Kālī Kaula

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Ist Tantra Yoga? Hier sollten wir noch einmal auf den Begriff Yoga eingehen. Wir haben das Thema ja schon mehrmals angesprochen. Die Terminologie vom Yoga geht auf die vedische Zeit zurück, als die Wurzel *Yuj- ‘Anschirren’, ‘Jochen’, ‘Zusammenbinden’ und ‘auf Kriegsfahrten oder Eroberungszüge gehen’ bedeutete. Damals war das einzige spirituelle Element beim Yoga die Apotheose besonders glorreicher Krieger, die entlang der Sonnenstrahlen gen Himmel fuhren, die Sonne durchbohrten und dann zu einem besseren Dasein in einem der dahinter liegenden Himmel oder Paradiese kamen. In der upaniṣadischen Zeit wurde der Begriff mehr und mehr auf die Apotheose der Asketen übertragen, die nach dem Tod ins Herz sanken, ins Innere Selbst eingingen, dem Strahl der Sonne entlang der Wirbelsäule folgten, die Schädeldecke durchbohrten und auf diese Art ins Göttliche eindrangen. Ab der epischen Periode um die Zeitenwende kamen dann immer mehr Berichte von Yogīs hinzu, die die magische Technik des ‚Zusammenjochens‘, also der Vereinigung, nutzten, um sich mit Göttern, Menschen oder Tieren zu verbinden, in deren Körper einzudringen, um diese zu kontrollieren und aus ihnen magische Kraft zu gewinnen. Hierbei ging es um Zaubereien, wie wenn ein vergreister Yogī in eine junge, gesunde Leiche eindringt, diese neu belebt, um damit seine eigene Existenz zu verlängern, worauf er seinen alten verbrauchten Körper gut gelaunt verbrennen kann.

Wir sprachen auch schon von der Kunst, die Körper von Königen zum Zweck der Vergnügungssucht zu übernehmen, sowie vom Eindringen in einen oder – besser – gleich viele Schüler, die dabei initiiert werden und mit dem Yogī verbunden weiterleben. Erst um das dritte bis vierte Jahrhundert erscheinen die ersten Texte zum spirituellen, introvertierten Yoga, bei dem es in erster Linie um Meditation, innere Stille, Gotteserfahrung und Befreiung geht. Doch dieser Yoga war und blieb eine kleine Randerscheinung, denn die meisten Yogīs waren ausschließlich an Zauberei und weltlicher Macht interessiert und hatten keine Lust, ihr Leben lang auf ihre Nasenspitze zu starren. Und auch die ‚spirituelleren‘ Yogīs waren von Magie ausgesprochen begeistert. Es ist also kein Zufall, dass die frühen Buddhisten das Wort Yoga nicht sonderlich leiden konnten und die Jainas bis zum achten Jahrhundert Yoga als ein Hindernis zur spirituellen Entwicklung ansahen. Was heute so gern als Yoga betrachtet wird, ist eine Randerscheinung. Erst um das Jahr 1000 begann sich das abzusetzen, was gelegentlich als der Haṭhayoga bezeichnet wurde. Darunter wurde ein anstrengender, schmerzhafter Befreiungsweg verstanden (Haṭha bedeutet Zwang, Gewalt und Kraft), bei dem ein weites Spektrum an Reinigungen, Spülungen, Stellungen, Dehnungen, Bindungen, komplizierte Atemtechniken usw. eingesetzt wurde. Dazu kamen Meditation, Visualisierung, Gedankenzucht, Entsagung, Keuschheit, Vegetarismus und in vielen Fällen der Konsum von Wundermedizin auf Quecksilberbasis.

Haṭhayoga war allerdings nur ein Weg unter vielen und wurde nicht als typisch für Yoga angesehen. Vielmehr finden wir die Begriffe Yogī und Yogīnī vor allem in tantrischen Texten, wo sie als Synonyme für tantrische Praktiker, gleichwertig mit Begriffen wie Siddha (Vollendeter) oder Nātha (Herr), verwendet wurden. Diese Yogīs übten nur einen winzigen Teil von dem, was heute als der Haṭhayoga bezeichnet wird; nämlich eine kleine Auswahl an Sitzhaltungen und Atemmethoden, dafür aber ein gewaltiges Spektrum an unterschiedlichsten Ritualen, Meditationen, Visualisierungen, Opferungen, Wahrnehmungserfahrungen, Mantras, Mudrās, Yantras und Zaubereien. Gleichzeitig existierten natürlich nach wie vor die gefährlichen Yogīs, also skrupellose Hexer, und die eher peinlichen Yogīs am Straßenrand, die sich als Bettler und Billigzauberer durchs Leben schwindelten.

