Ich will brennen

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Kapitel 4

„I hear glasses breaking as I sit up in my bed.“ - Pink

Nach den Feiertagen geht es weiter mit der Auseinander-setzung mit meiner Vergangenheit. Unterstützt werde ich dabei von meiner Therapeutin in der Einzeltherapie.

Eine wichtige Ursache für meine Erkrankung sehe ich definitiv in meiner Kindheit; konkret bei meinen Eltern. Das hört sich immer so grausam und unfair an: den Eltern die Schuld geben und dann ist man aus dem Schneider. So ist das aber definitiv nicht! Ich bin sehr wohl der Meinung, dass sie zur Entstehung meiner Essstörung und anderen Problematiken beigetragen haben. Sie haben mir praktisch vorgelebt, dass man ohne Leistung nichts wert ist und außerdem die Frau unter dem Mann steht. Mein Vater hat meine Mutter ständig heruntergemacht und gedemütigt. Innerhalb der Familie und auch in der Öffentlichkeit. Dabei ging es wahrscheinlich nicht unbedingt darum, sie schlecht zu machen, sondern – wie ich inzwischen begriffen habe – darum, sich selbst besser aussehen zu lassen. Anerkennung kann man nur durch besondere Leistung in der Schule oder in der Musik (vermutlich auch im Sport, aber da war ich ja sowieso ein Totalversager) erlangen und selbst dann reicht es auch nie. Das war mein ständiger Begleiter in Kindheit und vor allem Jugend: egal was ich tue und erreiche, es ist nie genug! Vielleicht schon mal ein Hinweis auf eine Essstörung. Ich muss immer mehr und mehr essen, weil ich nie satt werde. Es muss immer noch besser, noch mehr sein, ein unendlicher Hunger nach mehr Anerkennung. Diese musste ich mir dann selbst geben und das ging sehr gut in Form von Bergen an fettigem Essen. Das war dann aber der Beginn eines Teufelskreises: um etwas wert zu sein, wollte ich auch gut aussehen, was in unserer Gesellschaft eng verknüpft ist mit schlank sein. Früher hatte ich Glück und war das von selbst. Mit der Pubertät kamen dann die Probleme und auch die Kilos auf den Hüften. Ich musste mir von meinem Vater anhören, dass ich nun auch so „Elefantenstampfer“ wie meine Mutter bekäme. Nicht gerade der beste Umgang mit seiner pubertierenden, verunsicherten Tochter und auch nicht respektvoll gegenüber seiner Ehefrau. Aber dieser Ton gehörte leider zur Normalität. Neben verbalen Sticheleien kam es hin und wieder leider auch zu körperlicher Gewalt, deren Zeuge ich bereits als 12-jähriges Mädchen sein musste. Besonders eingeprägt hat sich eine Szene aus den Osterferien, als wir im Skiurlaub in den französischen Alpen waren. Ich weiß nicht mehr, worum es ging, aber plötzlich hatte mein Vater seine Hände um den Hals meiner Mutter geschlungen und drückte zu. Ich entwickelte Bärenkräfte und stürzte mich auf meinen Vater, riss ihm die Hände auseinander, sodass er locker ließ und sich schließlich abwandte. Die Erinnerungen sind nur bruchstückhaft vorhanden. Allerdings weiß ich noch, dass meine Mutter am Ende dieses Urlaubs ein blaues Auge hatte und wir auf der Heimfahrt einen Abdeckstift kaufen mussten, damit nur ja niemand aus der Verwandtschaft oder sonst jemand etwas mitbekam. Puh, bei diesen Erinnerungen wird es mir ganz komisch. Es erscheint alles so unwirklich und doch weiß ich, dass das wirklich passiert ist und einen Einfluss auf meine Entwicklung hatte. Ich will auf keinen Fall so werden wie meine Eltern. Weder so gewalttätig und eiskalt, noch will ich mich in einer Partnerschaft so behandeln lassen.

Viele dieser Erinnerungen an meine Kindheit kann ich in der Einzeltherapie abgeklärt und emotionslos erzählen. Meine Therapeutin sagt, dass dies mein Weg sei, damit klarzukommen. Die Essstörung bedeutet für mich eine Möglichkeit der Verarbeitung. In der weiteren Therapie soll es vor allem darum gehen, den Zugang zu meinen Gefühlen wieder zu finden und auch herauszufinden, was hinter der Angst vor dem Zunehmen steckt. Was bedeutet die Gewichtszunahme denn für mich? Ist es die Angst davor, die Kontrolle zu verlieren? Ich klammere mich so sehr an mein niedriges Gewicht, als wäre ich mit mehr Kilos nicht mehr begehrenswert und minderwertig.

