Kālī Kaula

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Musikantin (Trommlerin).

Surya-Tempel, Konarak, Orissa, 13. Jahrhundert. Sich selbst durch Musizieren zu erfreuen, wie das KCT nach der morgendlichen Reinigung und vor Beginn der Verehrung empfiehlt, ist der heutzutage der am meisten vernachlässigte Teil der tantrischen Praxis. Dies ist Deine Chance für etwas Neues.

Besorge Dir ein Instrument und verschaffe Dir gute Gefühle!

Divya. Hier begegnen wir denen, die oft als die ‘höchste Klasse der Anbeter’ betrachtet werden, d.h. als jene, in denen die göttliche Qualität am stärksten ist und die sattvische Natur dominiert. Diese Art von Personen ist genauso schwer zu beschreiben wie die göttliche Qualität im Menschen oder in der Welt insgesamt, da beide dazu neigen, paradox zu erscheinen. Das Divya als solches bedeutet unter anderem Himmel, das Himmlische und Göttliche. Es kann sich auch auf einen heiligen Eid oder ein Gottesurteil beziehen. Manche Texte haben die Divyas zu definieren versucht. Das Kubjīkā Tantra, zitiert von Sir John Woodroffe in seiner Einführung in das MNT, liefert eine solche Beschreibung. Um nur ein paar Punkte zu nennen: Wir erfahren, dass unser Divya den größten Teil des Tages mit Anbetung verbringt (mindestens dreimal täglich) und den größten Teil der Nacht Japa oder den Mantra praktiziert, sauber ist, belesen, gebildet, tolerant gegenüber Andersgläubigen, wohltätig, keinen Unterschied zwischen Freunden und Feinden macht, nur Nahrung isst, die vom Guru gesegnet ist, immer die Wahrheit sagt, gottlose Gesellschaft und Gespräche meidet, sich bis zu den Füßen vor Frauen verneigt (die er als seinen Guru betrachtet), alle Gottheiten verehrt, alles der höchsten Göttin darbietet, Śiva in allen Menschen wahrnimmt usw. Das klingt wie Heiligkeit, und wie Heiligkeit kann es auch missverstanden und vorgetäuscht werden. Eine Menge Leute gehen in die Irre, wenn sie den Divya zu spielen versuchen. Imitation von äußerer Heiligkeit kann Narren beeindrucken, aber nicht die Götter, und ganz sicher nicht das All-Bewusstsein. Wenn das Divyatum Anstrengung erfordert, dann ist es offenkundig nicht natürlich. Echte Divyas transzendieren die Rolle des Heiligen, und wenn sie Rituale durchführen, dann scheinen diese oft ganz normale Handlungen des täglichen Lebens zu sein oder finden komplett im Geist statt. Das große Problem der Divyas besteht darin, dass die Leute ringsum nicht ganz so heilig sind. Divyas neigen dazu, die Gottheit in jedem zu sehen. Sie vergessen, dass Menschen von ihrem Ego, ihren Ängsten und Begierden getrieben werden und dass eine potentielle Gottheit in jemandem nicht dasselbe ist wie eine manifestierte. Kurz gesagt, sie nehmen oft das Beste an, vertrauen in das Höchste und erleben regelmäßig Enttäuschungen. Divyas haben auch Probleme, mit der ganzen verdammten Alltagsrealität zurechtzukommen, mit Machtpolitik, Hierarchien und dem Bereich der typischen Menschenspiele.

Wir haben es bei den drei Temperamenten mit zwei Möglichkeiten zu tun. Manche religiösen Lehren bleiben innerhalb des Modells. Hier ist der Paśu ein fauler, träger und ignoranter Anfänger, der am liebsten auf dem Sofa sitzt und das Leben vertrödelt. Wenn er oder sie tatsächlich endlich den Hintern hochbekommt, wird sie/er zum Vīra, und fängt an, durch schiere Hektik, Begierde, Lust und Zorn die Welt zu erobern. In diesem Stadium sind die Kräfte der Trägheit und des Himmlischen noch gleichermaßen stark, und unsere heldenhaften Verehrer werden von den Stürmen des Universums hin und her geworfen. Woran sie meistens selber schuld sind. Erst wenn Held oder Heldin sich weniger wichtig nehmen und das Göttlich in Allem erkennen, was direkt zu Liebe und Mitgefühl führt, tritt Frieden ein, und wir erleben die Divya-Stufe. Und die ist in diesem Modell das Endziel. Soweit ist das Ganze ziemlich simpel. Doch in manchen Tantras sieht die Welt ganz anders aus. Hier haben alle drei Bewusstseinszustände sowohl ihre Bedeutung und Stärken wie ihre Schwächen und Nachteile. In diesen Systemen gilt es, alle drei zu nutzen und zu transzendieren.

