Froststurm

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Jan-Tobias Kitzel

Froststurm

© 2013 Begedia Verlag

© 2013 Jan-Tobias Kitzel

Covergestaltung und Satz – Harald Giersche

Korrektur, Lektorat und ebook-Bearbeitung – Begedia

Umschlagbild – Shutterstock

ISBN-13 – 978-3-95777-61-5 (epub)

Besuchen Sie uns im Web:

http://verlag.begedia.de

Für meine Schwester Ruth.

Danke.

Jan-Tobias Kitzel ist Jahrgang 1980 und stammt aus dem beschaulichen Ahaus im Münsterland. Nach einem Studium zum Diplom-Wirtschaftsjuristen (FH) arbeitet er nun als Teamleiter bei einer deutschen Großbank.

Mittlerweile leben er und seine Frau in Bochum, gemeinsam mit zwei Katzen, einer die den Begriff Faulheit erfunden haben muss und einem leicht durchgeknallten Exemplar mit Hyperaktivitätsproblemen.

Seine Veröffentlichungen umfassen die Mitarbeit an mehreren Rollenspielbänden (LodlanD), teilweise auch als Chefredakteur. Von ihm ist Ende 2007 der Roman „Flammenmeer“ erschienen. Jan-Tobias Kitzel berichtet von der Schreibfront in seinem Blog JTKitzel.de.

Forschung

Admin bei der Arbeit

20. Dezember 2014

Die braune Brühe schwappte hin und her, unappetitlich durchzogen von gelb-weißen Schlieren. Der flüssige Mist sah unendlich tief aus. Regina schauderte. Und nahm einen Schluck vom Automatenkaffee.

»Ich muss unbedingt meine eigene Kaffeemaschine mitbringen«, murmelte sie zum wiederholten Male. Aber besser der hier als gar kein Kaffee. Anders war das hier nicht auszuhalten. Ohne Koffein ging gar nichts.

Regina gähnte betont laut. Aber niemand meckerte, obwohl es erst Vormittag und der Arbeitstag noch lang war.

Sie streckte die Hand unter den Schreibtisch und strubbelte Bobo über den Kopf.

»Wer soll uns hier unten auch stören, kleiner Mann? Unendliche Enge und Langeweile in alle Richtungen.«

Bobo hob kurz den Kopf, schaute sie fragend an, um dann in ein ausgiebiges Kratzen seiner Ohren mit der Hinterpfote überzugehen. Sie warf ihm ein Leckerli unter den Tisch und hörte das zufriedene Schmatzen der kleinen Promenadenmischung, die es sich in einem alten Laptop-Karton gemütlich gemacht hatte. Ein Hund in der Systemadministration eines Unternehmens. So etwas war auch nur hier möglich, hier, wo sie nie gestört wurde und die einzige Anforderung des Arbeitstages war, diesen möglichst stressarm rumzukriegen. Glücklicherweise hatte vor ein paar Monaten ein Fehler dutzende Bestellungen des Versandhändlers gefressen. Sonst würde der Chef wohl nochmal überlegen, ob man als kleiner Mittelständler wirklich einen eigenen Systemadministrator brauchte. War eine Heidenarbeit gewesen. Aber welchen »Fehler« programmierte sie dem System das nächste Mal ein? Nochmal derselbe ging schlecht. Naja, in ein paar Monaten musste sie mal schauen. Bis dahin war ihr zwar langweiliger, aber gut bezahlter Job gesichert.

Sie stand auf und legte Papier im Drucker nach. Nach wenigen Schritten war sie schon angekommen. Ihr »Büro« glich mehr einem Bunker aus dem letzten Krieg als einem Arbeitsplatz. Blanke Betonwände, nostalgisch »schöne« Metallregale und ein Kellerfenster, das gerade genug Luft herein ließ, dass sich die Druckerausdünstungen verziehen konnten. Vorsichtig umschlängelte sie die Computerkartons auf dem Fußboden. Eigentlich hätte sie mehr als genug Zeit fürs Aufräumen gehabt. Aber so verzweifelt war sie nun auch nicht. Regina kicherte in sich hinein und bahnte sich ihren Weg zurück zum Schreibtisch, wo sie sich in den altersschwachen Sessel plumpsen ließ. Da klingelte das Telefon. Genervtes Augenrollen, Headset einklinken. Ein schneller Blick auf das Display offenbarte einen hausinternen Anruf.

