Sie war meine Königin

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Die Stimmung während des üppigen Frühstücks am nächsten Morgen, das wir im Esszimmer statt in der Küche zu uns nahmen und im Gegensatz zu sonst nicht von meiner Mutter, sondern auf Wunsch meines Vaters von Frau Bäumler, unserer zweiten Haushälterin, zubereitet worden war, die dafür extra zu uns gekommen war, denn normalerweise arbeitete sonntags weder sie noch Frau Hubertus, war genauso gedrückt wie am Vorabend, die quälende Ungewissheit fast unerträglich. Noch immer gab es kein Lebenszeichen von meiner Schwester, keinen Hinweis, wo sie sich aufhielt. Das hatte die Polizei meinem Vater auf seine telefonische Nachfrage hin mitgeteilt, bevor er sich zu mir setzte. Meine Mutter war nur kurz aufgestanden, um sich einen Tee zuzubereiten, und hatte sich anschließend wieder ins Schlafzimmer zurückgezogen. So saß ich mit meinem Vater allein am reichlich gedeckten Esstisch. Frau Bäumler hatte es wirklich gut mit uns gemeint und anscheinend alles aufgetischt, was sie im Kühlschrank vorgefunden hatte. Mein Vater hatte die Sonntagsausgabe einer Zeitung neben sein Gedeck gelegt, doch las er nicht darin. Stattdessen starrte er grübelnd ins Leere und rührte gedankenversunken in seinem Kaffee. Er reagierte nicht einmal, als ich ihn fragte, ob ich nach dem Frühstück draußen ein wenig mit meinem Fahrrad umherfahren dürfe. Ich hatte nämlich den Entschluss gefasst, meine Schwester zu suchen und auch zu finden, wenn es die Polizei schon nicht konnte. Als ich von meinem Vater keine Antwort erhielt, stand ich einfach auf. Bevor ich das Haus verließ, sagte ich Frau Bäumler Bescheid, damit sich niemand um mich sorgte. Dann machte ich mich auf den Weg. Dabei wusste ich selbst nicht genau, wo ich eigentlich suchen sollte. Schließlich schlug ich den Weg zum See ein, wo sich an diesem Sonntagmorgen niemand aufhielt. Das Wetter war auch deutlich kühler als am Vortag, und es hatte sich bewölkt. Ich fror ein wenig in meinem T-Shirt. Sicher fror Melissa jetzt auch, wenn sie ganz allein hier draußen war. Vielleicht war sie vom Fahrrad gestürzt, hatte sich verletzt und lag nun irgendwo hilflos am Boden. Die bloße Vorstellung war fürchterlich. Ich musste meine Schwester finden und sicher nach Hause bringen. Ich stellte mein Fahrrad ab und ging am See entlang, sah zwischen den Bäumen und Büschen nach, rief den Namen meiner Schwester, doch da war niemand, kein Hinweis auf Melissa.

Nachdem ich alles gründlich abgesucht hatte, fuhr ich zurück in den Ort und dort ziellos durch die Straßen. Ich begegnete nur wenigen Passanten, einige waren vermutlich auf dem Weg zum Bäcker. Als ich mich dem Haus, in dem Angelina und Guido wohnten, näherte, sah ich, dass Angelina in einem gelben T-Shirt auf ihrem Balkon stand und Blumen goss. Sie erkannte mich und hob ihre Hand lächelnd zum Gruß. Ich winkte zurück. Wie gern hätte ich angehalten und ihr erzählt, dass meine Schwester verschwunden war. Dann kam mir der Gedanke, es einfach zu tun. Ich stieg von meinem Fahrrad und klingelte an der maroden Haustür. Schon einen kurzen Moment später wurde der Summer betätigt.

Im Treppenhaus roch es nicht besser als am Vortag, wie ich feststellte, als ich mein Rad in den Aufzug schob.

„Hallo Constantin. Das ist aber schön, dass du mich besuchst“, begrüßte mich Angelina lächelnd in der Wohnungstür stehend.

Mir fiel auf, dass sie „mich“ statt „uns“ gesagt hatte. War Guido denn nicht da? „Guten Morgen“, grüßte ich zurück. „Ist Guido da?“ Ich hielt es für das Beste, so zu tun, als wäre ich vorrangig wegen ihres Sohnes hier.

„Leider nein. Er wurde gerade von seine Papa abgeholt und verbringt den Tag mit ihm.“

„Schade.“

„Und: Freust du dich schon auf die Reise?“, wollte Angelina von mir wissen.

