. Wenn man selbstständig ist, dann wird einem noch viel mehr klar, dass und wie man selbstbestimmt und eigenverantwortlich handelt. Dass man alles selbst gestaltet, die Art wie man arbeitet, die eigene Selbstständigkeit, das eigene Unternehmen. In meinem Fall: Alles, was ich habe und was ich bin und was man außen sieht, habe ich sozusagen selbst ins Leben gebracht. Und das finde ich toll. Ich mache das im Grunde nur für mich, aus mir heraus. Und wenn ich damit noch andere Menschen begeistern kann und glücklich mache, dann ist das fantastisch. Es ist einfach positiv.

Was tust du aber, wenn Kunden kommen, bei denen du das, was du jetzt gerade beschrieben hast, nicht leben kannst, weil sie ihre eigenen Vorstellungen haben, die sich nicht mit deinen decken?

Das ist mir bisher nur ein Mal passiert. Da habe ich gemerkt, dass es auf allen Ebenen überhaupt nicht passte. Aber ich stand halt ganz am Anfang und hätte gern eine Hochzeit an der Alster fotografiert. Zum einen, weil ich das Geld brauchte und zum anderen, weil es eine tolle Referenz gewesen wäre, gerade für meine Arbeit in Hamburg. Ich habe mir damals für diesen Konflikt im Rahmen des .garage-Programms ein Coaching genommen, um mir Klarheit über meine Absichten zu verschaffen. Innerlich hatte ich die Entscheidung ja eigentlich schon getroffen, aber mich zu trauen und mir diese Entscheidung auch zuzugestehen, das war noch mal ein anderer Schritt. Natürlich thronte über allem die Frage, ob ich es mir denn als Selbstständige, die am Anfang steht, überhaupt leisten kann, abzusagen. Aber ich dachte dann: Ja, verdammt noch mal! Ich bin selbstständig, ich kann das entscheiden, und ich bin nicht auf das Geld angewiesen. Ich schlafe deswegen nicht im nächsten Monat unter der Brücke. Es gab später dann noch mal eine Situation, da wollte mich ein Kunde groß im Preis drücken. Auch da habe ich überlegt, ob ich lieber den schlechten Preis als gar keinen nehme. Ich habe verzichtet.

Und das ist der Punkt: Wirklich hinzufühlen und zu schauen, wo die eigenen Grenzen sind. Dann hat man die Freiheit, mal knapp zu kalkulieren oder eben nicht. Es gibt Situationen, in denen bin ich nicht bereit, die Grenze zu überschreiten und das fühlt sich dann auch gut an. Ich denke, das passt auch noch mal zu der Frage „Und wenn es dann am Ende nicht klappt?“ Gut, dann hat es vielleicht nicht geklappt, doch ich bin ich selbst geblieben. Ich kann ehrlich sagen, dass ich zu 90 Prozent nach meiner Überzeugung und nach meinem Gefühl handle. Natürlich nicht immer – wie gesagt, ich gehe auch mal baden. Aber das gehört dazu. Und das verändert sich auch und verfeinert sich. Ich bekomme mehr und mehr ein Gespür dafür, was geht und was nicht. Ich bin zufrieden und glücklich mit meiner Selbstständigkeit. Ich treffe so viele tolle Menschen und oft dann auch deren Freunde und die Familien. Die Fotografie ist ein Empfehlungsgeschäft. Das ist großartig, weil man verschiedene Menschen über viele Lebensabschnitte begleitet. Ich habe mittlerweile einen riesigen Bekannten- und Kundenkreis. Das ist ein Geschenk, das ich mir selbst gemacht habe.

