Lesen in Antike und frühem Christentum

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Trotz dieser Beschränkungen bietet der im Rahmen dieser Studie gewählte methodische Ansatz ein großes Potential nicht nur zur Erforschung der antiken LesekulturLese-kultur, der mit dem Anspruch auf Vollständigkeit allerdings nur im Rahmen eines großen Forschungsprojektes realisiert werden könnte. Diese Studie versteht sich daher als Ansatz, der gleichsam ein neues Forschungsfeld für die altertumswissenschaftlichen Fächer sowie für die neutestamentliche und patristischeKirche-ngeschichte Forschung aufzeigt, umreißt und zu etablieren versucht.

Im Anschluss an die lexikologische und semantische Analyse wechselt der Fokus wieder zur materiellenMaterialität Dimension antiker LesekulturLese-kultur. Auf der Grundlage der Untersuchung der LeseterminiLese-terminus und der dadurch gewonnenen Erkenntnisse widmet sich die Studie dann unter Punkt 4 dem Zusammenhang zwischen dem griechischen SchriftsystemSchrift-system, das durch die scriptio continuaSchriftscriptio continua gekennzeichnet ist, und anderen „typographischen“ Merkmalen der griechischen Schriftkultur auf der einen Seite und dem Lesen auf der anderen Seite. Um das Bild bezüglich der antiken Lesekultur weiter zu vervollständigen, folgen darauf kurze Hinweise zum Thema PublikationPublikation/Veröffentlichung und Verfügbarkeit von Literatur und der Frage nach dem LesepublikumLese-publikum (5). Unter Punk 6 wird dann der Ertrag der Untersuchung des ersten Hauptteils festzuhalten und einen systematischen und zusammenfassenden Überblick über die Vielfalt antiker LesepraktikenLese-praxis und -kontexte zu geben sein.

Die im ersten Hauptteil (2–6) gewonnenen Ergebnisse werden sodann in zwei Schritten für die Untersuchung von Texten aus dem antiken JudentumJudentum (7) und dem NT (8) fruchtbar gemacht, in denen Lesen thematisiert, oder LesepraktikenLese-praxis (implizit oder explizit) reflektiert werden. Ein besonderer Fokus wird auf solche Stellen gelegt, an denen selbstreferenziellselbstreferenziell die Rezeption thematisiert wird. Leitend bei der Analyse ist die Frage, inwiefern die Texte Aufschluss geben können über Lesepraktiken im Hintergrund der Texte bzw. auf die intendierte Rezeptionsweise des jeweils vorliegenden Textes. In exegetischExegese-methodischer Hinsicht bedeutet dies, dass der Hauptschwerpunkt der Analyse, unter vereinzelter Berücksichtigung diachroner und v. a. traditionsgeschichtlicher Fragen und textkritischerTextkritik Perspektiven, im Hinblick auf die biblischen Texte synchron orientiert ist, wobei die konkreten linguistischen (und narratologischenNarratologie) Zugänge zu den Texten durch das vorher entwickelte Modell (sozial- und medien-)geschichtlich kontextualisiert werden.

Den Abschluss der Arbeit bildet ein Ausblick auf die LesekulturLese-kultur in der Alten KircheKircheAlte. Hier sind die Implikationen der Ergebnisse der Studie für die Frage nach dem Stellenwert des Lesens im frühen ChristentumChristentum und der Frage nach dem Lesen im Kontext der Abschreibepraxis neutestamentlicher Texte knapp zu skizzieren. Weiterführend werden die Hinweise auf VorleserVorleser bzw. für das „LektorenamtLektor“ als Evidenz für „gottesdienstlicheGottesdienst“ Lektüre kritisch zu diskutieren sein. Sodann ist ein Überblick über die Vielfalt früchristlicher LesepraktikenLese-praxis anhand exemplarisch ausgewählter und aussagekräftiger Quellen aus der Zeit der frühen Kirche zu geben. Zuletzt sind die Implikationen der Ergebnisse der Studie für die Frage nach der Entstehung des neutestamentlichen KanonsKanon anzudeuten.