Für einen Moment lang hatte ich nicht die geringste Ahnung, wovon sie sprach. Dann fiel es mir ein: unsere Frankreich-Reise. Morgen sollte es schon losgehen. Daraus würde wahrscheinlich nichts werden.

Angelina sah vermutlich an meiner bedrückten Miene, dass etwas nicht stimmte. „Ist alles in Ordnung, Constantin?“

Ich schüttelte langsam den Kopf und spürte, dass mir Tränen in die Augen stiegen.

„He, was ist denn?“, fragte Angelina besorgt und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Willst du hereinkommen und es mir erzählen?“

Ich nickte, ließ mein Fahrrad wie am Tag zuvor im Hausflur zurück und folgte ihr in das kleine Wohnzimmer, in das die kühle Sommerluft durch die offene Balkontür wehte.

„Setz dich doch“, bot mir Angelina an.

Ich nahm auf dem grünbraun gemusterten Sofa Platz und sie auf einem der beiden Sessel. Der ganze Tisch lag voll mit Schnittmustern. „In meine Freizeit schneidere ich gern“, erklärte Angelina. „Aber ich bin nicht gut. Das meiste kann man gar nicht anziehen, weil es so schief und krumm ist. Ein Strandkleid will ich mir nähen, aber ich weiß noch nicht, nach welche Schnittmuster. Am besten nehme ich das einfachste. Aber das sieht dann nicht so hübsch aus.“

„Du willst zum Strand?“, fragte ich neugierig und vergaß einen Moment lang meine Sorgen um Melissa.

„Ja, mit meine Freund“, bestätigte Angelina unbekümmert. „Er hat ein Ferienhaus am Meer und ein Boot. Es ist sehr schön dort. Aber Guido gefällt es nicht so sehr.“

„Aha.“ Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Ich hoffte, dass Angelina mir nicht ansah, wie sehr mich die Neuigkeit, dass es einen Mann in ihrem Leben gab, traf.

„Und was macht dich so traurig?“, wollte Angelina wissen und sah mich mit ihren großen braunen Augen offen an.

Dass sie einen Freund hatte, machte mich traurig. Sehr traurig sogar. „Meine Schwester ist seit gestern verschwunden“, erklärte ich. „Mein Vater hat die Polizei verständigt. Er war gestern Abend noch lange unterwegs, um nach Melissa zu suchen, aber ohne Erfolg. Und ich suche heute Vormittag die Gegend nach ihr ab.“

Dio mio!“, rief Angelina schockiert. „Das kleine Mädchen, mit dem du bei meine Salon warst, ist verschwunden?“

Ich nickte.

„Das ist ja sehr schlimm! Ich wünschte, ich könnte dir helfen.“

„Willst du deinen Freund heiraten?“, fragte ich unvermittelt.

„Was?“ Angelina lachte. „Dio mio! Nein, dazu ist es noch viel zu früh. Ich glaube auch, dass Guido es nicht gut finden würde. Er war so froh, als Harry, der uns gestern besuchen wollte, angerufen und noch kurzfristig abgesagt hat.“

Harry hieß der Kerl also. Jetzt verstand ich auch, weshalb Guido nach dem gestrigen Anruf so gegrinst hatte.

Als Angelina mein betrübtes Gesicht sah, wurde sie sofort wieder ernst. „Ich lache, und du machst dir Sorgen um deine sorella. Du tust mir so leid. Deine Schwester wird sicher wohlbehalten wieder nach Hause kommen. Und morgen fahrt ihr zusammen mit eure Eltern in den Urlaub. Das wird eine wundervolle Zeit. Du wirst sehen.“

„Ja, hoffentlich.“ Plötzlich verspürte ich den Drang, schnell nach Hause zu fahren. „Es ist wohl besser, wenn ich mich jetzt wieder auf den Weg mache.“

„Natürlich. Komm gern vorbei, wenn du aus Frankreich zurück bist. Guido und ich freuen uns immer über deinen Besuch.“

Ich nickte. Es tat gut, diese Worte von Angelina zu hören. Doch wollte mir nicht aus dem Kopf, dass sie einen Freund hatte. Einen Freund, der Harry hieß. Einen Freund mit Ferienhaus am Meer und eigenem Boot.

Ich folgte Angelina zur Wohnungstür. Nachdem ich in den Hausflur getreten war, strich sie mir sanft über meinen Kopf, und ich roch ihr Zitronenparfum. „Verlier nicht den Mut, Constantin. Es wird bestimmt alles gut. Ich wünsche es dir.“

„Vielen Dank.“

„Vielleicht ist deine Schwester schon wieder da, wenn du gleich nach Hause kommst“, versuchte sie, mir Mut zu machen, während ich mein Fahrrad zum kleinen Fahrstuhl schob.

