Desert Hearts

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»Ich sehe es ein«, sagte sie schließlich.

»Gut«, sagte Arthur Williams, sich entspannend. »Dann brauche ich nur noch ein paar Einzelheiten, die die Klage genügend untermauern. Hat das Benehmen Ihres Ehemannes Sie jemals starker nervlicher Belastung ausgesetzt?«

Evelyn schien unschlüssig.

»Hatten Sie jemals Magengeschwüre, Mrs. Hall?«

»Nein«, antwortete Evelyn, »aber mein Mann.«

Arthur Williams lächelte: »Wie steht’s mit Schlaflosigkeit?«

»Nein«, antwortete sie und fügte nicht hinzu, dass George nie ohne Tabletten schlief.

»Waren Sie jemals wegen nervlicher Leiden in ärztlicher Behandlung?«

»Nein.« Sie dachte an Georges Psychiater.

»Hat das Benehmen Ihres Mannes Sie jemals öffentlich in eine peinliche Situation gebracht?« Arthur Williams stellte seine Fragen wie ein Quizmaster, der, fest entschlossen, das Preisgeld loszuwerden, zu einem neuen Thema wechselt.

Evelyn runzelte die Stirn. Ihre unmittelbare Antwort wäre nein gewesen, aber sie überprüfte sie – sie fühlte sich bereits wie ein kooperationsunwilliges Kind. Aber was sollte sie antworten? Sie und George waren seit über fünf Jahren nicht mehr gemeinsam öffentlich aufgetreten.

»Hat die Kritik Ihres Mannes jemals Ihr Selbstvertrauen oder Ihr Sicherheitsgefühl untergraben?«

Mit Sicherheit war es ihre Kritik an ihm – nie ausgesprochen, niemals auch nur bewusst angedeutet mit einem Blick, einer Geste, aber diese tiefe innere Stille musste ihn jeden Tag ihres Zusammenlebens angeschrien haben –, die sein Selbstvertrauen und seine Sicherheit untergraben hatte. Oh, er hatte sie kritisiert, aber nie war es mehr gewesen als ein Verteidigungsangriff, wenn er sich von ihr kritisiert fühlte.

»Hat Ihr Mann irgendwann einmal aufgehört, für irgendeine Zeitspanne, mit Ihnen zu reden?«

»Nun …« Evelyn begann allmählich zu verzweifeln. »Nicht eigentlich aufgehört zu reden.«

»Mrs. Hall, dies sind alles nur Vorschläge«, sagte Arthur Williams liebenswürdig. »Vielleicht wäre es einfacher, wenn Sie mir einfach ein oder zwei Sachen erzählten, die zwischen Ihnen zu Schwierigkeiten geführt haben.«

»Ja«, sagte Evelyn. »Es tut mir leid, wenn ich so wenig kooperativ erscheine. Es ist nur so, dass mein Mann und ich niemals gestritten haben. Und ich nehme an, die meisten Leute, die sich scheiden lassen, streiten sich.«

»Nicht immer. Manchmal ist das eines der Probleme.«

»Mein Mann und ich …«, fing Evelyn an und fand selbst, dass sie wie die Königin von England bei ihrer Weihnachtsansprache klang, »haben einfach keine gemeinsamen Interessen.« Ihr war augenblicklich klar, wie lahm diese Feststellung, juristisch und menschlich, war. Und eigentlich war sie auch nicht wahr. »Wir haben nicht dieselben Werte.«

»Könnten Sie mir ein Beispiel geben?«

Sie konnte doch unmöglich sagen, dass sie die Scheidung von George wollte, weil er Buchclubs betrog, das Soldatenversorgungsgesetz und die Arbeitslosenversicherung schamlos ausnutzte und weil er ihrer Mutter einmal einen defekten Rasenmäher verkauft hatte! Wenn diese Vorwürfe auch privat ein gewisses Gewicht hatten, öffentlich waren sie absurd. Welches war der Fakt, das in sich hinreichend bezeichnende Ereignis, das das Prinzip zum Ausdruck bringen konnte?

»Ich unterstützte meinen Mann, Mr. Williams. Er will nicht – oder kann nicht – arbeiten, aber er muss Geld ausgeben, und zwar mehr als ich verdienen kann. Das Geräusch der unbezahlten Motorsäge und des unbezahlten Stereorecorders bedrohen mein Sicherheitsgefühl.«

»Sie sagten vorhin, Mrs. Hall, dass es ihrem Mann nicht gut gehe. Hindert ihn seine anfällige Gesundheit zu arbeiten?«

»Nun – ja und nein.«

»Was ist denn los mit ihm?«

»Wir wissen es eigentlich nicht richtig«, sagte Evelyn.