Dann kam es nach dem 14. Jahrhundert zu einem Rückgang der tantrischen Systeme, die mehr und mehr in Vergessenheit gedrängt wurden. Bis auf wenige Gruppierungen, die sich der Hindu-Orthodoxie anpassten, verschwanden die meisten tantrischen Schulen. Yogīs gab es nach wie vor, aber die meisten waren alles andere als beliebt. Die britische Regierung klassifizierte die Nātha Yogīs als unerwünschte Vagabunden und war an diesem Punkt derselben Meinung wie der Großteil der indischen Bevölkerung. Diese Situation änderte sich erst im frühen 20. Jahrhundert. Unter dem Einfluss von Madame Blavatskys Wundergeschichten begannen sich indische Religionsreformatoren mit dem Thema Yoga zu beschäftigen. Besonders wichtig war hier der berühmte Vedānta-Anhänger Vivekananda (1862-1902), welcher zwar keinerlei praktische Yoga-Erfahrung hatte, dafür aber gleich eine Reihe Bücher über das Thema verfasste, die sich vor allem mit der spirituellen und theoretischen Seite befassten, und einen enormen Einfluss auf das moderne Indien hatte.

Vivekananda hatte kein Interesse an Methoden, die seiner Meinung nach amoralisch oder abergläubisch waren. Er träumte von einem überreligiösen und völlig spirituellen Yoga, welcher die neue Weisheitslehre Indiens werden würde. Seine Vision vom Yoga bezog sich vor allem auf die introvertierte spirituelle Schule, also auf Texte, die um das dritte oder vierte Jahrhundert entstanden waren, wie Patañjalis Lehrbuch (wobei dessen Interesse am Thema Magie ignoriert wurde), die Bhagavad Gītā, die Yoga-Texte des MBH sowie die Einschübe, die in manche Upaniṣaden hineingeschummelt worden waren. Dazu kam eine Ausgabe der Schriften des heiligen Gheraṇḍa, welche mit Bildern zahlreicher Āsanas illustriert war. Vivekanandas ‚uralter‘ Yoga war eine saubere Auswahl von politisch korrekten Praktiken, die mit Tantra, Sex, Magie, Ritual, Alchemie, Drogen, Raserei, Besessenheit usw. nichts mehr zu tun hatten. Angeregt durch Vivekananda begannen verschiedene Praktiker, den ‚echte‘ Yoga zu suchen, neu zu entdecken oder zu erfinden. Das war nicht unbedingt einfach, denn viele der körperlichen Praktiken waren in Indien längst ausgestorben. Vivekananda träumte von seinem modernen, rationalen und patriotischen Yoga, musste aber feststellen, dass in Indien keine Lehrer dafür aufzutreiben waren. Er erfand auch den angeblichen Unterschied zwischen Haṭhayoga und Rājayoga (dem sogenannten königlichen Yoga) und eine ganze Reihe neuer Yogas, wie Mantrayoga, Bhaktiyoga, Karmanyoga, Jñānayoga, Japayoga und Kuṇḍalinīyoga, die vor seiner Zeit nicht existiert hatten, sondern einfach Teilbereiche von Tantra, Vedānta und der Volksreligion gewesen waren.

Unter den ersten neuzeitlichen Yogameistern waren Kuvalayananda (1883-1966), Śivananda (1887-1935) und Yogananda (gestorben 1952) am einflussreichsten. Dazu kam ein erstaunlicher Charakter: Krishnamacarya war der Erfinder einer ‚kriegerischen Gymnastik‘, die durch die Verbindung von Vivekanandas Vision, Madame Blavatskys theosophischer Hokus-Pokus-Ideologie, Patañjalis und Gheraṇḍas Büchern, dem traditionellen indischen Ringkampftraining und der Gymnastik der britischen Armee entstanden war. Er war sich durchaus bewusst, dass ihm viele der Originalmethoden völlig verborgen waren, und begab sich nach Tibet, wo er in einigen unbekannten Methoden unterwiesen wurde, die er allerdings vor seinen Schülern geheim hielt. Seine drei berühmtesten Schüler waren seine Verwandten Iyengar, Pattabhi Jois und Desikacar.