1.5 Beschreibungssprache und weitere terminologische Klärungen

„The conceptual basis of reading as a diverse and omnipresent operation in [Greco-Roman,] Jewish and Christian

antiquity is in need of a more robust

theoretical underpinnings.“1

Um Lesen entsprechend des skizzierten Ansatzes in historischer Dimension beschreiben zu können, bedarf es einer differenzierten Beschreibungssprache, die nicht schon durch die Verwendung geprägter Termini bestimmte, diachron orientierte Hypothesen zur historischen Entwicklung des Lesens in den Befund hineinprojizieren. Hier ist angesichts der skizzierten Desiderate und der Engführung der Forschung auf die Fragen nach dem „lautenLautstärkelaut“ und „leisenLautstärkeleise“ Lesen, nach OralitätMündlichkeit und communal readingcommunal reading bzw. performativen LesepraktikenLese-praxis ein Neuansatz notwendig, der sich freilich an der Metasprache der LeseforschungLese-forschung zu orientieren hat. Die moderne Leseforschung und insbesondere die jüngere historische Leseforschung nutzt ein breites Spektrum von z. T. aus der Didaktik stammenden Beschreibungskategorien, die hier selektiert, systematisierend zusammengefasst und zusammengeführt, sowie um zahlreiche Aspekte ergänzt werden.2 Es ist zu betonen, dass die folgenden Kategorien zunächst aus Gründen der HeuristikHeuristik eingeführt werden, also um das Phänomen Lesen in den antiken Quellen multiperspektivisch beobachten zu können. Die Verwendung der Kategorien steht allerdings unter dem methodischen Vorbehalt, dass sie vor allem an der Beobachtung und Selbstbeobachtung von Leserinnen und Lesern in der Neuzeit gewonnen wurden und nicht einfach auf die antiken Verhältnisse projiziert werden dürfen. Die Anwendungsmöglichkeit der Kategorien auf das Phänomen Lesen in der Antike ist daher im Rahmen dieser Studie im Einzelnen am Quellenmaterial zu erweisen.

In dieser Studie werden zu analytischen Zwecken drei Dimensionen der Praxis des Lesens unterschieden; oder anders formuliert. Der von Zedelmaier verwendete Terminus der Modalität des Lesens (s. o.) wird dreistellig bestimmt: 1) die LeseweiseLese-weise, 2) die LesesituationLese-situation, 3) das Ziel bzw. der Zweck eines Leseaktes/einer LesepraxisLese-praxis.3

Abb. 1:

Dimensionen der Praxis des Lesens

Ad 1) Die LeseweiseLese-weise lässt sich anhand mehrerer Parameter differenziert beschreiben: Die Parameter StimmeinsatzStimmeinsatz, LautstärkeLautstärke, GeschwindigkeitLese-geschwindigkeit stehen zwar in einem engen Relationsgefüge, sollten aber aus Gründen der Präzision differenziert werden. Im Forschungsdiskurs werden die Aspekte häufig vermischt. A. K. Gavrilov führt, wie oben angedeutet, die Kategorien a) reading aloud, b) subvocalization („movement of the lips, tongue, and throat without the production of audible sounds“4) und c) silent reading in die Diskussion um das Lesen in der Antike ein.5 Die Kategorien a) und c) beschreiben dabei die Parameter Lautstärke/Hörbarkeit, die Kategorie c) gemäß Gavrilovs Definition den Einsatz des Stimmerzeugungsapparates. Demgegenüber sollte der Einsatz der StimmeStimme in a) vokalisierendesStimmeinsatzvokalisierend, b) subvokalisierendesStimmeinsatzsubvokalisierend und c) nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierends6 Lesen differenziert werden. Dabei wird die Definition des subvokalisierenden Lesens von der weit verbreiteten Praxis abgegrenzt, das innere Mitlesen damit zu bezeichnen,7 und dahingehend erweitert, dass auch Fälle eingeschlossen sind, bei denen durchaus hörbare, aber für den Außenstehenden nicht vollständigUmfangvollständig erkennbare Laute durch den Stimmapparat (Murmeln) erzeugt werden. Nicht-vokalisierend beschreibt – in Anknüpfung an Gavrilov – Lesen als rein visuellvisuell-mentalen Prozess ohne Einsatz der Stimmerzeugungsorgane. Damit ist allerdings noch keine Aussage über die mentale Repräsentation der inneren LesestimmeStimmeinnere (inner reading voice) gesagt.8 Ob es nämlich überhaupt ein Lesen ohne die Aktivierung der inneren Lesestimme bzw. ohne die Aktivierung des phonologischenPhonologie Verarbeitungssystems im Gehirn (auditory cortex) gibt, ist vor dem Hintergrund der neurowissenschaftlichen LeseforschungLese-forschung fraglich.9 Und die Studien zu den Grenzen des Schnell-Lesens, auf denen basierend vor allem die Ratgeberliteratur zur Technik des extremen speed-reading propagiert, man müsse seine innere Lesestimme abschalten, um schnellerLese-geschwindigkeit zu lesen, genügen jedoch grosso modo nicht den wissenschaftlichen Standards der empirischen Forschung.10 Die empirisch-psychologische Leseforschung ist zudem mit dem Problem konfrontiert, dass sich nicht alle Leserinnen und LeserLeser der inneren Lesestimme bewusst sind. Denn auch beim schnellen, überfliegendenAufmerksamkeitoberflächlich/flüchtigLese-geschwindigkeit Lesen kann die innere Lesestimme den Text vor dem inneren OhrOhrinneres realisieren, da sie a) nicht zwingend jedes Wort (vollständig) ausartikulieren muss und b) schneller sein kann, da sie nicht an die physiologische Begrenztheit des menschlichen Artikulationsapparates gebunden ist.11