»Wir?«

»Mein Mann, die Ärzte – nun, es gibt vielleicht Bezeichnungen, die benutzt wurden – psychiatrische Bezeichnungen. Er leidet an einem Gefühl der Unzulänglichkeit, der Angst zu versagen. Dann aber ist die Welt für ihn wieder ohne Bedeutung, ohne Sinn. Es gibt also keine Werte, und wir haben keine Identität. Alles, was uns ausmacht, sind Wünsche oder Bedürfnisse, die nicht befriedigt werden können.«

»Und das meinen Sie, wenn Sie sagen, Sie hätten nicht dieselben Werte?«

»Genau das meine ich«, bestätigte Evelyn, aber sie war nicht sicher. »Ich könnte es für Hoffnungslosigkeit halten, wenn es nicht mit derart schrecklicher Gier nach Leben hungerte, sich vom Leben nährte …«

»Versuchen wir einmal, das in eher pragmatische Wendungen zu übersetzen. Ich denke, Mrs. Hall, was Sie sagen wollen, ist: Die emotionale Instabilität Ihres Mannes, seine Hoffnungslosigkeit, hat Ihnen tiefgreifende Qual verursacht, hat in der Tat Ihr eigenes Leben untergraben.« Evelyn nickte. »Und er weigert sich, für Ihren Unterhalt zu sorgen und stürzt sich darüber hinaus noch in Schulden, die Sie nicht bezahlen können. Gibt’s noch andere Dinge, die er getan hat, weniger konkrete Dinge? Wie benimmt er sich Ihnen gegenüber? Ist er liebevoll? Ist er rücksichtsvoll?«

»Nein, ich denke nicht. Ich glaube, er verhält sich gleichgültig, und dazu ist er noch abhängig. Er will meine Gesellschaft eigentlich nicht, aber er mag auch nicht allein sein. Er will nicht ausgehen. Und er will nicht, dass Leute zu uns kommen. Er schläft viel – und liest und isst und kauft einen Maschinenpark.«

»War er immer so. Mrs. Hall?«

»Nein, nein, das hat sich allmählich entwickelt. Sehen Sie, nach dem Krieg arbeitete er auf seinen Doktor hin. Versuchte es. Ich hatte meinen schon; daher habe ich unterrichtet. Aber es lief nicht so reibungslos, und wir fingen an, Schulden zu machen. Er übernahm dann Jobs, Teilzeitjobs in Lagerhäusern und Werkstätten. Dann sagte er, beides könne er nicht; und so haben wir wieder versucht, nur mit meinem Gehalt über die Runden zu kommen. Ich weiß nicht, wann genau wir aufgehört haben, uns vorzumachen, er arbeite an seiner Dissertation. Es ist jetzt Jahre her, mindestens fünf.« Evelyn hielt inne, um alles noch einmal zu überdenken. Sie konnte noch immer keine Details bieten, aber sie hatte den Eindruck, dass sie sich dem Problem angenähert hatte, und damit einem Weg, es angemessen zu formulieren.

»Ich glaube, das ist alles, was wir brauchen«, sagte Arthur Williams fröhlich. »Wir können in sechs Wochen, von heute an gerechnet, vor Gericht gehen. Das wäre der 8. September.« Er sah auf seinen Kalender. »Wir sollten uns dann am Freitag davor sehen. Dann können wir die Fragen, die ich Ihnen stellen werde, kurz einmal durchgehen. Das ist alles ganz einfach. Sie brauchen nur mit ja oder nein zu antworten.«

»Das ist alles, was Sie brauchen?«, fragte Evelyn verdutzt.

»Das ist alles«, und kaum war er von seinem Schreibtisch aufgestanden, begann er wieder den hektischen Tanz der Höflichkeit, um Evelyns Abgang in Szene zu setzen.

Wieder auf der Straße, versuchte Evelyn zu rekapitulieren, welche Fragen genau ihr gestellt worden waren und welche Antworten sie gegeben hatte. Es schien ganz unmöglich, dass Arthur Williams über genügend Informationen verfügte, um irgendeine Klage aufzusetzen. Was könnte er denn vor Gericht sagen?

»Stimmt es, dass Ihr Mann viel schläft, Mrs. Hall?«

»Ja.«

»Und Sie sagen, er legt meistens keinen großen Wert auf Ihre Gesellschaft?«

»Ja.«

»Er weigert sich, Ihre Gäste zu unterhalten?«

»Ja.«

»Und er will nicht arbeiten?«

»Nein.«

Ja. Nein. Natürlich nicht. Aber das waren keine Vergehen. Warum sollte er nicht schlafen? Warum sollte er unterhaltsam sein? Wie sollte er arbeiten können? Der Mann ist leidend. Der Mann stirbt.