Neben der Einzeltherapie beginnen nun auch verschiedene Gruppen wie die Depressionsbewältigungstherapie oder die Essstörungsbewältigungstherapie. Die Kurse sind anstrengend und fordern mich sehr. Es geht darum, die Ursachen der Krankheit zu erforschen, Auslöser zu erkennen und Strategien zu finden, die schwierige Situationen bewältigen helfen. Meist kommt heraus, dass wir Kranken nicht mit unseren Gefühlen umgehen können oder sogar gar nichts empfinden können. Um dieser Abstumpfung entgegenzuwirken, suchen wir nach Möglichkeiten, uns wieder zu spüren und auszudrücken. Eine andere Theorie ist die des Kontrollieren-Wollens. Das bedeutet, dass wir als klassische Perfektionistinnen die Kontrolle über unser Leben behalten oder zurückerlangen wollen, indem wir die Kontrolle über unser Gewicht gewinnen. Was neben den ganzen Therapien stattfindet, hilft mir mindestens genau soviel. Nach Silvester genieße ich das Beisammensein mit meinen Mädels in der Klinik sehr. Ich lerne die 17jährige Julia besser kennen und wir unternehmen gemeinsame Spaziergänge ins Dorf. Auch ihre Geschichte ist nicht einfach: aus einer überbehüteten Familie stammend hat sie eine Magersucht entwickelt. Sie ist extrem perfektionistisch und selbstkritisch. Wir verstehen uns sehr gut und ich finde sie total süß, möchte eine Art Vorbild für sie sein. Außerdem entwickelt sich eine großartige Freundschaft mit Daniela, die seit Jahren mit Bulimie zu kämpfen hat. Wenn man sie so kennenlernt, würde man niemals auf die Idee kommen, dass sie ein Problem mit ihrem Körper haben könnte. Sie wirkt wahnsinnig stark und selbstbewusst. Mit ihr kann ich viele ungezwungene Momente erleben. Gerade waren wir noch in der Kneipe gegenüber, im König Ludwig (genannt KL) ein Bier trinken. Das Quatschen und Herumblödeln mit ihr tut so gut, da kann ich mal den ganzen Ernst des Lebens ausblenden. Ich bin so froh, dass wir uns hier am Chiemsee gefunden haben! Im Moment fühl ich mich wirklich glücklich, ich wünschte, diese Zeit fernab der Realität würde niemals enden...

Doch leider muss ich mich auch noch mit den Vorgängen in der echten Welt auseinandersetzen. Der 50. Geburtstag meiner Mutter steht bevor. Dieses Ereignis setzt mich unter Druck. Das ist eine große Familienfeier, die „man“ eben feiern muss - im Kreis der gesamten Familie. Wie es mir dabei geht oder wie schwierig die Situation im Gasthaus mit Unmengen an Essen ist, kann meine liebe Mutter natürlich nicht sehen. Für sie geht es wie immer nur um ihr persönliches Schicksal. Es ist ihr Geburtstag und da habe ich natürlich dabei zu sein. Schlimm genug, dass ich bereits über Weihnachten in der Klinik war und meinen Aufenthalt dort nicht mal verheimlicht habe. Was sollen denn die Leute denken? Na gut. Da muss ich wohl durch. In mehreren Gesprächen mit meiner Therapeutin bereite ich mich auf die Heimfahrt vor und übe mögliche bevorstehende Situationen sogar im Rollenspiel in der Gruppentherapie. Auf Andi freue ich mich ja – zumindest rede ich mir das ein. Am Samstag ganz früh geht es los: ich fahre mit dem Zug bis in die nächstgrößere Stadt und treffe mich dort mit Andi. Wir gehen etwas bummeln, verstehen uns gut und dann beginnt auch schon die Feier. Es verläuft, wie ich schon vorher wusste: viele Oberflächlichkeiten und Essen, aber auch ein sehr gutes Gespräch mit meiner Patentante. Diese war die Einzige in meiner Familie, die Bescheid wusste, wie es mir wirklich geht. Zu ihr habe ich großes Vertrauen und ich weiß, dass ich mich bei ihr nicht verstellen muss. Ein tolles Gefühl! Nach vielen Gesängen und viel zu viel Essen verabschiede ich mich gemeinsam mit Andi, den Rest des Abends wollen wir zu zweit in seiner Wohnung verbringen. Trotz der üblichen Proteste, ich solle doch noch etwas länger bleiben, machen wir uns schließlich auf den Heimweg. Das war wirklich wieder einmal eine Herausforderung, die ich aber gut gemeistert habe! Ein wichtiger Schritt in Punkto Selbstfürsorge.