Eines schönen Tages kam Yogananda, der in den USA unterrichtete, zu Besuch. Iyengar war nahezu entsetzt, wie unterschiedlich Yogananda und Krishnamacarya Yoga verstanden. Kurz darauf demonstrierte sein Meister einigen französischen Ärzten, wie er seinen Puls regulieren und den Atem anhalten konnte. Iyengar erkannte, dass er und seine Mitschüler mit mittelmäßiger Gymnastik hingehalten wurden, und dass der Meister seine in Tibet erlernten Geheimnisse nicht weitergab. Wie zu erwarten war, kam es zu einem Bruch. Iyengar und seine Mitschüler machten sich selbstständig und haben mittlerweile tausende von Schülern ausgebildet, von denen die meisten keine Inder sind. Der heutige Yoga, immerhin eine internationale Milliardenindustrie, geht fast ausschließlich auf ihre Bemühungen zurück. In Indien ist er praktisch nur den gebildeten, wohlhabenden Städtern bekannt.

Auf dem Land ist der Yogī nach wie vor ein Schwindler oder eine Gruselgestalt. Dafür hatten die Nāthayogīs ein Comeback. Sie unterhalten mittlerweile vor allem im östlichen Rajasthan Āśrams, in denen völlig angepasste vedische Rituale und gemeinsamer Gesang praktiziert werden. Ihr Einkommen stammt größtenteils von den Spenden von Geschäftsleuten und Großunternehmern. Mit den alten, authentischen Nāthas hat ihre Praxis nichts zu tun. (White, 2011 : 240-248). Wenn wir also nach einem Unterschied zwischen Yoga und Tantra suchen, stehen uns vor allem genau diese Begriffe im Wege, denn die sind alles andere als eindeutig. Was allerdings ganz klar betont wird, ist, dass die meisten Tantras anstrengende, schmerzhafte und asketische Praktiken ablehnen. Der tantrische Yogī ist im Normalfall weder an Darmspülungen noch am ‚Sonnengebet‘ interessiert, und der einzige Āsana, der für sie oder ihn relevant ist, ist eine Meditationshaltung, in der es sich eben gut und bequem meditieren lässt. Etliche einflussreiche Tantriker waren auch fähige Yogīs, wie der berühmte nepalesische Adept Gorakṣanāth, der Methoden von Kaula und Nātha mit seiner Lieblingsdisziplin, dem Haṭhayoga, kombinierte. Manche Tantriker bezeichneten sich als Yogīs, aber das traf ganz sicher nicht auf alle zu. Viele yogīsche und tantrische Systeme betonten die Bedeutung des Körpers für die Freude und Befreiung, aber die Arten, dieses Ziel zu erreichen, sind sehr unterschiedlich.