»Der Scheidungsklage wird stattgegeben.«

Das war dann alles, was nötig war, die unerfüllbaren heiligen Versprechungen zu annullieren, die sie und George geleistet, nach denen zu leben sie sechzehn Jahre lang versucht hatten? George hatte versprochen, für sie zu sorgen, aber auch sie hatte versprochen, für ihn zu sorgen, und das war nur das Geringste ihrer Versprechen gewesen. So wenig in ihrem Versagen war willentlich. George konnte ihr kein Beistand sein, sie konnte ihn nicht ehren. Was verlangte sie eigentlich von einem Scheidungsverfahren – eine systematische Annullierung des Ehegelübdes, jedes einzelnen Gelöbnisses? Sie wusste es nicht. Aber es sollte schon irgendwie mehr sein, oder anders als das.

Als Evelyn die Straße entlangging, hörte sie wieder Arthur Williams’ Stimme, den Akzent, die fast träge Gesetzmäßigkeit der Phrasen. »Haben Sie jemals …?« »Nein.« »Waren Sie jemals …?« »Nein.« »Hat Ihr Mann jemals …?« »Nein.« Sie war nicht fähig gewesen, eine der Fragen, die er ihr stellte, so zu beantworten, dass die Scheidung notwendig oder gar vernünftig erschiene. Aber wenn George gefragt worden wäre, hätten seine Antworten jeden Richter dazu gebracht, ihn freizugeben. George war das eigentliche Opfer ihrer Ehe – er war so sehr das Opfer, dass ihm nicht die Kraft geblieben war, die Scheidung zu wollen. »Euer Ehren, ich beschuldige diesen Mann dessen, was ich ihm angetan habe. Ich beschuldige diesen Mann, das Opfer meiner Lebensumstände zu sein. Ich beschuldige ihn der Magengeschwüre, der Schlaflosigkeit, der Psychosen, der Unsicherheit, der Einsamkeit und der Hoffnungslosigkeit. Ich belaste ihn mit meinem Schuldbewusstsein, das ich nicht mehr ertragen kann.« Gab es keinen juristischen Ausdruck dafür? Gab es keine gesellschaftliche Konvention, die die Qual des Quälenden milderte? Keine. Wenn diese lächerliche Verhandlung sie wirklich freigab, würde sie weiterhin das Mal der starken, intelligenten Frau auf der Stirn tragen, wie Kain sein Brandzeichen.

Evelyn sah auf und fand sich schon fast in der Nähe des Hauses. Sie musste diese acht Straßenzüge wohl gerannt sein, ihrer Verwirrung ausgeliefert, dann ihrem Zorn. Sie ging ins Haus und hinauf in ihr Zimmer, dem sie empört und voller Verachtung gegenübertrat. »Nun?«, wollte sie fragen. »Nun?« Nun was? Hier gab es nichts, dem man entgegentreten konnte, außer den Möbeln, und die verhielten sich gleichgültig. Sie sah sich verzweifelt nach etwas um, wo sie ihren Zorn abladen konnte. Nichts hier konnte ihn ihr abnehmen. Nur sie selbst. »Ich muss irgendetwas tun.« Da war nichts zu tun. Schlagartig und zum ersten Mal kam Evelyn die klare Erkenntnis, was das bedeutete. Sie hatte alles getan, was zu tun war. Arthur Williams wollte sie erst am Freitag vor der Verhandlung wiedersehen. »Aber ich muss irgendetwas tun.« Evelyn setzte sich auf den Stuhl und starrte vor sich hin. Ihre Wut verebbte allmählich, und sie war ruhig, und ihr war ein wenig übel.

 

Sie hatte etwas zu arbeiten. Sie hatte einen Band Yeats mitgenommen. Damit würde sie anfangen. Am nächsten Tag würde sie in die Bibliothek gehen. Mittwoch würde sie in die Universität gehen. Mit den Büchern, die sie brauchte, würde sie dann einen Arbeitsplan erstellen. Gleich war ihr bewusst, dass sie ihre Lebensbedürfnisse festsetzte und die Stunden einteilte, um überleben zu können. Warum fühlte sie sich so in der Falle? Zu jeder anderen Zeit wären sechs Wochen ein Geschenk gewesen. Jetzt, da sie keine Wahl hatte, waren sie eine Strafe. »Unsinn!«

Sie stand auf, um das Buch zu holen, und hatte wieder diesen plötzlichen Schwindelanfall. Es war die Hitze, die Höhenlage. Wie wunderbar wäre es, sich aufs Bett zu legen und ein wenig zu schlafen. Aber sie durfte dem nicht nachgeben. Sie hatte schon erfahren, wie lang ein Abend sein konnte. Schlaf war ein zu köstliches Entkommen, um verschwendet zu werden.