3 Spezialistin mit Alleinstellungsmerkmal

Christine Resch – Transgender-Visagistin

Als ich die Wohn- und Arbeitsräume von Christine Resch betrete, tauche ich sofort in eine faszinierende fremde Welt ein. Plötzlich bin ich umgeben von lilafarbenen Wänden, hell beleuchteten Spiegeln, Perücken, Federboas in allen Farben, Schminkkästen und Utensilien, die ich sonst in einer Theatergarderobe vermuten würde. Christine selbst ist auffallend schön geschminkt und gestylt. Man sieht ihr an, dass sie das Visagist-Sein lebt, so wie man diesem Ort ansieht, dass er den Kunden von Christine einen sehr professionellen und angenehmen Raum für Verwandlungen bietet.

Christine Resch ist Transgender-Visagistin. Sie hilft Männern, ihren Traum zu leben, sich ab und zu in eine Frau zu verwandeln und das Frausein zu leben, ohne sich dafür zu schämen oder sich verstecken zu müssen. Es gibt keine verlässlichen Zahlen darüber, wie viele Männer heimlich diesen Wunsch in sich tragen. Es lässt sich jedoch mit Bestimmtheit sagen, dass Christine mit dieser Gründung eine Nische entdeckt hat, die es ihr möglich macht, sich von der breiten Masse der Kosmetik- und Visagistenangebote deutlich abzuheben.

Gibt man bei Google die Wörter „Visagist Berlin“ ein, liefert die Suchmaschine 274.000 Ergebnisse. Gibt man dagegen „Visagist Transgender Berlin“ ein, wirft Google lediglich 3.610 Treffer aus und an erster Stelle auf der ersten Seite steht der Name Christine Resch.

Spezialistin zu sein hat eben Vorteile. Man hebt sich von der Masse ab und wird besser gefunden. Spezialisten sind gefragt. Sie wirken fachkundiger, können höhere Preise nehmen, erreichen oft mit weniger Aufwand mehr, weil ihr Kundenkreis überschaubarer ist und sie können ihre Kunden besser binden. Darum ist der Rat, sich zu spezialisieren per se kein schlechter Rat, nur ihn so pauschal zu geben und als Allheilmittel anzupreisen, wie das lange Jahre in Gründungsseminaren und Ratgebern üblich war, davon möchten wir hier Abstand nehmen. Natürlich hilft eine Spezialisierung vielen Gründern, nicht zuletzt deshalb, weil die Überlegungen, welchen speziellen Mehrwert man bedienen könnte, den Fokus auf das eigene Unternehmen schärfen. Aber ob und wie man sich spezialisiert, das bleibt eine gründungsspezifische Entscheidung, der stets eine sehr intensive Markt- und Konkurrenzanalyse vorausgehen sollte.

Um sich darüber klar zu werden, hilft ein Bild, das aus dem strategischen Management kommt und das die Märkte in rote und blaue Ozeane unterteilt. Rot sind alle gesättigten, konkurrenzorientierten Märkte – das Haifischbecken sozusagen, in dem man sich mit Preiskämpfen gegenseitig zerfleischt. Blau dagegen sind die noch weitestgehend unentdeckten Nischenmärkte, in denen man sich fast konkurrenzlos frei entfalten kann.

 

Aber Vorsicht. Sich in eine Nische zu positionieren, kann auch Nachteile haben. Vielleicht kann man damit zuweilen nur eine kleine Anzahl potenzieller Kunden bedienen und muss sich diesen Marktanteil mit Mitbewerbern teilen. Darüber hinaus ist man in diesem Zielgruppen- und Kundensegment oft bekannt wie der berühmte bunte Hund und kann sich als Unternehmer kaum Fehler erlauben, da sich das schnell in der Branche herumsprechen würde.

Manchmal neigen Spezialisten, die schon sehr lange im Geschäft sind, auch dazu, den Markt aus den Augen zu verlieren, weil sie sich zu sehr in der Annahme baden, dass der blaue Ozean ein blauer Ozean bleibt. Ein Kardinalfehler, wie man zuletzt bei Kodak oder den Traditionsversandhäusern Quelle und Otto sehen konnte, die alle schlichtweg den Anschluss an den Wandel ihrer Branche verpasst haben.