Ich drehte mich noch einmal nach Angelina um. „Ja, vielleicht.“ Doch mein Gefühl sagte mir, dass es nicht so sein würde.

Stattdessen stand bei meiner Ankunft ein Polizeiwagen vor unserem Grundstück, und sofort ergriff mich helle Panik. Hektisch klingelte ich an der Pforte. Kurz darauf wurde der Summer betätigt, und Frau Bäumler öffnete die Haustür. Ich warf mein Fahrrad achtlos auf den Rasen und eilte zu ihr.

„Ist Melissa wieder da?“, fragte ich hastig. Frau Bäumler schüttelte den Kopf, ohne eine Miene zu verziehen, und sagte kein Wort. Sie war sowieso eine recht schweigsame Person. Ich mochte sie nicht sonderlich, was vermutlich auf Gegenseitigkeit beruhte, und war immer froh, wenn die umgänglichere Frau Hubertus Dienst hatte. Ich hatte stets das Gefühl, dass die ebenfalls etwa fünfzigjährige Frau Bäumler die Tätigkeit als Haushälterin, noch dazu inklusive Wochenenddienste, nicht sonderlich mochte und sie nur ausführte, weil sie auf das Geld angewiesen war. Ohne die Haushälterin weiter zu beachten, lief ich in unser riesiges, vorrangig in Schwarzweiß gehaltenes Wohnzimmer, wo mein Vater mit zwei uniformierten Polizeibeamten stand, die offensichtlich gerade im Begriff waren, sich zu verabschieden.

„Danke für Ihre Mühe“, sagte mein Vater und führte die Männer, die beide einen kurzen Blick auf mich warfen, zur Haustür.

„Was wollten die denn?“, fragte ich meinen Vater, nachdem er die Haustür geschlossen hatte. „Haben sie Melissa gefunden?“

Mein Vater nickte. Doch war er nicht sofort bereit, mir mehr zu sagen, sondern verließ kurz darauf das Haus.

„Wo ist Melissa denn?“, drängte ich, als er nach fast zwei Stunden endlich zurückkehrte. „Ist sie verletzt? Liegt sie im Krankenhaus?“

Mein Vater ging schweigend ins Wohnzimmer, und ich folgte ihm. „Setz dich mal zu mir“, forderte er mich auf, und ich nahm neben ihm auf einem schwarzen Ledersofa Platz, das meine Mutter gern durch ein weißes ersetzen würde, weil das den Raum ihrer Ansicht nach heiterer erscheinen lassen würde. Sie hatte ihre Idee aber noch nicht umgesetzt, weil sie sich nicht zwischen diversen Möbelangeboten entscheiden konnte.

 

Erwartungsvoll sah ich meinen Vater an, der mir eine Hand auf die Schulter legte. „Constantin“, sagte er schließlich, „ich weiß nicht, wie es dir am besten beibringen soll. Aber Melissa ... wird nicht zurückkehren.“

„Wird ... nicht zurückkehren?“, fragte ich verwirrt.

Mein Vater nickte. „Sie ... wurde gestern an einer Landstraße angefahren. Kein Mensch weiß, was sie da verloren hatte. Der Autofahrer ... hat ihr nach dem Unfall nicht geholfen.“

„Was?“, rief ich entsetzt. „Heißt das etwa, Melissa ist tot?“

Mein Vater antwortete nicht. Das musste er auch nicht. Sein versteinerter Gesichtsausdruck war Antwort genug.