»Seifer. Administration.«

»Ich hab hier ein Problem«, kam die piepsige Stimme von Mandy aus der Personalabteilung. Was man bei zwei Teilzeitis so als Abteilung bezeichnete.

Regina seufzte. »Ja, was denn?«

»Das Mailprogramm sagt, ich hätte zu viele Mails oder Anhänge gespeichert. Mein Speicherplatz sei voll.« Mandy klang fast ein wenig entrüstet.

Regina zog ungläubig eine Augenbraue nach oben.

»Jeder hier hat 2,5 Gigabyte Mailspeicherplatz. Und die reichen nicht?«

Ein kurzes Zögern auf der anderen Seite. »Nein, ich krieg doch so viele Fotos von meiner Tochter geschickt. Ich muss doch sehen, wie mein Enkel aufwächst. Wissen Sie, ich seh den doch so selten. Einmal, da ...«

Regina fuhr dazwischen: »Ja, ich weiß, Frau Brauer. Das haben Sie mir schon erzählt. Bestimmt.« Sie atmete durch. »Dann drucken Sie sich doch die Bilder aus, die Sie behalten wollen und löschen die Mails danach.«

»Die Mails löschen? Aber wenn die Bilder mal verblassen?« Mandys Tonfall klang nach Weltuntergang.

»Und wenn Sie sich diese nach Hause auf ihren privaten Computer schicken und dann hier löschen? Insbesondere, da private Mailnutzung eh nicht gestattet ist!« Dass so ein Hinweis gerade von ihr kommen musste ...

»Aber ... ich habe gar keine private Mailadresse, ich lasse mir immer alles hierher schicken.«

»Einen Computer zu Hause haben Sie doch sicherlich, oder?«

»Ja.«

»Dann speichern Sie die Fotos auf einem USB-Stick und nehmen ihn mit nach Hause. Dann löschen Sie hier die Fotos!«

»Aber dann ist doch mein privater Computer bestimmt voll!«

Regina griff nach ihrer Maus und klickte im System herum.

»So, Problem erledigt. Sie haben jetzt 2,5 Gigabyte freien Mailspeicherplatz.«

»Oh, toll! Also hab ich jetzt doppelt so viel wie vorher?«

»Nein. Nur wieder freien Speicherplatz. Ich stimme Ihnen zu: Fotos kosten einfach unglaublich viel Speicherplatz. Erinnerungen werden eh überschätzt.« Ein kurzer Moment Stille folgte. Regina kostete ihn aus und legte auf. Sie meinte fast den Schrei der Sachbearbeiterin zu hören. Was bei zwei Etagen Höhenunterschied kaum möglich war.

Sie schnappte sich ein Klebezettelchen und klebte es auf ihre To-Do-Liste für den nächsten Tag. »Mails von Mandy wiederherstellen.« Wenigstens einen Tag wollte sie die dumme, alte Kuh schwitzen lassen. Private Mails am Arbeitsplatz ... tststs ... das war ihre Domäne, die anderen sollten doch wohl bitteschön arbeiten.

Regina schnaufte laut durch. Achte Etage und ein kaputter Aufzug. Mal wieder. Aber was erwartete sie auch von diesem miesen Mietbunker im Essener Norden?! Das alles zu ihren 1,50 Meter Körpergröße und gut fünfzehn Kilo Übergewicht hinzugezählt und sie konnte dem Schicksal nur zu seinem Händchen beglückwünschen. Regina stellte den Einkaufskorb vor ihrer Wohnungstür auf den Boden und Bobo sprang zufrieden bellend heraus, schüttelte sich den Regen aus dem Fell und schaute erwartungsvoll zu ihr hoch. Sie erkämpfte sich ein Lächeln zwischen zwei japsenden Atemzügen, schloss auf und Bobo jagte herein, natürlich direkt zum Futternapf. Da waren sie sich einfach zu ähnlich. Deshalb hatte sie den kleinen Klops auch so gern. Möglichst wenig Aufwand bei maximaler Futterausbeute.