Während in der anglophonen Forschung bezüglich der LautstärkeLautstärke und Hörarbeit vom silent reading als Gegensatz zum reading aloud gesprochen wird, findet sich im deutschsprachigen Forschungsdiskurs die unpräzise Gegenüberstellung von „lautem“ und „leisem“ Lesen.12 Das Adjektiv „leiseLautstärkeleise“ ist im Deutschen semantisch mit „immer noch hörbarLautstärkehörbar“ konnotiert und eignet sich daher nicht dazu, das nicht-vokalisierendeStimmeinsatznicht-vokalisierend Lesen zu beschreiben. In dieser Studie wird bezüglich der Lautstärke eine dreistellige Unterscheidung eingeführt, die impliziert, dass es sich wie bei der GeschwindigkeitLese-geschwindigkeit um Pole einer Skala handelt. Denn sowohl beim vokalisierendenStimmeinsatzvokalisierend als auch beim subvokalisierendenStimmeinsatzsubvokalisierend Lesen kann die Lautstärke variieren. Die Geschwindigkeit kann bei allen drei Formen des StimmeinsatzesStimmeinsatz variieren, wobei subvokalisierendes Lesen potentiell schneller sein kann, als ausartikulierendes, vokalisierendes Lesen. Nicht-vokalisierendes Lesen hat dann noch einmal einen potentiellen Geschwindigkeitsvorteil gegenüber dem subvokalisierenden Lesen.

 

In Abgrenzung von Teilen der historischen LeseforschungLese-forschung, die bezüglich der LeseweisenLese-weise intensive von extensiver Lektüre unterscheidet, und damit in diachroner Perspektive einen Veränderungsprozess im 18. Jh. beschreibt – vom wiederholten, andächtigen (langsamen und auf Wiedererkennung sowie Memoration zielenden) Lesen einer geringen Anzahl (v. a. religiöser) Texte hin zu einem Leseverhalten, das durch die singuläreFrequenzsingulär (kursorische und schnellere)Lese-geschwindigkeit Lektüre einer großen, abwechslungsreichen Vielfalt von LesestoffenLese-stoff gekennzeichnet ist13 – muss m. E. zwischen dem Aspekt Grad der Aufmerksamkeit und der LesefrequenzFrequenz präziser unterschieden werden.14 Der Grad der Aufmerksamkeit, mit denen sich Leserinnen und LeserLeser dem Text widmen, kann mit den raummetaphorischen Adjektiven vertieftAufmerksamkeitvertieft vs. oberflächlichAufmerksamkeitoberflächlich/flüchtig beschrieben werden. Sprachlich wird damit durchaus an die von außen erkennbare habituelle Form unterschiedlicher Grade von Aufmerksamkeit bei Leserinnen und Lesern angeschlossen. Dies gilt auch für den synonym verwendeten Terminus der intensiven LektüreAufmerksamkeitvertieft, womit in dieser Studie eine Form von besonders gründlichem, aufmerksamem Lesen bezeichnet wird. Diese Form von Lektüre zielt auf einen besonders hohen Grad an Textverstehen. In Bezug auf antike Leser ist der Grad an Aufmerksamkeit freilich nur an der in Texten kondensierten Beobachtung von Leserinnen und Lesern oder an bildlichen Darstellungen zu erheben. Als Lesefrequenz wird hier die Unterscheidung zwischen iterativerFrequenziterativ Lektüre, dem mehrfachen Lesen eines Textes oder Textabschnittes, und der singulären Lektüre eines Textes (bzw. mehrerer Texte hintereinander) bezeichnet. Zudem sind vom Grad der Aufmerksamkeit und von der Lesefrequenz die KontinuitätKontinuität und der Umfang des gelesenen Textes in Bezug auf den Gesamttext zu unterscheiden. Ein Text kann sequentiellKontinuitätsequentiell (linear entlang des Textes) oder diskontinuierlichKontinuitätdiskontinuierlich gelesen werden; zudem kann ein Text vollständigUmfangvollständig oder selektivUmfangselektiv rezipiert werden.15 Diese zusätzliche vierfache Unterscheidung ist notwendig, da eine diskontinuierliche Lektüre z. B. durchaus auf Vollständigkeit hin ausgerichtet sein kann, die Lektüre sich aber nicht an die Linearität des Textes hält. Diese Form der Lektüre ist z.B. in der Gegenwart typisch für wissenschaftliche Texte.