2. Kapitel

Meine Schwester hatte sich am See kurz nach meinem Aufbruch mit ihren Freundinnen gestritten und ihn daraufhin ebenfalls allein auf ihrem Fahrrad verlassen. Diese Informationen kamen in den darauffolgenden Tagen nach und nach ans Licht, und die Polizei fügte sie wie Puzzleteile zusammen, um zu rekonstruieren, was meiner Schwester genau zugestoßen war. Bei dem Streit war es darum gegangen, dass Melissa unbedingt Walderdbeeren hatte sammeln und meine Eltern und mich damit hatte überraschen wollen. Auslöser für dieses Vorhaben war vermutlich ein schwedischer Kinderfilm gewesen, den Melissa kürzlich zusammen mit mir gesehen hatte und in dem Kinder Walderdbeeren genascht hatten, sowie die Tatsache, dass Melissa einige Tage zuvor Frau Hubertus dabei geholfen hatte, aus Erdbeeren, die diese selbst in einem Erdbeerfeld gepflückt hatte, Marmelade für unsere Familie zu kochen und in Gläser zu füllen. Die gesammelten Beeren hatte Melissa in ihrer „Prinzessinnentasche“ transportieren wollen, die sie sowieso meistens inhaltslos mit sich geführt hatte. Melissas Freundinnen waren jedoch der Ansicht gewesen, dass es in unserer Gegend keine Walderdbeeren gebe, und hatten meine Schwester daher nicht begleiten wollen. Deshalb war Melissa auf ihrem Fahrrad allein losgezogen, hatte sich weiter von unserem Wohnort entfernt und war eine nicht viel befahrene Landstraße, die durch ein Waldgebiet führte, entlanggeradelt, was zwei Radfahrer, die die Polizei glücklicherweise ausfindig machen konnte, bestätigten. Vermutlich war der Autofahrer, der Melissa erfasst hatte, während sie am Straßenrand stehend Ausschau nach Walderdbeeren gehalten hatte, mit viel zu hoher Geschwindigkeit in Richtung auf unseren Ort unterwegs gewesen. Vielleicht hatte meine Schwester in dem Moment, als das Auto auf sie zugekommen war, auch gerade die Straße überquert. Melissa hatte dunkle Kleidung getragen und war im Schatten der Bäume sicher nicht leicht zu erkennen gewesen. Meine Schwester war jedenfalls durch den Aufprall schwer verletzt worden, hatte aber wahrscheinlich noch gelebt. Der Autofahrer musste ausgestiegen sein, jedoch nicht, um Melissa zu helfen, sondern um sie und ihr Fahrrad am Waldrand in einen ausgetrockneten Graben zu legen, wo sie fast ganz von Büschen verdeckt war. Dies war der Grund, weshalb sie erst am darauffolgenden Tag von einem älteren Ehepaar, das dort mit seinem Hund spazieren gegangen war, gefunden worden war.

Meine Mutter erlitt einen Zusammenbruch, als sie die Einzelheiten, die zum Tod meiner Schwester geführt hatten, erfuhr. Sie verbrachte die Tage bis zur Beerdigung, ruhiggestellt durch Medikamente, in ihrem Bett.

Mein Vater hingegen machte zumindest nach außen hin einen gefassten Eindruck. Er übernahm alles Organisatorische, hatte sogar meine tote Schwester gleich nach dem Besuch der beiden Polizisten in der Gerichtsmedizin identifiziert. Er stornierte unsere Frankreich-Reise und kümmerte sich um die Vorbereitung der Beisetzung, deren Termin jedoch erst festgelegt werden konnte, nachdem der Leichnam meiner Schwester durch die Gerichtsmedizin freigegeben worden war.

Ich kam mir während dieser Tage völlig verloren und wie in einem bösen Traum vor. Außerdem plagten mich schwere Schuldgefühle. Schließlich hatte ich meine Schwester alleingelassen. Wären wir zusammengeblieben, würde sie jetzt noch leben. Die Frage „Wieso hast du Melissa alleingelassen?“, hing wie ein Damoklesschwert über mir, wenn sie auch niemand laut aussprach. Frau Hubertus, der Melissas Tod ebenfalls sehr naheging, versuchte, mir so gut es ging beizustehen, und machte freiwillig Überstunden, um meine Familie in dieser schweren Zeit zu unterstützen. Obwohl ich ihre Bemühungen zu schätzen wusste, konnte ich ihre ständige Anwesenheit und ihre Versuche, mir die Schuld am Tod meiner Schwester auszureden, kaum ertragen. Wann immer ich die Gelegenheit dazu hatte, zog ich mich in Melissas Zimmer zurück, wo ich mich meiner Schwester am nächsten fühlte. Jedesmal, wenn ich den Raum betrat, rechnete ich so sehr damit, Melissa darin vorzufinden, die auf mich zustürmte und mich fragte, ob wir „Prinzessin und Aristokrat“ spielen wollten. Und immer wieder war ich enttäuscht, wenn sie nicht da war, sondern nur Leere. Nur Leere. Wie gern hätte ich für Melissa den verliebten Aristokraten dargestellt, und obwohl sie nicht mehr da war, zog ich mehr als einmal die Wildlederweste über und setzte dazu den Cowboyhut auf in der Hoffnung, sie könne meinen guten Willen doch von irgendwo aus sehen.