Eine Stunde später lag Regina satt und träge auf der durchgelegenen Couch vor dem Fernseher. Talkshow, zapp. Musikvideo, zapp. Pokern. Sie überlegte kurz, legte die Fernbedienung zur Seite und griff erneut in die Tüte Chips Oriental. Irgendwie musste sie ihre Kilos ja auch halten. Schwere Arbeit. Sie nahm eine Handvoll. Befriedigende Art der Bewegung. Bobo hatte sich zu ihren Füßen hingelegt und sägte einen halben Wald ab.

Das Pokerspiel lief im Hintergrund. Was machte sie hier auf der Couch? Wieso fühlte sich ihr Leben so unendlich leer an? Gut, sie hatte nicht allzu viele Freunde. Aber die, die sie hatte, waren dafür enge Gefährten. Auch wenn sie sie hauptsächlich über das Internet kennengelernt hatte und persönliche Treffen selten waren. Aber waren virtuelle Freundschaften denn schlechter als reale? War Sorgenteilen etwas anderes, wenn man sie jemandem mailte anstatt sie ihm direkt zu sagen?

Regina schüttelte den Kopf, aber die düsteren Gedanken verschwanden nicht so leicht. Wie schon seit Monaten, eher sogar Jahren. Sie war mit ihren 22 Jahren noch jung. Direkt nach dem Abi hatte sie eine Ausbildung zur Systemadministratorin gemacht und sofort die Stelle beim Müller Versand bekommen. Aber den wirklichen Sinn ihres Lebens hatte sie noch nicht gefunden. Regina schaute zur Wand herüber, an der einige Urkunden hingen. Aus ihrer Zeit beim Schachclub Essen. Sie war eine vernünftige Strategin. Aber beim Schach waren nur Voll-Nerds, Menschen, die nun wirklich in ihrer eigenen Welt lebten. Da hatte sie sich nicht wohl gefühlt, auch wenn sie gut gewesen war. In einem Regal neben den Urkunden stand der Ordner mit den BWL-Unterlagen. Fernstudium. Angefangen, aber nie wirklich durchgezogen. Sie war nicht der Studientyp. Und gerade mal gut 1.000 Euro Studiengebühren waren für diese Erkenntnis doch wirklich ein Schnäppchen, oder nicht?! Sie lachte kurz auf.

Bläuliches Licht erfüllte das Appartement. Regina saß im Schneidersitz auf der Couch, ihr Laptop wärmte wie so oft die Oberschenkel. Doch sie schenkte dem keine Beachtung, da sie zu sehr in ihrem Element war. Fast unkörperlich rasten ihre Finger über die Tastatur, das Netz lag »Däumli« zu Füßen, ihrem Online-Pseudonym seit so vielen Jahren. Behände klickte sie sich durch mehrere Browserfenster des Laptops. Sie war noch unschlüssig, was heute Abend ihr Ziel sein sollte. Das Hacken hatte sie vor ein paar Jahren als Zeitvertreib angefangen, und merkte dann, dass sie dafür eine echte Begabung hatte. Eine, die sie über die einsamen Stunden am Abend rettete. Wenn wieder mal keiner ihrer paar Freunde Zeit hatte. Und auch kein Mann an ihrer Seite war. Was angesichts der vergangenen Jahre auch eine echte Ausnahmesituation gewesen wäre. Sie schnaubte kurz auf, dann klickte sie auf das Singleportal ihrer Wahl. Ihr Profil musste mal wieder upgedatet werden, aber das konnte sie auch von der Arbeit aus machen. Heute wollte sie auf die Jagd gehen. Nach Informationen, die eigentlich nicht für sie bestimmt waren. Ein paar Mausklicks später lag die Anmeldeseite vor ihr. Sie öffnete ein weiteres Fenster und ließ »Hellhound«, die von ihr geschriebene Hackingsoftware auf das Singlenetzwerk los. Datenströme zogen grün auf schwarz an ihrem Auge vorbei. Bobo schnaubte neben ihr und drehte sich zur anderen Seite. Sie griff hier und dort ein, veränderte Variablen, startete Brute-Force-Angriffe, koordinierte Abfragen und sorgte dafür, dass sie ihre Spuren verwischte. Stasi 2.0 zum Dank musste man sich ja darum 2014 einige Gedanken machen, selbst als fast legaler Computerprofi. Sie verdankten es dem Anschlag auf den Reichstag im letzten Sommer, dass Anti-Terror-Gesetze in Kraft getreten waren, die ihre früheren Ausgaben wie Papiertiger wirken ließen. »Login acquired« blinkte es vor ihr auf. Zufrieden kraulte sie Bobo hinterm Ohr, was diesen nur zu einem müden Seufzer animierte. Faul durch und durch. Mein Schatz.