Am nächsten Tag setze ich mich wieder in den Zug zurück in die Klinik. Während der Fahrt denke ich viel nach und bin erleichtert, dass es wieder zurück in meine geschützte Parallelwelt geht. Ich bin für das „normale“ Leben da draußen noch nicht bereit. Erschöpft komme ich am Abend auf meiner Station bei meinen Mädels an. Ich freue mich so, sie alle wiederzusehen und genieße den Abend mit Daniela & Co. in der Kanzel. Es zählt nur der Augenblick und ich verschwende keinen Gedanken mehr an die Waage, die mich morgen früh erwartet.

Kapitel 5

„This is just a Punk Rock Song!“ - Bad Religion

Die Waage am nächsten Morgen verschont mich: seit dem letzten Mal Wiegen habe ich 300 Gramm abgenommen. Ich bin erleichtert, weil ich nun weiß, dass die Gewichtszunahme nicht ewig unkontrolliert weitergeht. Aber natürlich ist mir klar, dass ich noch nicht am Ziel bin und mein Gewicht weiter steigern muss, wenn ich wieder gesund werden möchte.

Weil ich mich hier in der Klinik so wohl fühle und das Leben außerhalb überhaupt nicht vermisse, kommt es immer öfter zum Streit mit meinem Freund Andi. Er ist verletzt, wenn ich sage, dass ich jetzt endlich wieder glücklich bin. Zum Streiten fehlt mir aber wirklich die Kraft, ich bin hier, weil ich krank bin und Hilfe brauche. Ich fühle mich unverstanden von ihm, er fühlt sich nicht verstanden von mir und so geraten wir immer wieder am Telefon aneinander. Ich beginne zu grübeln und stelle unsere Beziehung immer mehr in Frage. Bin ich überhaupt noch glücklich mit ihm? Er hat mir wirklich eine Zeit lang gutgetan. Aber wenn ich ehrlich bin, ist das schon sehr lange her. Zu Beginn unserer – hmm, wie soll ich es nennen? - Affäre, Liebschaft oder was auch immer, ging es mir auch nicht gut. Ich zweifle und stelle mir vor, wie mein Leben aussehen könnte, wenn ich noch mit meinem vorherigen Partner Vincent zusammen wäre. Mein Vincent, mein Vince-Schatz. Ich habe ihn wirklich von ganzem Herzen geliebt und tue es irgendwie immer noch. Vielleicht war die Beziehung mit Andi ein Fehler. Aber Vincent wird mir das alles nie verzeihen und ich kann es sogar verstehen. Aber wie kam es eigentlich so weit, dass wir uns letztendlich trennten?

 