Die Trauerfeier für meine Schwester fand bei sonnigem Wetter, das einen absurden Gegensatz zu dem traurigen Anlass bildete, in engstem Familienkreis statt. Das hatte mein Vater, nicht zuletzt wegen des besorgniserregenden Zustands meiner Mutter, entschieden. In ihrem schwarzen Kleid wirkte das blasse Gesicht meiner Mutter, die auf jegliches Make-up verzichtet hatte, umso kränklicher, und es schien mir, dass sie seit Melissas Tod an Gewicht verloren hatte. Ich hatte meine Mutter in den Tagen zuvor kaum zu Gesicht bekommen. Erst am Tag der Beerdigung fühlte sie sich in der Lage, ihr Bett länger als für ein paar Minuten zu verlassen. Sicher stand sie noch unter dem Einfluss von Medikamenten, denn ihre Augen wirkten seltsam leer. Wie mein Vater trug ich einen schwarzen Anzug, den Frau Hubertus am Vortrag noch sorgfältig gebügelt hatte, obwohl er meiner Ansicht nach bereits makellos aussah. Ferner nahm ich Melissas „Prinzessinnentasche“, die wir ironischerweise völlig unversehrt von der Polizei zurückerhalten hatten, mit zur Trauerfeier. Meine Eltern waren zu sehr mit sich selbst und ihren Sorgen beschäftigt, um ihre Verwunderung darüber zu äußern oder mich nach dem Grund zu fragen.

Vor der Kapelle, in der die Trauerfeier stattfinden sollte, trafen meine Eltern und ich auf meine Großmutter, die Mutter meiner Mutter, und deren Lebensgefährten. Ich bekam meine Großmutter nicht oft zu Gesicht, da es, obwohl sie nicht weit entfernt in der Stadt lebte, nur selten gegenseitige Besuche gab. Ich hatte den Eindruck, dass mein Vater dafür die Ursache war, weil er des Öfteren spitze Bemerkungen über seine Schwiegermutter fallen ließ, womit er meine Mutter jedesmal sehr traf. Auch von dem betuchten Lebensgefährten meiner Großmutter hielt mein Vater nicht viel, weil dieser nach Ansicht meines Vaters sein Vermögen nur geerbt und selbst im Leben nichts erreicht habe. Dafür hatte mein Vater schon mehr als einmal in sarkastischem Tonfall tiefe Bewunderung geäußert. Meine Großmutter war ungefähr einen Kopf kleiner als meine Mutter und recht füllig. Ihre kurzen dauergewellten Haare waren kupferrot gefärbt. An den Fingern trug sie mehrere goldene Ringe, und ihre Fingernägel waren rot lackiert, wie mir auffiel, als sie mich an sich drückte. Meinen Großvater hatte ich nie kennengelernt. Er war vor langer Zeit spurlos verschwunden, wie meine Mutter mir einmal auf meine Nachfrage hin erzählt hatte. Anschließend sprach sie nie wieder über das Thema. Meine Großmutter hatte vor einigen Jahren beim Bingo, ihrer großen Leidenschaft, einen wohlsituierten Herrn in ihrem Alter kennengelernt, mit dem sie nun ihr Leben teilte. Dieser Mann besaß ein Ferienhaus auf Teneriffa, wo er zusammen mit meiner Großmutter die Monate verbrachte, in denen es in Deutschland kalt und trist war.

„Wie groß du geworden bist, Constantin“, sagte meine in dunkles Grau gekleidete Großmutter zu mir. Sie hatte Tränen in den Augen, und ich fragte mich, wie es noch werden solle, wenn erst der Trauergottesdienst beginnen würde, vor dem mir insgeheim graute. „Erich kennst du doch noch, oder?“ Sie wies auf den glatzköpfigen, sonnengebräunten Mann in einem dunkelgrauen Anzug neben sich, der einen ausladenden Bauch hatte. „Tag, Constantin“, begrüßte mich Erich freundlich.

„Hallo“, erwiderte ich und gab ihm die Hand.