 

Sie loggte sich mit dem von ihr aufgespürten Admin-Zugang in das Singleportal ein und griff auf die Datenbank zu. Wollen wir doch mal sehen, bei welchem Mann in meiner Nähe die Angaben im Profil zur Realität passen. Name an Name scrollte an ihr vorbei. Bankverbindungen, biographische Angaben, Querverweise zu privaten Webseiten. Regina schmiss ein weiteres Programm an, sie hatte es »Dating-Snoop« getauft. Die Software saugte sich die offiziellen Angaben der Aspiranten, führte parallel Google-Abfragen durch und verglich sie mit den Angaben, die die Männer bei ihrer Anmeldung im Singleportal gemacht hatten. Dort, in der Anmeldemaske, wo sie ihre Vorlieben angeben mussten, um ein passendes Weib präsentiert zu bekommen. Wo die wenigsten logen, denn das ergab wenig Sinn, dafür war der Anbieter hier einfach zu teuer.

Eine halbe Stunde später lagen zehn Ausdrucke vor ihr auf dem leicht zugemüllten Wohnzimmertisch. Sie gehörten zu drei Männern, die auf ihr Suchprofil passten. Genauer, als es jede »offizielle« Single-Suchmaschine gekonnt hätte. Wenn der dazugehörige Hack nicht so illegal wäre, hätte sie die Ergebnisse gut vermarkten können. Regina grinste und nahm einen Schluck Cola. Aber dann wäre es auch nur halb so aufregend. Wenigstens etwas Adrenalinträchtiges in ihrem Leben.

Regina schlurfte in die kleine Wohnküche ihres Appartements, zwei leere Chipstüten in der Hand. Sie trat gegen den Mülleimer und der aufspringende Deckel offenbarte einen überfüllten Eimer. Der Müll musste mal wieder runter. Sie stopfte die Tüten irgendwie hinein. Ein weiterer Kick, der Deckel flog zu. Morgen.

Ein leises Klingeln vom Beistelltisch. Eine Chatnachricht auf ihrem Laptop. Nach wenigen Schritten durch ihre kleine Wohnung war sie schon da, viel Fläche brauchte sie nun wirklich nicht. Das gesparte Geld steckte sie lieber in neue technische Spielereien. Wie ihren Laptop, der sie zu Kunststücken befähigte, bei denen der Staatsmacht angst und bange werden würde. Wer wollte denn da quasseln? Die Chat-Blume von Susanne leuchtete auf. Aha, also mal wieder Beziehungsstress mit Kevin? Oder schwere Shopping-Entscheidungen, die sie ihrer langjährigen Freundin erleichtern sollte? Sie schwang sich den Laptop auf die Knie und setzte sich im Schneidersitz auf die Couch, während im Hintergrund ein hässlicher Pokerspieler mit viel zu großer Sonnenbrille einen Flush hinlegte.

»Hiho, Süße. Was läuft bei dir?«

Regina grinste. Also nur Labern.

»Soylent Grün ist Menschenfleisch! *g* Grün, total grün hier. Und bei dir?«

Die Folgenachricht erschien binnen Sekunden auf dem Schirm.

»Auch. Sogar Kevin gibt Ruhe. Kein Wunder, ist ja auch mit seiner Klasse auf Klassenfahrt. Der Oberlehrer. Und bei dir? Auf der Arbeit viel zu tun?«

»Der war gut. Nein, wie immer nix los. Ich langweile mich zu Tode. Und bin irgendwie depri.«

»Och, Kleine. Warum?«

»Dasselbe wie letztes Mal. Also wie immer. Ich weiß einfach nicht, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Soll das hier alles sein? Langweilige Arbeit, keine Geldsorgen, aber nix wirklich zu tun. Und jetzt komm mir nicht wieder mit ›Such dir ein Hobby‹, das hab ich schon ein paar Mal probiert. Und nur Date an Date kann es auch nicht wirklich sein.«