Ad 2) Mit der LesesituationLese-situation soll die Verortung eines Leseaktes in Zeit und RaumRaum beschrieben werden, wobei der konkrete Ort, die konkrete Tageszeit, die Länge des Leseaktes, die HaltungHaltung, die beim Lesen eingenommen wird, und das LesemediumLese-medium sehr unterschiedlich determiniert sein können. Eine Übersicht über die verschiedenen Möglichkeiten findet sich in Abb. 1. Die in der Forschung gängige Unterscheidung privatÖffentlichkeitnicht-öffentlich/privat vs. öffentlichÖffentlichkeitöffentlich wird hier zugunsten einer differenzierteren Terminologie erweitert. Unter privater Lektüre wird in der Forschung zumeist verstanden, dass eine Person ein Lesemedium direkt liest; das Adjektiv „öffentlich“ beschreibt dagegen Vorlesesituationen (communal/public readingpublic reading), in der ein VorleserVorleser einem Hörpublikum vorliest. Dieser Begriffsgebrauch ist insofern unpräzise, als so verstandene „private“ LeseakteLese-akt je nach Ort auch in der ÖffentlichkeitÖffentlichkeit stattfinden bzw. so verstandene Situationen gemeinschaftlicher Lektüre in einer Gruppe durchaus einen privaten Rahmen haben können. Daher ist zu unterscheiden zwischen öffentlicher und nicht-öffentlicher LesepraxisLese-praxis auf der einen Seite und dem Verhältnis des/der RezipientenRezipient zum Lesemedium auf der anderen Seite. Letzteres kann direkt oder indirekt sein. Individuell-direkte Lektüre beschreibt Lesesituationen eines einzelnen Rezipienten, der ein Lesemedium direkt mit seinen AugenAugen liest, dies kann im privaten oder öffentlichen Rahmen stattfinden. Individuell-indirekte Lektüre ist z.B. dann gegeben, wenn ein Vorleser jemandem individuell einen Text vorliest. Kollektiv-direkte Lektüre bezeichnet Situationen, in denen mehrere Rezipienten in einem Raum ein oder mehrere Lesemedien rezipieren. Kollektiv-indirekte Rezeption beschreibt die Vorlesesituation, die in der anglophonen Forschung als communal readingcommunal reading oder public reading bezeichnet wird. Während kollektiv-indirekteRezeptionkollektiv-indirekt Rezeption auf den Akt der Rezeption durch HörerHörer verweist, soll der Terminus Vortragslesen den komplementären Akt des VorlesensRezeptionkollektiv-indirekt bezeichnen. Darüber erscheinen zwei weitere Kategorien sinnvoll: Der Grad der Inszenierung kann zwischen alltäglich und inszeniert skaliert werden, um gängige, aber unscharfe Kategorien wie performative Leseakte oder liturgische Lesungen zu präzisieren. Unter der Kategorie Diskursivität wird angegeben, ob ein Text ohne Unterbrechung gelesen wird oder ob das Lesen durch GesprächspausenLese-pausen/-unterbrechung (bei kollektiver Lektüre) oder durch Denk-, ExzerptExzerpt-, oder Schreibpausen unterbrochen wird. Hilfreich erscheint es sodann zwischen zufälligen und intendierten LeseaktenLese-akt zu unterscheiden.16