Mein Vater begrüßte die beiden ebenfalls mit Handschlag. Dann warf sich meine Mutter in die Arme meiner Großmutter und hielt sie fest, als wollte sie sie nie wieder loslassen, während Erich tröstend die Schulter meiner Mutter tätschelte. Frau Hubertus, die es sich nicht hatte nehmen lassen, an der Trauerfeier teilzunehmen, während Frau Bäumler die Einladung mit den Worten, dass sie das nicht ertrage, abgelehnt hatte, beobachtete die Szene von einer diskreten Entfernung aus. Die Eltern meines Vaters waren nicht anwesend, da sie schon vor meiner Geburt mit ihm zerstritten waren. Den Grund dafür kannte ich nicht. Ich vermutete, dass mein Vater seine Eltern nicht einmal telefonisch über Melissas Tod informiert, sondern ihnen nur eine Traueranzeige geschickt hatte. Er konnte in diesen Dingen sehr hart und unnachgiebig sein.

„Sollen wir hineingehen?“, fragte Erich schließlich. „Es wird Zeit.“

Dem finsteren Gesichtsausdruck meines Vaters sah ich an, dass er diese Äußerung alles andere als passend fand, da Erich schließlich nicht zur Familie gehörte. Ohne zu antworten, umfasste mein Vater meine Mutter und ging mit ihr an seiner rechten Seite und mir an seiner linken auf den Eingang der Kapelle zu. Hinter uns folgten meine Großmutter und Erich, ganz zum Schluss Frau Hubertus.

Melissas weißer Sarg, der im hinteren Bereich inmitten von zahlreichen brennenden weißen Kerzen stand und mit vielen rosa und weißen Rosen geschmückt war, war kleiner, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Bei dem Anblick und der Vorstellung, dass Melissa darin lag, bildete sich ein schmerzhafter Kloß in meinem Hals. Ich kannte Särge nur aus Filmen, und dort hatte ich bisher nur erlebt, dass Erwachsene zu Grabe getragen wurden. Der Pfarrer, ein schlanker Mann mit Brille, der trotz seines noch nicht fortgeschrittenen Alters bereits eine Halbglatze hatte, hielt sich bereits auf uns wartend vor den Sitzbänken auf. Bei unserem Näherkommen nickte er uns ernst und feierlich zugleich zu. Meine Eltern und ich nahmen in der vordersten Reihe Platz, meine Großmutter und Erich ebenfalls, allerdings auf der anderen Seite des schmalen Gangs. Frau Hubertus wählte einen Platz in der Reihe hinter meinen Eltern und mir. Der Organist begann, ein trauriges Stück zu spielen, und ich versuchte, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken, während mir gegen meinen Willen Tränen in die Augen stiegen.

„Wir haben uns heute hier versammelt, um von Melissa Hart Abschied zu nehmen, die uns im Alter von nur acht Jahren verlassen hat“, begann der Pfarrer anschließend seine Predigt.

Bei diesen Worten begann meine Großmutter geräuschvoll zu weinen. Ich warf unauffällig einen Blick auf meine Eltern neben mir, deren Gesichter keine Regung zeigten.

„Die Wege des Herrn sind für uns unergründlich, und doch müssen wir ihnen vertrauen. Was Gott tut, das ist wohlgetan, so schwer es auch mitunter für uns sein mag, dies nachzuvollziehen.“ Daraufhin erzählte der Pfarrer von einem finsteren Tal, von Prüfungen, die Gott uns auferlegte und von noch mehr seltsamen Dingen, die für mich nur schwer begreiflich waren und nicht einmal so recht Sinn ergaben. „Melissa war der Sonnenschein der Familie“, schloss der Pfarrer, begleitet vom Schniefen meiner Großmutter, seine Rede. „Sie war ein fröhliches, lebhaftes Mädchen, eine vorbildliche Tochter und Enkelin sowie eine liebevolle jüngere Schwester. So werden wir sie in Erinnerung behalten. Melissa wird in unserer aller Herzen eine schmerzhafte Lücke hinterlassen.“ Anschließend forderte der Pfarrer uns zum Singen eines für den Anlass passenden Liedes auf. Seine durchdringende, melodische Stimme übertönte dabei alle anderen.

Dann traten die Sargträger durch eine Seitentür in die Kapelle und trugen den Sarg meiner Schwester hinaus zum offenen Grab. Meine Eltern und ich folgten dem Sarg hinter dem Pfarrer, hinter uns gingen meine Großmutter und Erich und zum Schluss Frau Hubertus, die äußerst mitgenommen wirkte.