Rückblick

Angefangen hatte Vincents und meine gemeinsame Geschichte als ich gerade einmal 16 Jahre alt war. Ich hatte sehr wenig Selbstbewusstsein und stand zu dieser Zeit total im Schatten meiner damaligen besten Freundin Miri. Was ich zu der Zeit nicht wusste: ich wurde auch tatsächlich so genannt: „der Schatten von der Miri“. Als ob ich kein eigenständiger Mensch mit Wünschen, Träumen und Bedürfnissen wäre. Auf jeden Fall hatte besagte Miri seit einigen Monaten einen Freund, was unsere bis dahin innige Freundschaft stark beeinträchtigte. Dennoch profitierte ich auch davon, denn oft nahmen sie mich mit. Ihr Freund Markus war bereits 18 und hatte ein eigenes Auto. So lernte ich im Dezember, als ich 15 war, mein geliebtes Happy Rock kennen. Die berühmt-berüchtigte Diskothek am Stadtrand, in der sich noch viele Dramen meines Lebens abspielen sollten. Jedenfalls war Markus Mitglied in einer Band, der auch ein sehr attraktiver Schlagzeuger mit Dreadlocks angehörte. Nachdem ich mir schon Fotos im Internet angesehen hatte und von diesem mysteriösen interessanten Typen geträumt hatte, nahm uns Markus endlich einmal mit zu einer Bandprobe in Vincents Wohnung. Ich habe ihn nur fasziniert beobachtet und es war klar: dieser Wahnsinns-Mann ist absolut unerreichbar für jemanden wie mich. Ich war doch eine kleine graue Maus, die keinem besonders auffiel. Alle interessierten sich für Miri, auch wenn ich nicht erkennen konnte, was sie so viel besser oder attraktiver als mich machte. Schließlich war ich definitiv schlanker als sie und meiner Meinung nach insgesamt auch hübscher. Außerdem hatte Vincent sowieso bereits eine Freundin. Damit erledigte sich die Spinnerei für mich vorerst und ich vergaß ihn wieder. Mein Leben zeigte sich auch so gerade von der wilden Seite mit diversen Sturmfrei-Partys und unerlaubten Happy Rock Besuchen. Ich hatte angefangen zu leben - ohne Rücksicht auf Verluste. Durch viele Kränkungen in der Vergangenheit war ich bereits richtig abgebrüht. Auf der einen Seite war ich eine gute, brave Schülerin, die noch nie wirklich etwas angestellt hatte, auf der anderen Seite kam die Abenteuerlust und ich wollte endlich etwas erleben. Meine Gefühle hatte ich bereits abgestellt, weil diese sowieso nie erwidert wurden und ich ging dazu über, Party zu machen: weggehen, betrinken, wahllos herumknutschen, alles selbstverständlich ohne Gefühle und Erwartungen. Inzwischen fiel mir das nicht mehr schwer.

Der erste Höhepunkt meiner wilden Zeit spielte sich in einer Woche in den Osterferien ab, als ich 16 Jahre alt war. Zum ersten Mal erlaubten mir meine Eltern, dass ich alleine zu Hause bleiben durfte und nicht mit nach Frankreich zum Skifahren musste. Ich verbrachte diese Woche vor allem mit meiner besten Freundin Miri und ihrem Freund Markus. Wir feierten wilde Partys bei mir zu Hause, nachdem wir noch einen Ex-Knacki (Dani) aus dem Happy Rock aufgegabelt hatten. Diesen fand eigentlich Miri süß, aber da sie vergeben war, hatte ich ihn abbekommen. Was sich jetzt aber schlimmer anhört als es tatsächlich war. In Wahrheit war das eine sehr unschuldige Geschichte mit Kuscheln und Knutschen. Ich gab mich zwar nach außen hin hart und wild, war aber innerlich weiterhin schüchtern und auf dem Gebiet der Intimität nach wie vor unerfahren. Mein Selbstbewusstsein profitierte aber dennoch davon: ein älterer, attraktiver Typ zeigte Interesse an mir! Am Ende dieser Woche stand der 21. Geburtstag von Vincent an, zu dem wir eingeladen waren. Markus, Miri, ich und besagter Dani, der übrigens bereits 23 war; damals für mich quasi uralt. Das wichtigste an diesem Abend war für mich, den tollen Vincent zu bewundern. Der Geburtstagsumarmung habe ich sehr entgegengefiebert und auch die Gespräche waren schön. Aber er hatte ja zu diesem Zeitpunkt eine Freundin und ich war mit meinem 23-jährigen Ex-Knacki da. Irgendwann habe ich mir mit Miri so richtig die Kante gegeben. Unser gemeinsamer Tequila-Absturz an diesem Abend sorgte noch lange für Gesprächsstoff. Ein Freund von Vincent schenkte uns einen Kurzen nach dem anderen ein, die wir ohne viel nachzudenken einfach hinunterstürzten. Dieser Freund und wir beide trafen uns dann wieder im Badezimmer, um uns zu übergeben. Gleichzeitig hingen wir alle drei über Kloschüssel, Badewanne und Waschbecken. Was musste das für ein grandioses Bild gewesen sein! Außerdem habe ich auf dieser Party auch zum ersten Mal Bong geraucht. Ich war sehr stolz auf mich, dass ich diese wichtige Hürde für mein neues Rebellen-Leben so gut gemeistert habe! Völlig erschöpft fiel ich auf dem Wohnzimmerboden von Vincent – in den Armen von Dani – in einen unruhigen Halbschlaf. Wie im Delirium höre ich noch Gesprächsfetzen der anderen Partygäste: „Ja! Schon krass: 15 Tequila! Und auch das erste Mal gekifft.“