Evelyn traf Virginia Ritchie auf der Treppe, als sie zum Essen hinuntergingen, und sie merkte, dass sie sie viel weniger kritisch sah als noch vierundzwanzig Stunden zuvor. Jünger, mit Kindern zu Hause, mit geringeren als ihren eigenen Kraftreserven, hatte sie bereits drei Wochen einer Isolation durchgemacht, die Evelyn schon nach einem Tag entsetzlich fand. Sie hatte kein Verlangen, mit Virginia Freundschaft zu schließen, aber sie begrüßte sie mit aufrichtiger Freundlichkeit und Mitgefühl.

»Dr. Hall, ich muss mich entschuldigen …«

»Bitte«, sagte Evelyn, »nennen Sie mich Evelyn, und entschuldigen Sie sich für gar nichts. Es besteht keine Veranlassung.«

»Ich weiß, dass ich mich unmöglich aufführe«, sagte Virginia, »aber mir ist dieses Herumwarten und nichts zu tun zu haben schlicht unerträglich. Alle sagten sie, es sei das Beste, nach Reno zu gehen und eine schnelle Scheidung zu kriegen, aber die haben ja keine Ahnung. Die haben nicht die geringste Vorstellung, was es heißt, nur herumzusitzen und zu warten. Und diese grässliche Stadt. Selbst wenn ich zu Hause ein Jahr hätte warten müssen, ich hätte wenigstens etwas zu tun gehabt. Ich hätte bei den Kindern sein können …« Ihre Stimme brach.

»Aber es sind doch nur noch drei Wochen«, sagte Evelyn.

»Nur drei Wochen«, Virginia weinte leise, »ich bin erst seit drei Wochen hier. Drei Wochen habe ich in dem Zimmer gesessen und gegrübelt. Das ist ein ganzes Leben.«

»Haben Sie keine Bücher?«

»Bücher? Nein, aber ich habe jede Zeitschrift im Haus gelesen. Sie wissen, wie die sind, alles über junge Paare, die …« Ihre Stimme versagte wieder.

»Sie haben die falschen Geschichten gelesen«, sagte Evelyn lächelnd.

»Deshalb habe ich auch aufgehört.«

An diesem Abend verlief das Essen nicht so unglücklich wie am Abend zuvor. Virginia war, wie Frances versprochen hatte, ruhiger und weniger tragisch verklemmt. Walter musste kein Fleisch zerlegen und konnte seine Aufmerksamkeit mühelos zwischen seinem Appetit und seiner Rolle als Gastgeber teilen, während Frances sich um die Speisen kümmerte und die Lücken in der Unterhaltung füllte. Nur Ann war merklich still und schien froh, als sie das Essen hinter sich hatte und das Haus verlassen konnte. Virginia, die beschlossen hatte, sich einen Film anzusehen, fuhr mit Ann und Walter, so dass Frances und Evelyn mit ihrem Kaffee allein blieben.

»Noch eine Tasse?«, fragte Frances.

»Danke, ja.«

»Ich bin froh, dass Sie gern Kaffee trinken. Walt und Ann nehmen sich nie die Zeit. Und es ist nett, Gesellschaft zu haben. Jetzt sagen Sie mir, brauchen Sie irgendetwas? Waren Sie beim Anwalt?«

»Ja. Es scheint alles in Ordnung zu sein. Ach ja, er sagte, ich würde einen Zeugen brauchen …«

»Darüber machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Frances. »Das kann ich machen.«

»Frances«, begann Evelyn vorsichtig, »sind hier alle Scheidungen so einfach?«

»Einfach?«

»Ich meine, der Anwalt hat mir nur ein paar Fragen gestellt. Ich hatte nicht den Eindruck, dass ich ihm genügend Informationen für eine begründete Klage gegeben hätte. Und er sagte, ich bräuchte erst am Freitag vor der Verhandlung wiederzukommen.«

»Ohne Widerspruch dauert sie nur ein paar Minuten. Ich weiß. Wenn einem das zum ersten Mal klar wird, erscheint es einem irgendwie nicht rechtens. Aber die Hochzeitszeremonie ist doch auch nicht viel mehr, oder? Anns Vater sagte immer zu mir: ›Frances, zieh eine Sache nicht in die Länge, nur um ihr den Anschein von Wichtigkeit zu geben.‹ Er behauptete immer, dass nichts wirklich Wichtiges länger als zwanzig Minuten dauerte.«

»Zwanzig Minuten?« Dann hatte Frances also Anns Vater gekannt.