Ad 3) Das Ziel bzw. der Zweck eines Leseaktes können sehr vielfältig sein. Unterschieden werden in dieser Studie: a) StudiumStudium und LernenLernen, das jeweils wieder mit anderen Zielen verbunden sein kann (Wissenserwerb, Aneignung für die eigene TextproduktionTextproduktion, Inspiration, rhetorische Bildung usw.), b) die Konsultation eines schriftlichen Textes, um gezielt nach einer Information zu suchen oder eine Frage zu beantworten, c) das vollständigeUmfangvollständig Erfassen eines schriftlich verfassten Textes, d) die sprachliche und/oder inhaltliche KorrekturKorrektur (s. auch Evaluation) eines Textes bzw. evaluatives Lesen, das dazu dient, einen Text zu bewerten; Lesen als e) rein ästhetischerästhetischer Genuss/Vergnügen Genuss oder f) zu UnterhaltungszweckenUnterhaltung oder g) zur MeditationMeditation bzw. als geistliche Übung. Zuletzt h) das Lesen zu Vortragszwecken, das wiederum mit unterschiedlichen Zielsetzungen, wie der Informationsweitergabe oder der Selbstdarstellung verbunden sein bzw. einen offiziellen Akt (z.B. vor GerichtGericht) darstellen kann. Als eine besondere Form des Vortragslesens muss außerdem die AutorenlesungAutor/Verfasser unterschieden werden, bei der ein Text entweder im Rahmen des Redaktionsprozesses oder nach Abschluss eines Werkes vorgelesen werden kann.

Zum Beobachtungsbereich Ziel/Zweck von LeseaktenLese-akt gehört zuletzt auch das Verhältnis von Lesen und VerstehenVerstehen, also der kognitivenkognitiv Verarbeitung und Weiterverarbeitung des Gelesenen. Das Leseverstehen spielt in der modernen Lese- und Lernforschung spätestens seit den PISA-Ergebnissen zu Beginn der 2000er und der darauffolgenden Kompetenzdebatte eine zentrale Rolle. Wegen fehlender empirischer Untersuchungs­möglichkeiten tragen jedoch die modernen, stark ausdifferenzierten Modelle zur Beschreibung von Lesekompetenzen17 nur wenig zur Untersuchung der antiken LesekulturLese-kultur bei. Zu berücksichtigen gilt jedoch einerseits die banale Einsicht, dass der Grad des Leseverstehens vom Schwierigkeitsniveau des gelesenen Textes abhängt. Andererseits muss man sich im Hinblick auf die Quellensprache des Verstehens bewusst machen, dass Leseverstehen skaliert werden muss. Wenn jemandem die BuchstabenBuch-stabe eines Schriftsystems nicht bekannt sind, kann er diese Schrift nicht lesen, also auch nicht verstehen. Aber auch, wenn jemand die Buchstaben lesen und die Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln einer Sprache beherrscht, aber etwa die Vokabeln und Grammatik nicht, kann er einen Text in dieser Sprache zwar lesen, aber nicht verstehen. Auf der anderen Seite des völligen Nicht-Verstehens liegt auf der Skala, mit welcher der Grad des Verstehens zumindest theoretisch beschrieben werden könnte, des Verstehen der eigentlichen, tieferen, allegorischen, übertragenen o. ä. Bedeutungsdimension eines Textes, das hier als interpretatorisches Verstehen bezeichnet werden soll.

Ferner können im Rahmen dieser Kategorie auch nicht-intendierte „Folgen“, die „Effekte“ von LeseerfahrungenLese-erfahrung bzw. die Reaktionen von Lesern auf Texte, beschrieben werden.18 Dies systematisch zu untersuchen, würde aber in dieser Studie zu weit führen.