Wie schafft man es nun aber, sich aus dem Haifischbecken herauszubewegen und ruhigere blaue Gewässer anzusteuern? Eine Möglichkeit ist, sich wie Christine Resch auf eine Zielgruppe zu spezialisieren. Damit hat sie ihren Kundenkreis eingeschränkt, weiß, wie und wo sie werben muss, um an ihre Kunden heranzukommen und kann parallel schauen, welche Randzielgruppen in dieses Thema involviert sind. In welchen Branchen eine Transgender-Visagistin sonst noch gefragt ist. Film, Bühne und Fernsehen bieten weitere Marktfelder. Und auch innerhalb der engen Zielgruppe lassen sich noch weitere Arbeitsfelder erschließen, die über die Kernkompetenz hinausgehen. So könnte sie Schminkkurse anbieten, als Fachfrau auf einem Blog oder auf einer Webseite Schmink- oder Styling Tipps geben, Foto-Shootings anbieten und damit ihren Ruf als Expertin festigen. Weitere Möglichkeiten abseits der Zielgruppe sind, sich auf ein Produkt oder ein Thema zu fokussieren oder eine Problemlösung für ein ganz spezielles Problem anzubieten.

Egal, wofür Sie sich entscheiden wenn Sie über eine Spezialisierung nachdenken – im Hinterkopf sollten Sie immer auch haben, dass nicht jede Nischenidee Potenzial hat. Das zeigt sich spätestens bei der Konkurrenzanalyse, wenn Sie bemerken, dass Sie der einzige Anbieter sind. Falls dem so ist, können Sie sich entweder freuen, weil Sie offensichtlich wirklich eine absolute Marktlücke entdeckt haben, oder Sie müssen sich ernsthaft fragen, warum vor Ihnen noch keiner diese Idee umgesetzt hat. Es macht also in jedem Fall Sinn, die Markttauglichkeit der Idee mit einem Testballon zu überprüfen. Denn nicht alles lässt sich verkaufen. Für manche Entdeckungen ist es schlichtweg zu früh. Für sie müsste quasi der Bedarf erst geschaffen werden. Das geht zwar auch, ist aber meist eine sehr kostenintensive Angelegenheit. So etwas können sich junge Gründer eher selten leisten.

Und noch eine Sache ist wichtig. Egal, ob man sich auf ein Produkt, ein Problem, ein Thema oder eine Zielgruppe spezialisiert – manchmal reicht auch das als Alleinstellungsmerkmal nicht aus. Auch spezialisierte Märkte können rote Ozeane sein. So ist der Augenarzt zwar spezialisiert, trotzdem teilt er sich den Markt mit vielen anderen Augenärzten.

Das heißt, man muss noch tiefer in die Thematik einsteigen, um das Unverwechselbare oder den eigenen Knaller herauszuarbeiten. Es gilt die Frage zu beantworten, warum der Kunde ausgerechnet zu Ihnen kommen sollte – ein Thema, das Ihnen in diesem Buch öfter begegnet, denn für einen Gründer ist es essenziell, sein Alleinstellungsmerkmal benennen und kommunizieren zu können.

Das Alleinstellungsmerkmal kennzeichnet immer die Besonderheit eines Unternehmens. Es transportiert das, was das Produkt, die Dienstleistung oder das Unternehmen unverwechselbar macht. Zalando zum Beispiel hat im Grunde nichts anderes verkauft als bis dato die Versandhäuser Otto oder Quelle. Aber die Macher von Zalando haben es geschafft, mit ihrem Schrei-Werbefilm Aufmerksamkeit zu erregen, neue Zielgruppen zu erschließen, während Otto und Quelle, wie vorhin bereits erwähnt, den Absprung, auch für die jüngere Generation attraktiv zu sein, verpasst haben. Zalando ist es gelungen, sich mit diesem Schrei abzuheben und es in den Köpfen der Kunden zu verankern, selbst wenn die Werbung schon lange Geschichte ist.