Nachdem Melissas Sarg langsam in das Erdloch hinuntergelassen worden war, neben dem unzählige Blumengestecke und Kränze als Beileidsbekundungen lagen, las der Pfarrer am offenen Grab noch ein paar passende Verse aus der Bibel, und wir sprachen zusammen das Vater Unser. Die fürsorgliche Frau Hubertus hatte mir den Gebetstext in weiser Voraussicht am Vortag extra beigebracht, damit ich während des Trauergottesdienstes einen guten Eindruck machen würde. Nach Beendigung des Gebets nahm der Pfarrer eine kleine Handschaufel voll von der Erde, die neben dem Grab in einem Behälter bereitgestellt war, und ließ sie auf Melissas Sarg rieseln. Mit einer einladenden Geste forderte er uns auf, es ihm gleichzutun. Meine weinende Großmutter hielt meine Mutter fest, während diese etwas Erde in das Grab schüttete. Zwar war das Gesicht meiner Mutter dabei von einer seltsamen Ruhe, doch hatte es den Anschein, als würden sie ihre Beine nicht mehr lange tragen. Ich wartete bewusst ganz bis zum Schluss. Dann warf ich nach dem bisschen Erde die kleine türkisfarbene Tasche, deren bunte Glasverzierungen im Licht der Sonne funkelten, in das Grab meiner Schwester. „Tschüss Melissa“, sagte ich leise und spürte Erichs tröstende Hand auf meiner Schulter.

 

Mein Vater hatte in einer Gastwirtschaft einen Imbiss für die Trauernden bestellt und auch den Pfarrer dazugeladen, der das Angebot dankend annahm. Zunächst war die Stimmung während des Essens noch sehr gedrückt, doch dann begann ausgerechnet meine Mutter, von lustigen Begebenheiten mit Melissa zu erzählen. Daraufhin fiel auch meiner Großmutter eine Geschichte ein, und Frau Hubertus erlaubte sich, von der Herstellung der Erdbeermarmelade zu berichten, bei der ihr Melissa so vorbildlich geholfen habe. Der Pfarrer brach als Erster auf, nachdem er sich bei allen mit Händedruck und Segenswünschen verabschiedet hatte. Anschließend fühlte sich auch Frau Hubertus veranlasst, die trauernde Familie nun allein zu lassen. Meine Eltern dankten ihr herzlich für ihr Kommen und die wertvolle Unterstützung während der vergangenen Tage. Nachdem die Haushälterin gegangen war, entstand eine etwas peinliche Gesprächspause, die meine Großmutter schließlich mit der Frage unterbrach, ob sie noch etwas für uns tun könne. Mein Vater lehnte dankend ab, bevor meine Mutter den Mund aufmachen konnte. „Ruf mich an, wenn du irgendetwas brauchst, Anni“, wandte sich meine Großmutter an meine Mutter, als hätte sie die Worte meines Vaters nicht gehört. „Ich komme sofort zu dir. Du musst das nicht allein durchstehen. Erich und ich sind für dich da, wann immer du willst. Ich möchte, dass du das weißt.“

„Danke, Mami“, erwiderte meine Mutter leise.

„Tja, wir sollten uns jetzt auch auf den Weg machen“, schlug Erich vor und erhob sich.

Meine Großmutter tat es ihm gleich. Zum Abschied gaben sie und ihr Lebensgefährte meinen Eltern und mir die Hand. „Ruf mich unbedingt an, wenn es Neuigkeiten über den ... Unfallverursacher gibt“, bat meine Großmutter noch an meine Mutter gewandt, bevor sie den Raum an der Seite von Erich verließ.