Eine vierte Dimension der Praxis des Lesens ist darüber hinaus die Beschaffenheit des gelesenen Textes, worunter z.B. die Frage nach der Gattung, textlinguistische Fragen nach Syntax, Textkohärenz und -kohäsion, Intratextualität und Intertextualität usw., aber auch narratologischeNarratologie Fragen gehören. Diese Aspekte stehen jeweils in einem komplexen interrelationalen Verhältnis zu den anderen Kategorien. Auf Grund der daraus resultierenden Komplexität, können diese Fragen im Rahmen dieser Studie ebenfalls nicht systematisch untersucht werden und nur als Problemanzeige für zukünftige Studien zur antiken LesepraxisLese-praxis markiert werden.

Teil I Grundlagen

2 Überblick über die Vielfalt der Lesemedien

Schon die Vielfalt an schrifttragenden Medien bzw. LesemedienLese-medium in der antiken griechisch-römischen Welt warnt vor einer einseitigen, allgemeingültigen Konzeptualisierung antiker LesepraxisLese-praxis und damit auch monosituativen Verortung frühchristlicher Lesepraxis. Da schrifttragende Medien a) in der Antike sehr gut erforscht sind, es in dieser Studie b) primär um die Praxis des Lesens selbst gehen soll und es c) methodologische Gründe gibt, die direkte Evidenz schrifttragender Medien für Lesepraktiken nicht zu überschätzen (s. u.), mögen hier einige allgemeine Bemerkungen ausreichen.

Geschrieben wurde in der griechisch-römischen Antike1 auf ganz unterschiedlichen Materialien in verschiedenen Größen und Formaten. Dies zeigen nicht nur die materiellenMaterialität Überreste aus der Antike, sondern wird auch vielfältig in literarischen Quellen reflektiert. Eine Liste mit einer Auswahl quellensprachlicher Lexeme für antike LesemedienLese-medium, die im Rahmen meiner Quellenrecherche die wichtige heuristischeHeuristik Funktion hatten, die jeweiligen LeseterminiLese-terminus zu finden (s. o. 1.4), kann im Anhang eingesehen werden. Neben der Ubiquität von InschriftenInschriften insbesondere auf Stein in der griechisch-römischen Welt, haben die Menschen der Antike auf PapyrusPapyrus, PergamentPergament, Leder, Metall, Holz, Leinen, Flachs, Ton und in holzgefassten WachstäfelchenTafel/Täfelchen sowie in Stein/Putz (Graffiti) geschriebenSchriftGeschriebenes bzw. geritzt, eingeschlagen, eingebrannt, punziert.2 Auch Schrift auf der Haut konnte als Kommunikationsmittel verwendet werden.3

Als konkretes Beispiel sei auf die bezeugte weite Verbreitung von Holztafeln (πίναξπίναξ, δέλτοςδέλτος, δελτίονδελτίον, tabula, tabellatabella, pugillarispugillaris) als Schreib- und Lesemedium verwiesen, die schon im klassischen Griechenland verwendet wurden. Diese Tafeln bestanden aus dünnen, mittig leicht vertieftenAufmerksamkeitvertieft Holzbrettchen, in die Wachs hineingefüllt war. Daher wurden sie auch einfach nur als ceracera bezeichnet.4 Als zweilagige (δίπτυχον), dreilagige (τρίπτυχον/triplex) oder mehrlagige (πολύπτυχον),5 mit einem Faden zusammengeheftete Medien wurden diese „BücherBuch“ für verschiedenste ephemere Alltagstexte (auch für Briefe [s. u.], für ExzerpteExzerpt6 und im Rahmen von Kompositionsprozessen7) verwendet.

Durch die Verwendung von Wachs waren die TafelnTafel/Täfelchen wiederverwendbar, da die hineingeritzten Texte leicht durch Glättung des Wachses mit der Rückseite des Griffels8 wieder getilgt werden konnten. Dies ist in Bezug auf einen BriefBrief eindrücklich in einem Euripides-DramaDrama literarisch bezeugt.9 Durch die Vindolanda-TafelnVindolanda-Tafeln,10 von denen die meisten keine Wachstafeln waren, ist aber auch bezeugt, dass mit Tinte direkt auf das Holz geschriebenSchriftGeschriebenes wurde.11 Daneben gab es auch Tafeln aus geweißtem Holz (λεύκωμαλεύκωμα/albumalbum) – insb. für öffentlicheÖffentlichkeitöffentlich Bekanntmachungen –, und aus Elfenbein,12 die mit dunkler Tinte beschrieben wurden.13

 