Die nächste Woche habe ich versucht, mit Dani eine „Beziehung“ zu führen. Im Nachhinein betrachtet erscheint das Ganze völlig lächerlich. Er hat mich nie wirklich interessiert, war vielmehr ein Symbol geworden gegen meine Eltern, gegen Miri und überhaupt für meine Freiheit. Ein paarmal haben wir uns getroffen und dann kam der Kontakt auch nicht mehr zu Stande. Die nächste Geburtstagsfeier im Freundeskreis fand dann auch schon ohne Dani statt. Dafür war aber Vincent dabei und ich fing wieder an, für ihn zu schwärmen. Es war ein schöner Abend und wir haben dann zu viert ein Zimmer geteilt: Miri und Markus im Bett, ich und Vincent auf der Schlafcouch. Puh, war ich aufgeregt! Wir haben uns sehr angestrengt, uns nicht in die Quere zu kommen und am nächsten Morgen haben wir uns auch noch alleine unterhalten. Sehr harmonisch und ich total geflasht: sein Oberkörper mit den Tattoos, die Dreadlocks, seine Piercings... ich war hin und weg!

Aber dann zu Hause angekommen, sollte sich einiges ändern. Meine Eltern hatten die Geschichte mit der Sturmfrei-Party in den vergangenen Ferien herausgefunden. Aufgeflogen war das Ganze, weil zwei dumme Freundinnen meines Cousins in der Küche mit rohen Eiern geworfen hatten. Die Spuren hatten sich nicht vollständig beseitigen lassen und führten nun dazu, dass alles ans Licht kam. Mein Vater bereitete mir die Hölle auf Erden. Das erste und einzige Mal in meinem Leben hatte ich Hausarrest und wurde gedemütigt. Ausgestoßen als schwarzes Schaf der Familie. Er nötigte mich sogar, einen ausführlichen Bericht über meine Woche allein zu Hause zu verfassen. Ohne Lügen und mit allen Details. Sollte er bekommen. Es schien ihm aber dennoch zu harmlos und meine Eltern hackten immer wieder darauf herum, dass man es überprüfen könne, ob ich noch Jungfrau sei. War ich übrigens auch noch. Zu guter Letzt wurde mir mein Handy abgenommen. Das war erst einmal das Ende meiner Sozialkontakte, ich isolierte mich und lebte zurückgezogen – die Ausnahme bestand im Gang zur Schule, denn da musste ich schon noch hin.

Kapitel 6

„Now I´m stronger than yesterday!“ - Britney Spears

In meiner Hausarrest-Zeit konzentrierte ich mich soweit es ging auf die Schule. Auf das Konzert unserer lokalen Lieblingsband durfte ich dann aber nach vielem Betteln doch gehen. So herzlos waren nicht einmal meine Eltern! Nach ungefähr einem Monat in der Isolation fing ich mit heimlichen Happy Rock-Besuchen an und griff mein Party-Leben wieder auf. Offiziell wollte ich nur einen gemütlichen Mädels-Abend bei Miri genießen. Vincent schien vergessen, ich konzentrierte mich auf oberflächliche Eroberungen und fand es besonders prickelnd, dabei gesehen zu werden. Unter anderem widmete ich mich leidenschaftlichen Knutschereien auf der Tanzfläche mit meinem quasi „Ex-Freund“ Dani und genoss es, beobachtet zu werden. Damit ging ich als „böses Mädchen“ durch und gewann an Bekanntheit, wobei mir egal war, ob diese neue Aufmerksamkeit, die ich erfuhr, negativ oder positiv war. Hauptsache irgendeine Form von Aufmerksamkeit!