»Genau. Empfängnis, Geburt – wir hatten unsere Diskussion darüber –, Heiraten, Scheidung, Sterben.« Frances schwieg kurz. »Er brauchte nicht einmal zwanzig Minuten zum Sterben …«

»Aber wie lange Zeit vergeht zwischen den Ereignissen«, sagte Evelyn verhalten.

»Ah … und eine Frau weiß, was das ist: Zeit. Nichts trifft uns wirklich überraschend, nicht?«

»Nein«, sagte Evelyn, »ich glaube nicht.« Aber sie befand sich auf schwankendem Boden.

Immer wenn Verallgemeinerungen über Frauen vorgebracht wurden, führte Evelyn sich selbst gegen sie ins Feld und fand sich wenig stichhaltig. Und es lag ihr nicht, in dieser verallgemeinernden Manier zu sprechen, die drohte, ihr Privatleben bloßzulegen. Obwohl ihre Neugier wegen Anns Vater und der Beziehung, die zwischen ihm und Frances Packer bestanden hatte, geweckt worden war, unterdrückte Evelyn sie. Sie zog es vielmehr vor, sich zurückzuziehen, beruhigt durch Frances’ Freundlichkeit und daher zuversichtlich, den Abend allein mit ihrer Arbeit verbringen zu können.

Das Einsame-Insel-Spiel, das Evelyn an diesem Abend mit sich spielte, machte ihr einfach nur Spaß. Die vier Bücher, die sie mitgebracht hatte, waren nicht diejenigen, die sie auf eine einsame Insel mitgenommen hätte, aber sie konnte sie, wie den Inhalt von Auffangbehältnissen mit Regenwasser in einer Dürreperiode, vielleicht auf zwei Wochen dehnen. Das Spiel blieb Spaß, weil sie am nächsten Morgen in die Bibliothek gehen konnte.

Aber sowohl der Spaß als auch die Zuversicht vergingen ihr ein wenig, als sie die Bibliothek betrat. In dem einzigen Raum, ausgestattet lediglich mit ein paar Tischen und vielleicht zehn Bücherregalen, war niemand außer Evelyn und der einzigen Angestellten, einer Frau mittleren Alters, die an einem Tisch saß und die Stellenangebote in der Zeitung las. Die Zusammenstellung der Bücher erinnerte Evelyn an Büchereien in Studentenwohnheimen, die aus privaten und willkürlichen Schenkungen der Studierenden bestanden, und aus den Büchern, für die die Hauptbibliothek keine Verwendung hatte. Es gab dort praktisch keine Sekundärliteratur, und sie fand nur ein paar der Standardwerke, die sie brauchte. Aber Bücher jeder Art entzückten Evelyn, und sie wäre versucht gewesen, eine Stunde damit zuzubringen, nach dem gelegentlich erheiternden oder wirklichen Schatz, den jede Bibliothek bergen kann, zu suchen und ihn zu heben, wenn ihr nicht auf unangenehme Weise die Gegenwart der Angestellten bewusst geworden wäre, die Evelyn unterdessen mit unverhohlenem Misstrauen beobachtete. Als Evelyn mit den sechs Büchern, die sie ausleihen wollte, zu dem Tisch hinüberging, war die Angestellte plötzlich völlig in den Karteikatalog versunken.

»Entschuldigen Sie«, sagte Evelyn. Die Frau ignorierte sie. »Ich würde gern diese Bücher ausleihen.«

»Einen Moment«, die Angestellte richtete noch ein paar ausgelegte Paperbacks gerade aus und kam dann um den Tisch herum. »Haben Sie einen Leseausweis?«

»Nein, habe ich nicht.«

»Wohnen Sie ständig hier?«

»Nein.«

»Das wären ein Dollar für die Karte und dann drei Dollar für jedes Buch, was Sie ausleihen wollen.«

»Wie bitte?«

»Ein Dollar für die Karte, drei Dollar für jedes Buch. Sie bekommen die drei Dollar zurück, wenn Sie das Buch zurückbringen.«

Evelyn sah auf die sechs Bücher, die sie ausgewählt hatte. Um sie mitnehmen zu können, hätte sie neunzehn Dollar zu zahlen. Sie hatte keine neunzehn Dollar.

»Ich verstehe nicht ganz«, sagte sie.