Man sollte – zumindest solange es für den Einzelfall keine gegenteilige Evidenz gibt – zunächst davon ausgehen, dass die meisten dieser Schriftzeugnisse in irgendeiner Form einem kommunikativen Zweck gedient haben, also zum Lesen verfasst worden sind. Das bedeutet freilich nicht, dass jeder Text tatsächlich gelesen wurde, schon gar nicht ist bekannt, wie oft verschiedene Texte gelesen worden sind. Es ist eine zentrale Einsicht der historischen LeseforschungLese-forschung des 20. Jh., dass die reine Existenz von Büchern/SchriftmedienLese-medium keine zuverlässigen Rückschlüsse auf die tatsächliche LesepraxisLese-praxis zulässt.14

Das Hauptmedium für literarische Texte waren bis in die Spätantike hinein RollenRolle (scroll), vorrangig aus aneinandergeklebten Papyrusblättern, aber auch aus PergamentPergament. Nach dem Beschreiben (generell in Kolumnen) wurden diese um einen Stab (ὀμφαλός/umbilicusumbilicus) gewickelt. Da der TitelTitel innerhalb des BuchesBuch (meist als subscriptiosubscriptio) von außen nicht erkennbar ist, wurde dieser auf einem kleinen Schildchen (σίλλυβος) angebracht15 oder z. T. auch außen auf die Rolle geschriebenSchriftGeschriebenes. Gelagert wurden Bücher entweder liegendHaltungliegen in Regalen/Schränken (armariumBuch-aufbewahrungarmarium)16 in dafür vorgesehenen Behältnissen (κιβωτόςκιβωτός, κιβώτιονκιβώτιον, τεῦχοςτεῦχος,17scriniumscrinium,18 cistacista,19 capsacapsa), in denen sie auch transportiert werden konnten, oder in zusammengebundenen Bündeln.20 Hinlänglich bekannt ist die Präferenz für den KodexKodex im frühen ChristentumChristentum,21 die aus dem statistischen Befund der gefundenen Hss.Handschrift/Manuskript abgeleitet wird.22 Bei den statistischen Daten ist allerdings eine gewisse methodologische Vorsicht angezeigt, da der Befund nur die Situation in der ägyptischen Provinz widerspiegelt. Freilich ist eine BibliothekBibliothek mit Rollen in Herculaneum (VillaVilla dei Papiri dei Papiri) bekannt, die allerdings wegen der dort gefundenen Texte als (vermutlich nicht repräsentative) Spezialbibliothek/StudienbibliothekBibliothek zu interpretieren ist.23 Daneben belegt Martial aber Pergamentkodizes, die jeweils große Mengen Text umfassten:24 Homers gesamte Ilias und Odyssee zusammen in pugillaribuspugillaris membraneis, in einem[!] Kodex,25 das Werk Vergils,26 der gesamte LiviusLivius, Titus27 und Ovids Metamorphosen jeweils in einem Kodex,28 daneben Texte von CiceroCicero, Marcus Tullius in KodexformKodex als Reisebegleiter.29 Zudem gibt es, wenn auch wenige, Hinweise auf weitere Pergamentkodizes ab dem 2. Jh.30 Homer (und Platon) in einem Kodex für die ReiseReise ist auch in einem BriefBrief Iulians an seinen Onkel belegt (vgl. Iul.Iulianus, Flavius Claudius (Kaiser) ep. 29).

Es existieren keine sicheren Forschungsdaten, um den Anteil der KodizesKodex für literarische Texte im Vergleich zu RollenRolle (scroll) z.B. im kaiserzeitlichen Rom (aber auch in anderen Städten des Römischen Reiches) zu bestimmen. Die Frage nach dem Grund für die Kodexpräferenz der frühen Christen wird kontrovers diskutiert und eine eindeutige Antwort wohl schwer zu finden sein. Vermutlich spielten verschiedene Faktoren eine Rolle.31 Es ist nicht notwendig, die Diskussion hier vollständigUmfangvollständig zu rekapitulieren, da es zahlreiche, gut aufgearbeitete Überblicke über den Forschungsstand gibt.32 Aufschlussreich für das hier verhandelte Thema der LesepraxisLese-praxis sind allerdings diejenigen Antworten, die auf die Praktikabilität des Kodex als LesemediumLese-medium rekurrieren.