Um meinem neuen „Ich“ die Krone aufzusetzen und meine innere Verwandlung auch äußerlich sichtbar zu machen, hatten Miri und ich beschlossen, dass wir uns Dreadlocks machen lassen würden. Wir beide: zuerst sie und das Wochenende darauf dann auch ich. Wir fanden das eine sehr gute Idee und schafften es sogar, unsere Eltern davon zu überzeugen. Immerhin waren wir beide erst 16! Die Verwandlung vollzog kein geringerer als – tada! - Vincent. Der begehrenswerte, heiße Vincent, der mich noch immer faszinierte. Bereits am Nachmittag war ich bei Vincent und er fing an, mir die Dreads zu machen. Ich genoss es wirklich, mit ihm allein zu sein... später kam dann auch Miri und hatte schlechte Laune. Jeden noch so aufkeimenden Streit konnte ich aber wieder ersticken und in Harmonie umlenken durch Lachen über einen unserer berühmten „Insider“. Abends waren die Dreads dann fertig, ich sah aus, als hätte ich einen fluffigen Pudel auf dem Kopf. Aber ich war glücklich über meine Verwandlung: endlich nicht mehr das brave Mädchen mit den langen, glatten blonden Haaren! Nachdem noch weitere Freunde von uns gekommen waren, gab es Abendessen und ein gemütliches Beisammensein. Die Situation mit Miri war irgendwie angespannt und ich wusste aber nicht, wieso. Es war nichts vorgefallen und ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, warum sie so schlecht drauf war. Als wir dann alleine waren, fragte ich sie, was denn los sei und dann platzte die Bombe: ich würde sie nerven, sie „packe“ mich nicht mehr, schließlich seien wir nicht verheiratet, sie habe jetzt Markus und brauche mich nicht mehr. Puh. Was war denn das? Ich konnte mich überhaupt nicht äußern und war fix und fertig. Was sollte das? Schließlich waren wir seit über zwei Jahren beste Freundinnen und hatten so ziemlich alles geteilt, was man sich nur vorstellen kann! Wir hatten gemeinsam unsere Pubertät durchlebt und unglaublich viel miteinander durchgestanden. Zahlreiche verrückte und einmalige Erlebnisse, waren durch dick und dünn gegangen. Sie war immer die Heldin und ich stand in ihrem Schatten. Was störte sie jetzt plötzlich daran? Ich verstand es nicht und ging erschöpft schlafen, nachdem ich etwas Trost bei Vincent gefunden hatte. Am nächsten Morgen ließ ich mich, ohne mich zu verabschieden, von meiner Mutter abholen. Die darauffolgenden Tage waren wie ein schlimmer Kater. Ich wollte nicht wahrhaben, dass dieser Streit wirklich passiert ist und unsere Freundschaft zu Ende ist. Andererseits erweckte der verletzte Stolz auch eine Trotzreaktion in mir. Ich fühlte mich stark, so stark wie nie. Nun war ich frei und unabhängig und mein veränderter, coolerer Style, unterstrich diese Tatsache. Ich fing an, allein wegzugehen und suchte mir neue Freunde, mit denen ich von nun an meine Zeit verbrachte. Es tat mir wirklich gut, endlich eine eigenständige Persönlichkeit zu sein. Ich bin aus dem Schatten ins Licht hervorgetreten und wurde endlich gesehen. Miri versuchte hin und wieder, mich „zurückzugewinnen“, aber ich wollte nicht mehr. Ich wollte jetzt mein eigenes Leben fühern und nicht mehr ihre persönliche Sklavin sein. Von diesem Zeitpunkt an suchte ich meine Freunde selbst aus und entschied auch allein, was ich unternehmen würde und mit wem. Das war das Ende unserer siamesischen Mädels-Freundschaft. Es sollte nie mehr so werden, wie es war.