»So ist das Verfahren bei Durchreisenden. Wir haben letztes Jahr vierzig Prozent unserer Bücher eingebüßt. Das können wir uns nicht leisten.«

»Nein«, sagte Evelyn, »nein, das können Sie auf keinen Fall.« Sie sah in ihrer Geldbörse nach. Sie hatte einen Fünfdollarschein und etwas Kleingeld. Aber sie benötigte die Bücher, und sie würde das Geld zurückbekommen. »Ich werde einen Scheck ausschreiben müssen.«

»Wir akzeptieren keine Schecks.«

»Einen Reisescheck«, sagte Evelyn.

»Wir akzeptieren keine Reiseschecks.«

Evelyn sah von ihrer Geldbörse auf in die gleichgültigen Augen der Frau vor ihr. Evelyn schloss die Handtasche, wandte sich ab und verließ die Bibliothek.

An diesem Tag ging sie weder noch einmal aus dem Haus, noch vermerkte sie mit irgendeinem Interesse oder Bedauern, dass Ann zum Abendessen nicht zu Hause war. Am Mittwoch, dem Tag, an dem sie geplant hatte, zur Universität zu gehen, ging sie nicht. Stattdessen schlief sie fast bis zum Mittag und blieb dann in ihrem Zimmer und las. Das Einsame-Insel-Spiel war kein Spiel mehr. Es war ihre neue Lebensform. Dass andere menschliche Wesen mit ihr zusammen auf der Insel ausgesetzt waren, machte kaum einen Unterschied. Als sie Ann am Mittwochabend beim Essen sah, sprach Evelyn kaum. Und sie blieb nicht, um mit Frances und Virginia Kaffee zu trinken. Wieder in ihrem Zimmer, erlaubte sie sich kein Grübeln. Sie wechselte von Yeats zu ihrem Tagebuch.

Anfangs bereitete ihr das Vergehen der Zeit, deutlich markiert durch jeden aufgezeichneten Tag, ein halbbewusstes Vergnügen, aber in einem Buch kann die Zeit vieler Tage in einer Stunde vergehen, und immer noch zerrt sie am Geist, so schwer und schleppend wie das ihn beengende Knochengerüst. Es gibt keine Freiheit in einem Tagebuch. Es ist die akkurate Aufzeichnung eines Häftlings.

Selbst seine großartigsten Phantasien sind nur Phantasien eines in der Falle der Zeit Gefangenen. Ein Jahr war vergangen, als Evelyn das Buch sinken ließ, aber es war das Jahr irgendeines anderen. Sie hatte kein Licht gemacht an diesem Abend mit sich.

Sie schloss das Buch, stand auf und zündete sich eine Zigarette an. Sie sah durch den großen Baum vor ihrem Fenster sich kreuzende Strahlen von Suchscheinwerfern bleich über den Abendhimmel streichen. Sie gehörten nicht zu einem Flugzeug. Von irgendwoher, aus der Nähe des Stadtzentrums, vielleicht von einem Gebrauchtwagenplatz aus, zogen sie planlos ihre schwingende Spur durch den leeren Himmel. Evelyn wurde sich eines Geräusches bewusst, das schon seit einiger Zeit zu hören war. Auf der anderen Seite des Flures saß Virginia Ritchie allein in ihrem Zimmer und weinte.

Nichts wirklich Wichtiges braucht länger als zwanzig Minuten, nichts außer der ungeheuren Unbedeutendheit des Lebens selbst, was genau dies ist … dieses schreckliche Warten. Zuvor war es immer als das Abwarten des richtigen Zeitpunktes erschienen, ihr Warten darauf, George zu heiraten; dann ihr Warten darauf, dass der Krieg zu Ende ging; dann ihr Warten auf das Kind, das nicht kam. Jetzt wartete sie die Zeit nicht mehr ab, sondern schlug die Zeit tot, für diesen einen offiziellen Akt, erbärmliches Ende all ihres Wartens. In Richtung des Geräusches flüsterte Evelyn mit trockener Kehle, fast bösartig: »Weine nicht. Weine nicht. Es ist schon vorbei.« Aber das Weinen dauerte an.

Evelyn konnte nicht zu ihrer Lektüre zurückkehren, und sie wollte nicht über den Flur gehen, um mit Virginia zu sprechen. Es gab nichts, was sie ihr hätte sagen können. Panisch verließ sie ihr Zimmer und ging die Treppe hinunter, um im Wohnzimmer zu lesen, aber da war Frances.

 

»Eine Tasse Tee?«

»Frances, haben Sie einen Whisky da?«

»Habe ich. Trinken wir einen zusammen.«

Frances ging in die Küche und kam mit einem Tablett zurück. Sie setzte es auf dem Couchtisch vor Evelyn ab, eine Flasche Bourbon, einen Eiswürfelbehälter, zwei Gläser und eine Flasche Soda.