Ein kurzes Zögern. »Hör mal, ich bin deine Freundin. Und so gut vorbereitet wie du geht keiner zum Rendezvous, das weiß ich. Aber zum einen hab ich dir schon hundertmal gesagt, dass man es mit dem Infos sammeln auch übertreiben kann, auch Überraschungen sind schön. Und zum anderen: Wenn du nur die Hälfte der Datensammel-Zeit im Fitnessstudio verbringen würdest, hätten deine Dates möglicherweise mehr Erfolg.«

Regina schaute an sich runter und zuckte mit den Achseln. »Ja, ich bin keine Pamela Anderson. Schon klar. Aber war da nicht mal was mit inneren Werten und so?«

»Trotzdem. Erster Eindruck und so. Aber ich will dich nicht ärgern. Anderes Thema: Deine Langeweile. Hast du denn irgendwas, woran dein Herz hängt? Politik? Umweltschutz? Tierschutz? Irgendwas, wo du dich engagieren könntest? Sowas frisst viel Zeit, ist sinnvoll. Und man lernt quasi nebenbei nette Jungs kennen.«

Reginas Blick strich durchs Zimmer und blieb an der Kiste mit ihren Jugendklamotten hängen, die sie aus nostalgischen Gründen nicht wegwarf. Und aus Faulheit nicht in den Schrank einordnete. Sie sah die Cordhose mit dem Sonnenblumenaufnäher fast vor sich.

»War früher mal bei der Jugend von Greenpeace.«

»Und warum nicht dabei geblieben?«

»Das übliche: Jungs, wenig Zeit durch Abi und Ausbildung. Etc.«

Gut zwanzig Sekunden Pause. Dann tauchte ein Link im Chatfenster auf.

»Die Greenpeace-Gruppe in deinem Stadtteil. Sitzung ist immer dienstags. Geh doch morgen mal hin.«

Regina lachte auf. Das tat gut.

»Dein Google-Fu ist stark, junger Padawan.«

»;-)«

»Ich überlegs mir.«

»Tue das. Dann geh ich mal so langsam ins Bett, muss morgen früh raus.«

»Tschö mit ö.« Susannes Chat-Blume erlosch. Regina legte den Laptop beiseite. Greenpeace. Sie seufzte. Nun gut, dann mal wieder auf zu den Ökos. Aber wenn irgendeiner der Müslifresser sich über ihren ökologisch inkorrekten Technikwahn beschwerte, würde sie ihre Erinnerungen an die Karate-Zeit ausgraben. Noch so ein Hobby, das sie ausprobiert und zu den Akten gelegt hatte. Aber zu einem herzhaften Tritt in die Eier reichte es immer noch.

Forscher Forscher

Sebastian stapfte missmutig durch den feinen Nieselregen, der seit Tagen über Berlin niederging. Die Einkaufsstraße zu seiner Rechten, bahnte er sich den Weg durch die Massen an Weihnachtseinkäufern. Verrückt, am zwanzigsten Dezember noch Einkäufe zu machen. Noch dazu an einem Freitag. Zu diesem Zeitpunkt sollte man bereits alles erledigt haben. So wie er: Gut geplant, bereits Ende November mit allen Einkäufen für die Familie und Freunde durch. Er öffnete im Gehen seinen Anorak. Macht der Gewohnheit, überhaupt einen anzuziehen. Bei 18 Grad nicht wirklich notwendig. Verrücktes Wetter. Die Schneewahrscheinlichkeit für die Feiertage lag bei null Prozent. In Norwegen. Der Rest von Europa hätte noch darunter gelegen, wenn dies mathematisch möglich gewesen wäre. Die warmen Monate gingen weiter. Was ihm Angst machte. Und Arbeit brachte.

»Eine kleine Spende?« Ein dicker Mann im Weihnachtsmannoutfit hielt Sebastian eine dem Scheppern nach prallvolle Klingeldose unter die Nase. Der Fahne nach zu urteilen, hatte der »liebe Onkel« schon mehr als einen Glühwein getrunken, um die stupide Arbeit etwas erträglicher zu machen. Sebastian kramte in seiner Tasche, holte ein Zwei-Euro-Stück hervor. Dann hielt er inne. »Wofür sind die Spenden?«

Der Weihnachtsmann schaute ihn an, als ob er von einem anderen Planeten kommen würde. Auch zu Weihnachten hatte er nichts zu verschenken.

»Tierheime, Kindergärten, such es dir aus, Mann.«

Sebastian steckte die Hand zurück in die Tasche und ging zügigen Schrittes weiter.