Ein Alleinstellungsmerkmal kann sich in unterschiedlicher Form ausdrücken. Zum Beispiel in einem besonderen Nutzen, den der Kunde nur bei Ihnen beziehen kann: „Rund um die Uhr“, „Bei Ihnen vor Ort“, „Schneller als die anderen“, „Service obendrauf“ „Günstiger als woanders“, „Wir liefern frei Haus“– das sind nur einige Beispiele, die einen Zusatznutzen transportieren, der ein Unternehmen in der öffentlichen Wahrnehmung von anderen Anbietern abheben kann. Wichtig ist, dass dieser versprochene Nutzen auch geleistet wird und dass er zum Produkt passt, sonst fühlt sich der Kunde hinters Licht geführt – und straft das Unternehmen ab. Auch ein guter Standort sowie eine besondere Ausstattung, können ein Alleinstellungsmerkmal sein. Und nicht zu vergessen: der Unternehmer selbst.

Und damit zurück zu Christine Resch, die neben der Tatsache, dass sie sich spezialisiert hat, zusätzlich auch das nach außen transportiert, was sie selbst verkauft: einen gepflegten und einen guten Stil. Ihr sieht man an, dass sie das lebt, was sie verspricht und das kommt bei den Kunden an.

Christine, wie bist du auf die Idee gekommen, als Transgender-Visagistin zu arbeiten? War die Spezialisierung von Anfang an klar?

Nein überhaupt nicht. Das war ein langer Weg bis dorthin. Grundsätzlich bin ich ein Mensch der Veränderung braucht. Für mich ist Veränderung wie ein Lebenselixier. Ich habe drei Berufsabschlüsse, komme aus der Werbung, aus dem künstlerischen Bereich, war Schaufensterdekorateurin und Plakatmalerin. Weil ich jedoch auch mit Menschen arbeiten wollte, habe ich mich entschlossen, noch einmal etwas ganz anderes zu machen und mich zur examinierten Altenpflegerin ausbilden lassen. Leider merkte ich schnell, dass das überhaupt nicht meins war, weil Theorie und Praxis so weit auseinander liegen. Der Zufall wollte es so, dass ich einen Sopranisten kennenlernte, der vorhatte, sein eigenes Programm auf die Beine zu stellen und seine Stimme zu nutzen, um als Frau auf die Bühne zu gehen. Er fragte mich, ob ich ihn dabei unterstützen könnte, eine Perücke zu kaufen. Als wir im Geschäft standen und ich ihn beriet, zeigte sich plötzlich ein alter Traum oder Wunsch ganz deutlich. Ich wollte schon immer Maskenbildnerin werden und das war doch jetzt die Gelegenheit. Kurz entschlossen meldete ich mich für einen Kurs an, 14 Tage später saß ich in der Visagistenschule. Parallel engagierte er mich schon als seine persönliche Visagistin und ließ mich das Make-up für seine Show entwerfen.

Das klingt ja dann doch sehr fokussiert und nach einem reibungslosen Einstieg!

Na ja, ganz so reibungslos verlief es natürlich nicht, denn von diesem einen Auftrag konnte ich natürlich nicht leben. Also habe ich nebenher weiter als Altenpflegerin gearbeitet. Ab und an auch mal für einen Fotografen als Visagistin. Irgendwann zwischendrin hatte ich noch die verrückte Idee ein Café zu eröffnen. Ich bin halt wirklich ein kreativer Mensch. Ich koche gern, bin gern unter Leuten, mache es für andere gern schön. Doch das habe ich schnell wieder verworfen. Ich hatte einfach Angst, dass ich mir damit einen Klotz ans Bein binde. Heute bin ich froh darüber, so entschieden zu haben.

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