»Es kann Ihnen nicht schaden, mehrere zu trinken«, sagte Frances. »Das ist das Wetter. So schwül war es noch nie. Niemand kann schlafen. Fast hätte ich Ihnen auch einen Scotch anbieten können, aber ich bin heute Morgen um halb vier aufgestanden und habe ihn mit Ann ausgetrunken. Sie war in fürchterlicher Stimmung, aber drei Drinks später haben wir uns hingelegt und sind glücklich eingeschlafen. Das genau brauchen Sie.«

»Sie sind ein Schatz, Frances. Ich werde die Vorräte morgen auffüllen.«

»Und wenn Sie lesen wollen, dann lesen Sie nur. Ich habe meine Zeitschrift.«

»Ich möchte eigentlich gar nicht. Ich habe mich überlesen, glaube ich.«

»Sie arbeiten zu hart«, sagte Frances.

»Tue ich das? Eigentlich weiß ich gar nicht, was ich sonst mit mir anfangen sollte.« Evelyn trank schnell einen großen Schluck fast unverdünnten Whisky.

»Sie sind genau wie Ann. Wenn sie arbeiten will, schließt sie sich in ihrem Zimmer ein, dieser schrecklichen Mansarde, und selbst Walter kann sie daraus nicht hervorlocken, bis sie so erschöpft ist, dass ihr übel wird.«

»Was arbeitet sie?«

»Sie ist Comiczeichnerin, eine sehr gute sogar. Sicher haben Sie schon einige ihrer Cartoons gesehen. Sie verkauft sie an alle möglichen Zeitschriften. Sie müssen sie mal bitten, Ihnen ein paar zu zeigen.«

»Ich würde sie gern sehen.«

»Ich mache mir Sorgen um Ann«, sagte Frances.

»Sorgen? Warum?«

»Ich weiß nicht, wie ich ihr helfen kann. Ich weiß einfach nicht, was sie vom Leben erwartet. Sie ist keine neunzehn mehr. Sie ist fünfundzwanzig. Die meisten Mädchen ihres Alters sind verheiratet, haben Kinder. Ann ist attraktiv, sie hätte schon ein halbes Dutzend Ehemänner haben können, aber sie scheint nicht einmal einen zu wollen.«

»Sie wird in Reno nicht viel Ermutigendes gesehen haben.«

»Nun, ich weiß nicht.« Frances trank einen großen Schluck. »Darüber habe ich mir früher auch immer Sorgen gemacht, aber wir alle sehen doch auch so viel vom Sterben, und das scheint uns vom Leben nicht abzuhalten. Reno ist nicht schlimmer als jeder andere Ort auch. Wenn man Fehler finden will, braucht man nicht erst hierher zu kommen. Walter und Ann haben eine Menge gehört und eine Menge gesehen, aber zu lernen, wie das Leben ist, das muss ihnen keine Wunden schlagen, oder?«

»So habe ich immer bei der Besprechung von Büchern argumentiert«, sagte Evelyn, »aber es ist mir nie in den Sinn gekommen, das auch auf das Leben anzuwenden.«

»Irgendwie mache ich mir kaum Sorgen, dass ich Walter falsch einschätze; er ist mein eigenes Kind und gehört jedenfalls zu der standfesten Sorte von Jungen. Wenn die Welt ihn nicht ab und zu ein bisschen durchschütteln würde, wäre er sogar träge. Er ist wie ich.« Evelyn lächelte Einspruch, aber Frances fuhr fort: »Ann ist nicht mein Kind. Ich habe für sie gesorgt, seit ihrem zehnten Lebensjahr, aber ich bin nicht ihre Mutter. Ich hab’s auch nie versucht zu sein.«

»Lebt ihre leibliche Mutter noch?«

»Ich nehme es an, irgendwo. Aber für Ann nicht. Und ihr Vater ist tot. Als er noch lebte, brauchte ich mir um Ann keine Sorgen zu machen. Als er noch lebte, habe ich mir um nichts Sorgen gemacht. Aber jetzt hat sie niemanden als mich. Und wer bin ich? Frances, weder wirkliche Mutter, noch wirklich eine Freundin, lediglich ein Paar Hände, ein vertrautes Gesicht.«

»Glauben Sie, dass Ann unglücklich ist?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.« Frances schenkte sich ein und reichte Evelyn die Flasche. »Ich denke, sie müsste eigentlich unglücklich sein, aber im Grunde verstehe ich sie nicht. Ich bin kein sehr heller Kopf, aber sie schon.«

»Sie sind eine regelrecht gescheite Frau, Frances«, sagte Evelyn.