»Arschloch«, klang es ihm laut hinterher.

Sebastian zuckte mit den Schultern. Man konnte keinem trauen. Erst recht nicht diesen Spendensammlern. Wenn er einer Organisation etwas Gutes tun wollte, dann nur für Forschung. Darin lag die Zukunft. Tiere waren Ablenkung. Und um Kindergärten kümmerten sich die Kollegen vom Familienministerium ganz gut. Die brauchten nix nach der Bildungsoffensive 2013. Natürlich kurz vor der Wahl lanciert. Sebastian lachte auf. Das Politikspiel hatte sogar ihn, den angestellten Meteorologie-Forscher vom »Bundesministerium für Bildung und Forschung« eingefangen. Auch wenn er sich immer noch dagegen sträubte, Gefallen nur gegen Retouren zu tun und immer über die Schulter zu schauen, wer gerade zuhörte.

Ein schneller Blick auf die Uhr. Mist, er hatte über den Stadtbummel in der Diskussionspause die Zeit vergessen. Hektisch schaute er sich um. Natürlich. Die Straße war brechend voll. Aber kein Taxi in Sicht. Sebastian seufzte auf, machte den Mantel wieder zu und eilte schnellen Schrittes zurück zum provisorischen Ausweichgebäude des Bundestags.

Die Gummisohlen seiner Anzugsschuhe quietschten unbarmherzig laut auf dem edlen Steinboden des Foyers. Köpfe drehten sich zu ihm um, Sebastian duckte sich unwillkürlich. Hektisch schaute er sich um, bemühte sich, Dr. Roberts zu entdecken. Um ihm auszuweichen. Plötzlich, von der Seite: »Herr Born. Wie sehen Sie denn aus?«

Sebastian ließ alle Hoffnung fahren und drehte sich um. Regen tropfte aus seiner Kleidung auf den Boden, auf den letzten Metern hatte natürlich auch noch sein Schirm versagt. Scheiß Hauptstadtwind. Was für ein Tag.

Sebastian senkte demütig den Kopf. »Entschuldigen Sie die Verspätung, Dr. Roberts.«

Seinem Gegenüber entfuhr ein lautes Lachen, das sogar im vollbesetzten Foyer gut zu hören war. Dieselben Köpfe wie vorhin drehten sich zu ihnen um. Impertinent!

»Welche Verspätung, Herr Born?« Dann schlug sich der alte Mann mit gespieltem Erstaunen vor die kahle Stirn. »Ach ja, ist ja ihre erste Konferenz. Hören Sie. Wenn hier jemand sagt »Eine halbe Stunde Pause«, dann können Sie das locker verdoppeln. Politiker und freie Buffets. Nichts bringt Zeitpläne mehr durcheinander.«

Da musste selbst Sebastian schmunzeln, spürte dann aber den tadelnden Blick seines Vorgesetzten. »Ich habe Sie nicht wegen der zeitlichen Lage angesprochen, sondern wegen Ihrer Kleidung. Sie tropfen hier gerade den Boden voll. Und Sie wollen gleich einen Vortrag halten? Guter Gott. Gehen Sie sich bitte frisch machen. Und trocken, wenn es geht.«

Sebastian nickte, ballte die Faust in der Jackentasche und ging schnellen Schrittes zur Treppe, die hoch zum Garderobenbereich und zu den Toiletten führte

»Und kommen Sie gleich pünktlich«, schallte es ihm noch hinterher.

Unglaublich, wie dieser Mann so die Massen überschreien konnte. Und kein bisschen peinlich. Jedenfalls nicht für ihn. Sebastian kochte innerlich. Knibbelte an seinen Daumen herum, genoss den kurzen, spitzen Schmerz, als die Haut riss. Warum hatte er nicht auf die Zeit geachtet? Und einen vernünftigen Schirm mitgenommen?