Erlaube mir bitte ein paar schrecklich vereinfachte Verallgemeinerungen: Manches vom Haṭhayoga entwickelte sich aus Tapas (Erhitzung, Kasteiung), und Tapas ist normalerweise eine unbequeme Beschäftigung. Es gab etliche Yogīs, die auf Entbehrungen aus waren, die fasteten, Selbstkasteiungen durchführten und ihre Körper voller Begeisterung misshandelten. Sorry, Leute – die Idee, dass Yoga gut für Eure Gesundheit ist, ist eine moderne Erfindung! Manche Yogīs waren so versessen auf die Vereinigung mit dem Göttlichen, auf magische Kraft, Unsterblichkeit oder die absolute Transzendenz, dass sie sich einfach nicht darum kümmerten, was mit dem Körper passierte. Viele prominente Yogīs, Weise und Eremiten waren gefeierte Entsagende. In diesen Schulen konnte ein spiritueller Yogī (einer, der die Vereinigung mit dem Absoluten anstrebt), kein Bhogī sein (einer, der weltliche Freuden genießt) und umgekehrt. Die Kula- und Kaula-Linien, die immer gut für eine Opposition waren, wandten sich gegen diese Einstellung und erklärten, dass ein Kaula sowohl Yogī wie Bhogī sein sollte (KT, 2, 23-24). Dieser revolutionäre Schritt verlangte mehr Disziplin, weil er darauf abzielt, die Befreiung mit allen Mitteln zu erreichen, einschließlich der Freuden und Vergnügungen, die von der orthodoxen Religion als gefährlich, sündig und verblendend angesehen wurden. Manche Tantras wollen die Befreiung zum Genuss machen. Einige Tantras erklären ein grundlegendes Maß an Körpertraining für essentiell, ohne dabei ins Detail zu gehen. Die meisten erwähnen das Thema nicht einmal. Kompetente Haṭhayogīs können täglich Stunden mit der Kultivierung und Reinigung des Körpers verbringen; in der tantrischen Literatur liegt die Betonung oft auf Themen wie Ritual, Visualisierung, Meditation, Mantra, innerer Alchemie und vor allem auf der Erkenntnis der Einheit des Göttlichen mit dem Weltlichen. Das Krama-System und eine Reihe buddhistischer Tantra-Systeme reduzierten Patañjalis achtteiligen Yoga, indem sie drei Disziplinen (Yama, Niyama und Āsana) wegließen. Krama fügte eine neue hinzu: die spirituelle Unterscheidung (Tarka), also die Disziplin, klar, logisch und rational zwischen dem spirituell relevanten und irrelevanten zu unterscheiden. Manche Tantras machen sich über Elemente des Haṭhayoga lustig, wie Vegetarismus, Nacktheit, Isolation, das Rezitieren heiliger Worte und heilige Bäder (KT 1, 79-86). Andere behaupten, der Yogī sei so stolz auf seine körperlichen Fähigkeiten, dass dies zu Eitelkeit und Bindung an den Körper führe. Das LT 44, 54-56 lobt die Praxis des Mantra Sādhana. Hier erklärt Lakṣmī, dass das Rezitieren von Mantras keine Mühen erfordert, kein ermüdendes Sitzen in fixierten Stellungen und keine qualvollen Atemübungen. Du kannst einfach eine bequeme Stellung einnehmen, den Geist beruhigen, Dich dem Mantra hingeben und das Ziel erreichen. Doch auch solche Ansichten tauchen nur am Rande auf. Den meisten tantrischen Autoren war die Frage, was nun wohl Yoga beinhaltet, ausgesprochen egal. Sie nutzten einfach, was ihnen gut bekam.

 

Ist Tantra rebellisch? Viele der Aktivitäten, die in den letzten Jahrhunderten ‘tantrisch’ genannt wurden, missachten gesellschaftliche Normen. Die Anbetung von und mit Frauen, Drogen, Alkohol, Fleisch, Übertretung gesellschaftlicher Konventionen, klassenlose Zusammenkünfte, Brüche vedischer Reinheitsvorschriften, die Kultivierung magischer Kräfte, nekrophile Symbolik, die Verehrung ‘unreiner Substanzen’ und eine gesunde Wertschätzung des Körpers sind genau das, was man braucht, um eine ganze Menge orthodoxer Spießer zu verärgern. ‚Tantra‘ hatte schon lange einen schlechten Ruf. Soviel zu der einen Hälfte des Bildes. Andererseits sind viele Bestandteile, die als typisch für das Tantra betrachtet werden, überhaupt nicht so typisch, etwa die wohlbekannten Riten der 5 Ms z. B., in denen es um ein Fest geht, in dem Fleisch und Fisch gegessen (von vedischen Traditionalisten und Jainas verabscheut), Wein getrunken (für Hindus, Jainas und Moslems verboten) und rituelle Liebe gemacht wird (seit der spätvedischen Epoche verboten). Dieses vertraute Format ist jedoch nur eine Version. Der heroische Tantriker (Vīra) soll solche Riten praktizieren, während der tierhafte Verehrer (Paśu) harmlosen Ersatz verwenden muss, und der göttliche Praktiker (Divya) transzendiert die körperliche Betätigung durch das Feiern im Geist, in der Visualisierung oder in symbolischer Form. Es wird also nur bei einer der drei Klassen von Tantrikern davon ausgegangen, dass sie das Ritual der 5 Ms in dieser Form praktizieren, und auch nur mit Erlaubnis des Gurus nach mehreren Jahren des strikten Trainings und spirituellen Entwicklung. Der Ritus der 5 Ms ist nicht so populär, wie manche es gern hätten. Während er in schlecht informierten Kreisen als die Quintessenz und Gesamtheit des ganzen Tantra dargestellt wird, praktizieren ihn viele Richtungen des hinduistischen Tantra überhaupt nicht. Einige praktizieren ihn in symbolischer oder imaginärer Form. Und wenn wir uns das jainistische oder islamische Tantra anschauen, noch nicht einmal das. Mehrere tantrische Traditionen lehnen den Ritus der 5 Ms weitgehend ab. Kurz gesagt, was den meisten Westlern als Mittelpunkt des Tantras erscheint, ist eine Ausnahme, die unter strengen Bedingungen von einer Minderheit praktiziert wird.