»Nein, nein, bin ich nicht. Ich bin eine sehr beschränkte, dumme Frau, wirklich. Sogar Dinge, die ich früher wusste, fange ich an zu vergessen. Ich zweifle, ob ich sie jemals richtig gewusst habe. Dinge, die Anns Vater mir beigebracht hat. Er sagte immer zu mir: ›Frances, du sammelst Konventionen und Klischees wie altes Familienporzellan. Räum auf damit. Tu sie auf den Dachboden. Wenn du sie hier herumstehen lässt, werden sie kaputtgehen!‹ Und wissen Sie, als ich mit ihm zusammengelebt habe, haben sie mir nie gefehlt; aber nun, wo das Haus einsam ist, leer ohne ihn, wie ein öffentlicher Platz, erwische ich mich dabei, wie ich sie alle wieder aufstelle. Walter stören sie nicht so sehr, aber Ann stößt sich an ihnen jedes Mal die Schienbeine wund. Sie kann nicht in Gerümpel leben. Aber ich habe vergessen, wie ich all die Jahre ohne das alles gelebt habe. Und ich habe sehr glücklich gelebt, aber nun scheine ich irgendwas in meinem Haus zu brauchen, was mir Gesellschaft leistet: Erinnerungen, die alten Kinkerlitzchen meiner Großmutter, Weihrauch im Badezimmer. Ich habe keinen Geschmack. Ich bin sentimental. Plaketten an den Wänden, Souvenirs. Ich hätte gern eine große Tafel mit seinem Bild in der Mitte. ›Glückseligkeit‹ stünde oben drüber, und unten ›Reno, 1943 bis 1953‹. Und ich hätte gern ein Trauerkleid und einen Ehering. Wenn der Mann noch lebt, zählt nur, dass man ihn hat. Wenn er nicht mehr da ist, dann will man all diese kleinen Dinge. Und vieles von ihm vergesse ich. Wissen Sie, dass ich dasitze und eine wunderschöne Hochzeit für Ann plane und dabei glaube, ich wünschte sie für ihn? Er würde sich im Grabe umdrehen und mich heimsuchen!« Frances lächelte und schüttelte den Kopf.

»Würde er?«, fragte Evelyn. »Warum?«

»Weil es nicht stimmt«, sagte Frances. »Eine Sache, die er mich lehrte, eine Sache, die Reno mich lehrte, ist, dass Konventionen eine Art Falle sein können. Aber Sie sehen, ich vergesse das. Ich möchte, dass Ann glücklich wird, und daher möchte ich für sie eine wunderschöne weiße Hochzeit in der Kirche. Und warum? Der einzige Mittelgang, den ich jemals durchschritten habe, führte mich vors Scheidungsgericht. Meine Glückseligkeit sind zehn Jahre des ›Lebens in Sünde‹, was immer das heißen mag. Aber nun gleite ich jedes Jahr ein bisschen mehr zurück in eine Art bürgerlicher Wohlanständigkeit. Ich kann’s nicht ändern. Und es macht mir auch nicht viel aus. Ich hatte, was ich wollte. ›Ich hatte eine Liebe ganz für mich!‹ Das ist ein schönes Lied. Ich weiß nicht. Über eine Hochzeit nachzudenken ist eigentlich eine Art, über die Liebe nachzudenken. Liebe, das möchte ich für Ann. Und ich glaube, dass es mir im Grunde gleich ist, wie sie dazu kommt.«

»Warum arbeitet sie in FRANK’S CLUB?«

»Fragen Sie sie! Frage ich sie, tut sie es mit einem Achselzucken ab. Sie braucht das Geld überhaupt nicht. Ich glaube nicht, dass das für ein Mädchen wie Ann der geeignete Ort ist – oh, zum Spaß für einen Sommer schon. Aber Ann müsste irgendwo sein, wo sie ihresgleichen trifft. Anns Vater war Anwalt. Sie gehört in eine Welt wie die Ihre, Evelyn, zwischen intelligente, kreative Leute. O ja, sie sagt zwar, dass ihr da viele ihrer Einfälle kommen. Dass es keinen Ort gebe, wo sie so viel von der Welt sehen könne. Und möglicherweise hat sie recht. Aber es ist eine schreckliche Arbeit – den Leuten das Geld abzunehmen. Finden Sie nicht auch?«

»Ich weiß nicht viel darüber«, sagte Evelyn. »Aber die Vorstellung allein behagt mir auch nicht. War Ann auf dem College?«

»Ja, eine Zeitlang. Aber das war ein Fehler von mir. Ich habe auf ihren Vater eingeredet, sie runter nach Mills zu schicken, als sie sechzehn war.«

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