Im Anschluss an die Form antiker Notiz- und Gebrauchsbücher in TafelformTafel/Täfelchen (s. o.), die vor allem von Berufsgruppen wie MedizinernMedizin, Architekten, LehrernLehrer usw. verwendet wurden, und an Martial, der auf einige praktische Vorzüge der KodexformKodex in Bezug auf seine Epigrammata explizit hinweist,33 wird in der Forschung angenommen, dass der KodexKodex im Vergleich zur RolleRolle (scroll) einfacher zu handhaben sei, nämlich mit einer Hand, wegen des geringeren Platzbedarfs besser zum Transport und für die ReiseReise geeignet ist,34 und mit geringeren Kosten verbunden sei, da beide Seiten beschrieben werden.35 Zudem hat die Kodexform zumindest das Potential, eine Form der Lektüre zu beschleunigen, die diskontinuierlicheKontinuitätdiskontinuierlich und selektiveUmfangselektiv Zugriffe auf Texte im Vergleich zur Rolle erleichtert – vor allem solche, bei denen häufiger größere Textmengen in Leserichtung oder auch gegen die Leserichtung übersprungen werden.36

Umgekehrt bedeuten diese positiven Seiten des KodexKodex aber nicht automatisch ein gravierendes Defizit der BuchrolleRolle (scroll). So wird zuweilen angenommen, dass Buchrollen unpraktisch waren und nur eine sequentielleKontinuitätsequentiell, kontinuierliche Lektüre zugelassen hätten.37 W. A. Johnson versteht antike Buchrollen daher als performance scripts und negiert explizit, dass antike BücherBuch nur auszugsweise konsultiert bzw. etwas darin nachgeschlagen wurde.38 Die Vorannahme der durch die Buchrolle determinierten sequentiellen Lektüre wird dann z.B. von N. Holzberg zum leitenden Kriterium der Interpretation erhoben.39 Auch in der neutestamentlichen Forschungsliteratur findet sich die These der Determination einer einzig möglichen Rezeptionsweise durch die Rollenform, und zwar z.B. bei H.-G. Gradl in Bezug auf die ApcApc: Die Buchrolle erzwinge eine bestimmte Nutzung, Johannes setze voraus, wenn er sein Werk als idealtypische Buchrolle konzeptualisiere, dass der Inhalt „nur als fließende Abfolge und organisches Nacheinander“ und zwar in Form oraler Performanz zu rezipieren wäre. Auch Gradl schließt ein Um- oder Vorausblättern und damit konsultierende und nachschlagende Zugriffe kategorisch aus.40 Sowohl Johnson als auch Gradl verifizieren die These eines Zusammenhangs zwischen der Buchrolle und sequentieller, kontinuierlicher Lektüre in performativen Kontexten nicht anhand von literarischen Quellen, sondern leiten sie lediglich aus der materiellenMaterialität und „typographischen“ Beschaffenheit der überlieferten Papyrusfragmente bzw. einzelnen Abbildungen von Schriftrollen ab. Zudem übersehen sie Positionen in der Forschung, die ganz im Gegenteil die einfache Handhabung und die Vorzüge des Rollenformats hervorheben.41 Etwas anderes ist die These von Skeat, der darauf hinweist, dass beim Lesen der Rolle das kein Umblättern der Seiten den Leseprozess unterbricht.42 Freilich bleibt eine Unterbrechung durch den Kolumnenwechsel bestehen, sodass die These eines panoramic aspect beim Lesen einer Rolle als Unterschied zum Lesen eines Kodex nicht überbewertet werden sollte.

Die folgende Analyse der Leseterminologie wird zeigen, dass die BuchrolleRolle (scroll) vielfältige LesepraktikenLese-praxis zuließ. Es ist unbedingt zu vermeiden, unsere Gewohnheiten im Umgang mit LesemedienLese-medium bzw. unsere Schwierigkeiten mit den Überresten antiker Schriftkultur in den Befund zurückzuprojizieren.43 In methodischer Hinsicht ist daraus zu schlussfolgern, dass allein auf der Grundlage der MaterialitätMaterialität antiker Schriftmedien keine sicheren Schlussfolgerungen im Hinblick auf die (intendierten und historisch tatsächlich realisierten) Rezeptionsweisen möglich sind.44 Vielmehr unterstehen alle am Material gewonnenen Hypothesen dem Vetorecht der literarischen und dokumentarischen Textquellen.