Für diese allerdings bedeutet der Ritus den Bruch vieler Tabus. Sollten wir ihn also ein Ritual der Rebellion nennen? Wieder ist dies nicht unbedingt der Fall. Der Ritus, wie wir ihn heute kennen, war nicht immer eine dermaßen erschütternde Aktivität. Fleisch und Alkohol waren nicht immer verboten, und auch der rituelle Geschlechtsverkehr kann auf einige Riten der frühen vedischen Epoche zurückgeführt werden. In der vedischen Periode wurden bei einigen Riten sogar Rinder verzehrt. Und was Rebellion angeht, mag es eine Überraschung sein, dass tantrische Bewegungen nicht immer unpopulär waren. Zugegeben, die allgemeine Ansicht, dass ‘Tantriker’ scheue Leute waren, die sich bei ihren Aktivitäten verstecken mussten, um einer Verfolgung zu entgehen, hat ihre Grundlage in historischen Tatsachen. Viele frühe Tantras forderten Heimlichkeit und rieten ihren Anhängern, sich als Vaiṣṇavas, Narren, Schwachsinnige oder Verrückte auszugeben. Ähnliches besagt auch die Wendung In der Öffentlichkeit ein Vaiṣṇava, im Bekanntenkreis Śaiva, im Privatleben Śākta. Wer neben der tantrischen Betätigung eine Familie unterhalten und ein normales Leben führen wollte, musste meist extrem vorsichtig sein. Dennoch galt dies nicht für alle tantrischen Bewegungen und schon gar nicht für alle Zeiten. Verstreut durch die ganze indische Geschichte sind Königreiche zu finden, die tantrische Rituale und Philosophien in ihre Staatsreligionen aufnahmen. Zwischen dem achten und dem elften Jahrhundert nahm eine Reihe von Königen die Kaula-Lehre an, hauptsächlich, weil diese Macht, Erfolg (im Krieg) und sogar körperliche Unsterblichkeit versprach. Die Herrscher jener Zeit wurden zum Zentrum des Kultes der Yogīnīs und bauten zahlreiche Tempel für sie, üblicherweise rund und ohne Dach, so dass die Yogīnīs vom Himmel herab kommen konnten. Unter ihren Ministern waren Gurus, die Generation von Königen trainierten, um den zentralen Platz im Maṇḍala (Kreis, Herrschaftsbereich) der Welt einzunehmen. Unter solchen Königen wurden viele ‘geheime’ Rituale mehr oder weniger öffentlich durchgeführt, einschließlich solcher Riten, bei denen Sexualflüssigkeiten erzeugt und eingenommen wurden.

In diesen Reichen und Perioden war das Kaula-Ritual bei der gebildeten Aristokratie der Mainstream, während die vedischen Traditionalisten die Gunst der Fürsten verloren hatten (White 2003 : 12). Von diesen Teilen der indischen Geschichte ist selten die Rede. Man muss sich ziemlich Mühe geben, diese Könige aufzuspüren. Es zeigt sich, dass die indischen Gelehrten der letzten Jahrhunderte sich bemerkenswert viel Arbeit machten, um tantrische Elemente aus ihrer Geschichte zu eliminieren und diese durch eine Vaiṣṇava-freundliche Geschichtsschreibung zu ersetzen. Trotz aller Zensur: Was wir heute lose ‘Tantra’ nennen, war nicht immer ein Randphänomen. Einige Jahrhunderte lang war es die Staatsreligion in einigen Teilen Indiens. Nur wenige dieser Traditionen haben sich bis zum heutigen Tag fortgesetzt. Viele ‘tantrische’ Monarchien wurden von brahmanisch orientierten Königen, den Mogulen, von Eroberern aus Afghanistan, Holland und England zerstört. Die Herrscher von Bhutan, Nepal und Tibet jedoch waren und sind tantrische Monarchen und nehmen den zentralen Platz im sozial-religiösen Geist/Welt-Maṇḍala ein. Ihre Priesterschaft hat ebensoviel Recht auf den Begriff ‘Tantra’ wie die obskuren Ekstatiker, die unaussprechliche Riten im Wald und auf Verbrennungsstätten zelebrieren. Tantra war nicht immer eine Bewegung spiritueller Nonkonformisten. In manchen Fällen wurden Könige mit tantrischen Riten eingesetzt und Regierungen nach tantrischen Prinzipien gebildet. Architektur basierte auf tantrischer Kosmologie und folgte tantrischen Konventionen. Vieles davon war die Art von Tantra, bei dem sich die Leute nicht zu nächtlichen Orgien versammeln, Klassenunterschiede und Reinheitsvorschriften ignorieren und die Freiheit erlangen, zu tun, was sie wollen. Wann immer eine Bewegung zur Staatsreligion wird, kann man sicher sein, dass ihre wilderen Elemente reduziert oder verboten werden, oder dem Adel alleine vorbehalten sind. Es mag nicht das Tantra sein, das Dich anspricht, aber es war so tantrisch wie alles, womit sich obskure Praktiker in heimlichen Ritualen vergnügten.