Zehn Minuten Gehampel unter dem Handfön und ungezählte Papierhandtücher später fühlte sich Sebastian wieder halbwegs wie ein Mensch. Äußerlich wirkte er unauffällig wie eh und je. Die meisten anderen übersehen Menschen wie ihn: Durchschnittlich groß, durchschnittliche fünf Kilo zu viel auf den deutschen Rippen, kurze, nichtssagende Frisur, randlose Brille. Der Durchschnittstyp in der U-Bahn, der Mieter von nebenan. Aber heute war er jemand, der etwas zu sagen hatte. Das war mehr, als der Durchschnitt wagen würde. Und er hatte den Mumm. Endlich. »Du hast es drauf. Du wirst sie überzeugen. Du kannst das!«, murmelte er vor sich hin, als er die Toilette verließ. Die einschlägigen Psycho-Kolumnen mochten mit ihren »Sprich mit dir«-Tipps vielleicht sogar Recht haben. Er fühlte sich wirklich etwas selbstsicherer. Nicht, dass das sonst seine große Stärke gewesen wäre.

Er eilte die Treppe hinunter, sah gerade noch, wie die letzten Gäste zurück in den Saal gingen. Wenigstens kam er jetzt pünktlich. Er bog vor der Einlasstür links ab, ging den Gang schnell hinunter, zückte vor der Security des Bundestags seinen Ausweis und wurde in den hinteren Bereich vorgelassen. Hier sah alles improvisiert aus. Kisten stapelten sich, kleine Büros waren besetzt mit drei oder mehr Beamten der Verwaltung. Überall lungerten Sicherheitsleute herum. Das Kongresszentrum war vor gut sechs Monaten über Nacht zum provisorischen Bundestag geworden. Durch eine Nacht des Feuers, des deutschen Dschihad. Sebastian schüttelte den Kopf und verdrängte die Gedanken, die ihm wie so vielen Deutschen auch nach Monaten noch fest im Kopf saßen. Der Glaube an die eigene Unverwundbarkeit. Weggebombt. Und er lief mit quietschenden Schuhen in einem als edles Kongresszentrum erbauten Gebäude herum und war drauf und dran, eine Rede zu halten. Nein, nicht eine Rede. Die Rede. Die Rede seines Lebens.

 

Dort hinten. Die Seitentür zur Bühne. Frau Debrischek blickte sich schon hilfesuchend um. Sebastian hob die Hand und winkte ihr zu. Die Protokollbeauftragte bedachte ihn mit einem Blick des Todes. Er war fast zu spät. »Aber nur fast«, murmelte er, schloss die Hand fester um seine Notizen und ging zügig zu ihr hin. Selbst durch die geschlossene Tür konnte er die Stimme seines Vorgesetzten hören, der ihn gerade auf der Bühne ankündigte. Der Kloß in seinem Hals wurde größer. Der Blick der sofortigen Vernichtung von der Seite half da auch nicht wirklich. »Machen Sie so einen Scheiß nie wieder mit mir!«, zischte ihm Frau Debrischek von der Seite zu, als sie die Tür öffnete und Sebastian in den Bereich hinter der Bühne schubste. Wie unter Trance stieg er die Treppe zur Bühne hinauf. Dort, wo sonst der Bundestagspräsident mit seinen Vizes saß und das Parlament leitete. Seine Beine fühlten sich an wie Blei. Mit gerade einmal Anfang dreißig eine Rede vor einer UN-Konferenz halten. Er musste verrückt sein. Sein Vorgesetzter kam ihm entgegen, lächelte und klopfte ihm auf die Schulter.

Ohne dass er sich erinnern konnte, weitergelaufen zu sein, stand er schon auf der Bühne. Vor dem Podest. Neben ihm der Teleprompter, vor ihm seine zerknitterten Unterlagen. Für den Notfall. Und vor ihm dreihundert Gäste aus aller Welt, die ihn ansahen. Und sich auf einen weiteren, geistreichen, langweiligen Vortrag freuten. Wie es bei einer UN-Konferenz üblich war. Damit man sich am Ende bedeutungsschwer die Hand schütteln konnte. Und eine Folgekonferenz vereinbarte.

Sebastian nickte unsicher in die Runde, konzentrierte sich dann auf den Teleprompter und startete ihn durch einen Druck auf das entsprechende Fußpedal.

»Wir haben versagt.« Er ließ die Worte nachklingen. Die ersten Köpfe wandten sich nach oben, gelangweilte Nebengespräche verstummten. »Wir haben auf der ganzen Linie versagt.« Er trat vom Pult zurück und lief die Bühne auf und ab, vergaß den Teleprompter, vergaß das Drumherum. Nur er und die Zuhörer existierten.