So kam es, dass ich in diesem Sommer, der nun folgte, viel unterwegs war und neue Leute kennenlernte und schließlich eine Beziehung mit einem netten und anständigen 19-jährigen Jungen einging. Er hatte gerade sein Fachabitur in der Tasche und musste ab Oktober seinen Dienst bei der Bundeswehr antreten. Es war schön mit ihm, wir verbrachten eine angenehme Zeit miteinander, gingen ins Kino und auf Feste, die es im Sommer haufenweise gibt. Ziemlich schnell war mir aber klar, dass es auf eine Freundschaft hinauslaufen würde, weil ich keine Gefühle entwickeln konnte. Zeitgleich hatte auch Vincent eine neue Beziehung und somit standen wir nur wenig in Kontakt. Dennoch fand ich einen Weg, wie ich ihn – gemeinsam mit meinem Freund natürlich – auch außerhalb verschiedener Veranstaltungen treffen konnte. Wir besuchten ihn hin und wieder, damit er meine Dreadlocks pflegen konnte. Ich fühlte mich in seiner Nähe unglaublich wohl und freute mich darüber, dass sich die beiden Jungs recht gut verstanden. Auf den verschiedenen Events mit Bands und natürlich in meinem geliebten Happy Rock genoss ich weiterhin mein neues Leben in vollen Zügen. Ich tanzte, trank und guckte mir die Jungs an. Dass ich meine Beziehung früher oder später beenden würde, war mir bewusst, denn ich liebte es, einfach „böse“ zu sein und mit zahlreichen süßen Jungs zu flirten und den ein oder anderen auch zu küssen. Nach ca. 4 Monaten beendete ich dann also die Beziehung und erlitt so eine Art „Miri-Rückfall“. Sie bat mich darum, ihr zu verzeihen und wir versöhnten uns – vorübergehend. Sie hatte inzwischen Markus verlassen und unserer Freundschaft erlebte ein Revival, in dem es wieder hieß: wir gegen den Rest der Welt!

 

In meiner Single-Zeit feierte ich viel mit ihr und der ganzen Clique, zu der nun auch Vincent gehörte. Aber unsere Zeit war noch nicht gekommen und so schnappte ich mir bei einem Konzert im Jugendtreff einen neuen hübschen Dreadlock-Träger und nach ein paar Dates waren wir dann auch zusammen. Felix hatte wunderbare schwarze Dreads und ein Lippenpiercing, was mir sehr gut gefiel. Außerdem war er etwas schüchtern und machte gerade seinen Zivildienst in einer Sozialstation. Bald schon lernte ich seine Freunde kennen und integrierte ihn ebenfalls in meinen gemeinsamen Freundeskreis mit Miri. Den 17. Geburtstag von Miri feierten wir mit einer Party in ihrem Keller und auch Vincent war da. Nach ein paar Caipirinhas führten wir ein langes Gespräch, in dem er mir offenbarte, dass er mich durchaus gernhatte. Ich schwebte auf Wolke sieben und schließlich vereinbarten wir, dass wir heiraten würden, wenn wir beide mit 30 gerade solo seien. Wow! Was für ein Kompliment von meinem heimlichen Schwarm! Trotz dieser tollen Aussichten blieb ich bei Felix und ließ mich sogar von ihm entjungfern. Mit wahrer Liebe hatte das nichts zu tun; es reichte mir nur so, die scheinbar letzte 16jährige zu sein, die „diese Sache“ noch nicht erlebt hatte. Also suchte ich mir einen Samstag vor Weihnachten aus und brachte es endlich hinter mich. Wir waren in seinem Zimmer, redeten vorher darüber, wie es sein würde, auch dass es mein erstes Mal wäre. Es war ok, relativ unspektakulär und ich war froh, diese Hürde genommen zu haben.

Weiterhin ging mir aber Vincent nicht aus dem Kopf und das nächste Highlight unserer bisher recht unschuldigen Beziehung war die Silvesterparty bei ihm. Wir feierten alle bei Raclette auf dem Wohnzimmerboden und der gesamte Freundeskreis inklusive Felix war dabei. Zu späterer Stunde gab es unter anderem Feuerzangenbowle, welche mich dann einschlafen ließ. Als ich wieder wach wurde, waren Vincent, Markus, Miri und deren neuer Schwarm Jan noch übrig. Ich setzte mich auf die Couch zu Vincent und mit der Zeit lehnte ich mich an ihn, während er – bewusst oder unbewusst? - sanft über meinen Arm streichelte. Ich wusste, dass sowohl Felix im selben Raum lag und schlief sowie Vincents aktuelle Flamme in seinem Bett bereits auf ihn wartete. Aber dieser Gedanke spornte mich eher noch an und verlieh mir mehr Mut für den nächsten Schritt. Ich nahm seine Hand, streichelte sie behutsam und legte vorsichtig meinen Kopf auf seinen Schoß. Statt mich zurückzuweisen, setzte er das Streicheln fort und arbeitete sich weiter vor über meinen Kopf, mein Gesicht und berührte schließlich mit dem Finger meine Lippen. Mir wohligem Kribbeln hauchte ich leichte Küsse auf seinen Finger und wünschte mir, dass der Moment niemals zu Ende ginge. Ich war mir jetzt sicher: Irgendwann wird unsere Zeit schon noch kommen!

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