Leider gab es auch in den nächsten Tagen keine Neuigkeiten über Melissas Mörder. Denn so nannte ich den Mann - für mich stand fest, dass es ein Mann war - insgeheim. Er hatte meine Schwester angefahren und schwer verletzt. Dann hatte er sie einfach wie Müll in einem Graben abgelegt. Die Vorstellung allein ließ mich vor Wut kochen. Die Polizei hatte in der Zeitung gleich nach dem Auffinden meiner Schwester einen Zeugenaufruf geschaltet, doch bis auf die beiden Radfahrer, die Melissa zuletzt lebend an der Landstraße gesehen hatten, hatte sich niemand gemeldet. Es gab keinen einzigen Hinweis auf den Unfallwagen. Keine Werkstatt hatte verdächtige Schäden an einem Auto gemeldet. Der Wagen, der doch Spuren des Aufpralls aufweisen musste, war wie vom Erdboden verschluckt. Es waren nach wie vor Sommerferien. Meine Mutter hatte ihren Konsum von Beruhigungsmitteln offensichtlich reduziert. Sie stand nun wieder zur gewohnten Uhrzeit auf und versuchte, in einen geregelten Tagesablauf hineinzufinden. Manchmal fand ich sie aber im Wohnzimmer oder auf der Terrasse sitzend vor. Sie las wieder und wieder die vielen Beileidskarten, die wir erhalten hatten, und weinte dabei still vor sich hin. Ob Angelina uns auch eine Karte geschrieben hatte? Ich traute mich nicht, meine Mutter, die auf die Friseurin nicht gut zu sprechen war, danach zu fragen. Stattdessen versuchte ich, so gut es ging, meine Mutter zu trösten. Dabei war für mich selbst durch Melissas Tod eine Welt zusammengebrochen, und ich wusste nicht, wie ich dauerhaft ohne meine Schwester zurechtkommen sollte. Weiterhin suchte ich täglich ihr Zimmer auf. Ich hatte mir inzwischen angewöhnt, mich dort hinter geschlossener Tür leise mit ihr zu unterhalten und ihr zu berichten, was vor sich ging, seit sie nicht mehr da war. Ich war davon überzeugt, dass sie mir zuhörte. Meine Mutter hatte mir strengstens untersagt, Ausflüge auf meinem Fahrrad zu unternehmen. Sie wollte, dass ich mich auf unserem Grundstück aufhielt, da sie in panischer Angst lebte, auch noch mich an einen Raser zu verlieren. Dabei wäre ich so gern zu Angelina gefahren und hätte ihr mein Herz ausgeschüttet oder zum Spielen zu einem meiner Freunde, um auf andere Gedanken zu kommen. Ich sprach mit meinem Vater in der Hoffnung, er werde meiner Mutter das Verbot ausreden. Stattdessen bat er mich, mich bis auf Weiteres daran zu halten, bis sich die Situation beruhigt hatte, um meiner Mutter nicht noch mehr Kummer zu bereiten. Widerwillig fügte ich mich und fragte mich dabei, wann sich die Situation wieder beruhigen werde. Ob sie sich überhaupt jemals wieder beruhigen werde.

Dass die Polizei weiterhin hinsichtlich des geflüchteten Fahrers im Dunkeln tappte, war in unserem Ort kein Geheimnis. Die lokale Zeitung brachte sogar hin und wieder einen kurzen Artikel über den Unfall, der keine Neuigkeiten enthielt. Um das Sommerloch zu füllen, wie meine Mutter verbittert feststellte. Wer das getötete Mädchen gewesen war, war ebenfalls weitläufig bekannt.

Am letzten Ferientag, als ich mir den Nachmittag damit vertrieb, vor dem Haus allein ein wenig Fußball zu spielen - meine Mutter konnte die Anwesenheit und das Gelächter anderer Kinder zurzeit nicht ertragen -, sah ich eine kleine dicke Frau, eindeutig älter als meine Mutter, mit schwarzem kinnlangem Haar, die ein rotes, zeltartiges Kleid trug, an der Gartenpforte stehen und klingeln. Ich war mit meiner Mutter allein zu Hause. Frau Hubertus war unterwegs, um Lebensmittel einzukaufen, und mein Vater flüchtete sich schon seit einer Weile wieder in seine Arbeit. Wie zuvor verbrachte er viel Zeit in seinem Büro und hatte spätabends auch noch Termine wahrzunehmen. Vielleicht war das seine Art, um Melissa zu trauern.

Ich wusste, dass meine Mutter draußen auf der Terrasse saß und sich mit der Auswahl des Grabsteins befasste. Das Beerdigungsinstitut hatte ihr hierzu kürzlich mehrere Prospekte zukommen lassen. Daher ging ich an die Pforte.

„Hallo“, sprach die Frau mich an. Ihre Stimme klang heiser, als wäre sie erkältet oder starke Raucherin. „Sind deine Eltern da?“

„Nur meine Mutter“, gab ich zurück.

„Ob ich die mal sprechen könnte?“

Meine Eltern hatten mir von klein auf eingebläut, mich nicht von Fremden einlullen zu lassen. „Wer sind Sie denn?“, fragte ich daher etwas misstrauisch.

„Ich möchte deinen Eltern helfen“, lautete die ausweichende Antwort der Frau.

„Moment bitte.“ Ich trottete hinter das Haus zur Terrasse. Meine Mutter, die wie die Frau an der Pforte ein rotes Kleid trug - allerdings in einer viel kleineren und vermutlich um einiges teureren Variante -, saß auf einem der weißen Korbstühle mit gelbem Stoffpolster und war in die Prospekte vertieft, die sie auf dem ebenfalls weißen Holztisch für einen besseren Vergleich der verschiedenen Ausführungen vor sich ausgebreitet hatte.

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