Versuch einer Zusammenfassung.

Was haben nun also die vielen tantrischen Kulte, Sekten, Linien und Bewegungen gemeinsam? Dies ist die schwierigste Frage von allen und kann nur mit extremer Vorsicht beantwortet werden. Und das kann gerne jemand anderes machen. Wenn wir den Bereich auf das hinduistische Tantra begrenzen, werden die Dinge einfacher. In meiner Unwissenheit würde ich die folgenden Behauptungen aufstellen:

 Tantra tendiert dazu, Wert auf praktische Mittel zur Erlangung direkter Erfahrung zu legen. Die Mittel variieren enorm. Die Praktizierenden nutzen das, was für sie funktioniert: in diesem Sinne basiert Tantra auf aufgeklärter Subjektivität.

 Tantra projiziert eine oder mehrere ‚Karten‘ auf die direkte Erfahrung, so z. B. Yantra, Maṇḍala, Mantra, Mudrā, Numerologie, Zwielicht-Sprache, Symbolik von Phonemen, Cakrasysteme und heilige Anatomie. All diese vereinigen das Äußere und das Innere, das Menschliche und das Göttliche, die Seher und das Gesehene. Dies kann ein Akt der Projektion sein, es kann aber auch ein Akt des Erinnerns und Erkennens sein, eine Rückkehr zu einer verlorenen Einheit und Ganzheit.

 Tantra ist oft (nicht immer) höchst kritisch gegenüber orthodoxem Glauben und Religion, etabliertem Dogma, gesellschaftlichen Normen und der gängigen Moral. Die Lehre wird oft durch Initiation, Ritual und regelmäßige Lektionen durch einen oder mehrere Gurus (menschliche und/oder göttliche) so vermittelt, wie es der individuellen Disposition der Schüler/innen angemessen ist. Die Hauptsache ist Praxis, nicht Reden. Das System zielt auf Transzendenz ab: fähige Schüler übertreffen ihre Gurus, die Tradition und möglicherweise die Götter, wenn alles gut geht.

 Tantra ist üblicherweise ein offenbartes System, das durch verschiedene Gottheiten oder halbgöttliche Lehrer vermittelt wird.

 Tantra ist theoretisch offen für alle, ungeachtet des Geschlechts, des Alters, der Nationalität oder Klasse – vorausgesetzt, der Guru ist willens, und die Anwärter haben genügend erwünschte Charakterzüge, um zu beginnen. In diesem Sinne wird Tantra von einer Elite ausgeübt und entwickelt. Die Grundidee ist Integration, sei es körperlich, symbolisch, rituell oder in der Imagination.

 Tantra bezieht den Körper in die spirituelle Aktivität ein statt ihn abzulehnen. Der Körper, die Wahrnehmung und das Multiversum sind eng miteinander verbunden und bilden eine Einheit aus Erfahrung-Ganzheit-Totalität (Piṇḍa). Manche, wenn auch nicht alle Tantras, die ich kenne, haben eine positive, wohlwollende Einstellung gegenüber dem Körper.

 Tantra versucht üblicherweise, Vergnügen und Befreiung zu vereinen. Die Stimmung ist allgemein optimistisch, und der Idealzustand ist die Freiheit, den wahren Willen zu tun.

 Die meisten Tantras legen Wert auf die Interaktion zwischen Bewusstsein und Energie/Form auf irgendeine Art, oft charakterisiert als Śiva und Śakti, Bhairava und Bhairavī, Viṣṇu und Lakṣmī, Kṛṣṇa und Rādhā, Brahman/Puruṣa und Māyā/Prakṛti oder eine ähnliche Polarität.