»Wir hätten handeln können. Vor Jahrzehnten, als die ersten Forschungsergebnisse zur globalen Erwärmung auf unseren Tischen lagen. Und wir sie beiseitegelegt haben, da es dafür noch keine Forschungsbudgets gab, die man durch eine nett klingende, aber wohlweislich hirnlose Beantragung hätte schröpfen können.« Er strich sich unterbewusst die Kleidung glatt.

»Und dann haben wir erneut versagt. Als endlich die Mittel da waren, vor wenigen Jahren erst. Versagt darin, uns abzusprechen. Jeder forschte lieber für sich allein. Klar, die globale Erwärmung im nationalen Alleingang zu stoppen, verheißt ja auch mehr Ruhm. Und seien wir ehrlich: Vor allem mehr Geld.« Protestierendes Gemurmel aus dem Saal. Sebastian redete darüber hinweg.

»Lieber bauen wir mit Milliardenmitteln ›gemeinsam‹ den großen Teilchenbeschleuniger oder schicken ein paar Auserwählte ins All, als uns darum zu kümmern, dass unsere nächste Generation die Niederlande nicht nur als nettes Ausflugsgebiet fürs Wochenende kennt. Zum Abenteuertauchen in den Ruinen der untergegangenen Städte.« Einzelnes Gekicher und laute Zwischenrufe in einer kehligen Sprache. »Wenn es überhaupt eine Plattform gibt, die gemeinsame Forschungen zum Stopp der globalen Erwärmung schultern könnte, dann doch Hier und Heute die UN. Wir sind die Forscher. Es ist unsere Aufgabe, zusammen zu arbeiten und unsere nationalen Geldgeber davon zu überzeugen, in den gemeinsamen UN-Forschungsfonds einzuzahlen, damit alle etwas von den Früchten der Arbeit haben. Und sie schneller erreicht werden. Unpopulär sagen Sie? Eine sichere Methode, bei der nächsten Beförderung übergangen zu werden? Ja. Möglicherweise. Aber auch gleichzeitig die einzige, damit wir uns auch morgen noch im Spiegel ins Gesicht schauen können.«

Sebastian bemühte sich krampfhaft, sein Zittern zu unterdrücken. Erst jetzt merkte er, wie nassgeschwitzt er war. Aber es hatte gesagt werden müssen. Ungläubige Blicke aus dem Publikum, immer mehr Zuhörer verstanden, was er gesagt hatte. Die Simultanübersetzer waren nicht zu beneiden, der Text entsprach nicht gerade der vorher eingereichten Rede.

Er wandte sich ein letztes Mal an die Teilnehmer, hob flehentlich die Hände: »Lassen Sie uns diese Chance heute nicht vergeuden. Lassen Sie uns konkrete Projekte gemeinsam auf den Weg bringen. Gemeinsam, damit auch die nächsten Generationen noch auf einer Erde leben können, die mehr ist als eine Schreckensvision. Die bewohnbar geblieben ist. Ja, es wird Milliarden über Milliarden erfordern. Wir müssen den Verkehr umkrempeln. Die Industrie. Unsere Lebensgewohnheiten. Aber dies ist ohne Alternative. Denn sonst gibt es bald keine Gewohnheiten mehr, an denen man festhalten kann. Gewohnheiten sterben, wenn das Wetter unsere Welt täglich tiefer ins Chaos reißt.«

Sebastian wartete nicht auf Applaus oder fliegende Tomaten. Er machte kehrt und ging die Treppe hinunter, hinter die Bühne. Einzelne Klatschgeräusche, vor allem aber vielstimmiges Murmeln begleitete ihn. Und es erwartete ihn der Anblick seines Vorgesetzten, dessen Kopf hochrot angelaufen war.

»Born!« Er spie den Namen aus wie einen Fluch. »Was haben Sie da gerade verzapft? Das ist nicht die Rede, die Sie halten sollten.«

»Und dadurch kein Stück weniger wahr«. Sebastian ging einfach an seinem Chef vorbei, der hörbar nach Luft schnappte und zog die Tür zum Gang hinter sich zu. Ungläubige Blicke auf dem Flur. Also auch hier hatten sie seine Rede verfolgt.

Langsam ging er den Weg zum Foyer hinunter, dann flaute das Adrenalin ab. Und ihm wurde speiübel. Danach erinnerte er sich nur noch daran, wie sein Kopf dumpf auf dem schweren Teppich aufschlug.