Natürlich wirst Du Dich schon gefragt haben, zu welcher Klasse Du gehörst. Das ist ein nützlicher Gedanke, aber auch ein irreführender. Die drei Temperamente sind nicht unbedingt in einer linearen Progression von ignorant über aktiv zu göttlich angeordnet. Stell Dir ein Dreieck vor. Jede der Ecken ist eins der Temperamente; jedes hat seine Stärken und seine Schwächen. Die Temperamente an sich sind keine Rollenmodelle, sondern Extreme. Dein Leben findet im Zwischenraum zwischen den Punkten statt. Denk Dir mindestens zwei Stufen zwischen Paśu und Vīra aus, zwei Stufen zwischen Vīra und Divya, und (hier betreten wir Neuland) zwei Stufen zwischen Divya und Paśu. Du wirst bald bemerken, dass jedes Temperament Vor- und Nachteile hat. Dem Paśu wird ja gerne vorgeworfen, dass er oder sie das halbe Leben mit Videospielen, Soap Operas und in ‚sozialen Netzwerken‘ verplempert. Doch ein Paśu kann beständiger, zuverlässiger und geduldiger in der Praxis sein als beispielsweise ein Vīra, und nebenbei den Dingen der Welt die nötige Aufmerksamkeit schenken. Besonders wenn Paśus an eine Familie gebunden sind, haben sie Verpflichtungen, und diese haben, auf ihrer Ebene und zu ihrer Zeit, eine gewisse Berechtigung. Doch Paśus brauchen manchmal ewig, um in die Gänge zu kommen, und ein Vīra kann Dinge schon fertig haben, während Paśu und Divya noch herumsitzen und darauf warten, dass etwas passiert. Natürlich neigt ein Vīra auch eher dazu, Fehler zu machen; die Nebenerscheinung des Tuns sind immer Missgeschicke, und der Preis für Einmischung ist Bindung. Vīras sind so erregbar und hastig, dass sie oft Dinge beginnen, ohne darüber nachzudenken, was dabei herauskommt. Sie haben auch echte Probleme damit, falsche Ziele und fehlgelaufene Projekte loszulassen, und einfach über sich selbst zu lachen. Divyas können im Vergleich zu ihnen ruhig und heilig sein, haben aber Probleme, normale Menschen zu verstehen. Ein Divya kann dazu neigen, materielle Notwendigkeiten zu vergessen. Divyas brauchen im Allgemeinen oft Hilfe, und sei es nur zum Überleben; nur wenige von ihnen schaffen es, einen ganz normalen Job zu behalten, und Karriere fällt ihnen extra schwer. Auch Geld interessiert sie nicht besonders. Oft schädigen sie ihren Körper, wenn ihre rituelle Ekstase stärker ist als der gesunde Menschenverstand (sie trinken z. B. Ganges-Wasser oder bleiben zu lange in Hitze oder Kälte). Gelegentlich kann ihre Ansicht von ‘Ununterscheidbarkeit’ ihren Körper zerstören oder ihr Hab und Gut aufzehren. Divyas verleihen gerne Geld, das sie nur selten zurück bekommen, und nehmen sich selbst nicht so wichtig, was sie zu leichten Opfern macht. In solchen Fällen können Divyas durchaus von der materiellen Unterstützung durch Paśus abhängig werden.

Mehrere Tantras weisen darauf hin, dass in unseren Tagen und unserem Zeitalter Vīras selten und Divyas noch viel seltener sind. Sie finden es schwer, in einer Welt zu existieren, die von materialistischen Idioten, Kriegstreibern, Profiteuren und Ausbeutern der Unschuldigen beherrscht wird. Mach jetzt eine Pause und stell Dir Dich selbst als alle drei Charaktere vor. Hier geht es nicht darum, Dich möglichst schnell in einen abgehobenen Heiligen zu verwandelt. Viel wichtiger ist geistige Flexibilität. Genau jetzt hast Du eine wundervolle Gelegenheit zu lernen, drei wirklich nützliche Rollen zu spielen. Wer oder was bist Du, wenn Du als Paśu, Vīra und Divya handelst? Wie gibt’s Du Dich, wie verhältst Du Dich, wie sind Deine Atmung, Deine Tonlage, Dein Energietonus, und welche Gefühle hast Du dabei? Zu welchen Zeiten spielst Du diese Rollen? Bei welchen Gelegenheiten? In welcher Gesellschaft? Welche Maske ist am nützlichsten für welche Aktivitäten? Wer bringt Dich dazu, pünktlich zur Arbeit oder nachts in den Wald zu gehen? Wer ist nützlich, um Verpflichtungen einzuhalten, und wer, um sie zu verlachen und loszulassen? Wer gibt sich hin, und wer schafft es, klare Grenzen zu ziehen? Wann wechselst Du von einem Bewusstsein ins andere? Woran bemerkst Du den Moment der Veränderung? Was würde Dir der Wechsel in eine andere Rolle bringen? Wie schnell kannst Du von einem Bewusstsein zum anderen schalten? Und was tut Dir jetzt wohl? Viel Spaß dabei.

Dreieinhalb Bewusstseinszustände

In den Upaniṣaden findest Du Versuche, die Art und Weise zu ordnen, wie Menschen das Multiversum erleben. Im klassischen Modell gibt es drei Grundzustände der Wahrnehmung. Diese Zustände sind grob bekannt als Tiefschlaf, Wachen und Träumen. Im Tiefschlaf bist Du Dir Deines Körpers, Geistes und Deines Selbst nicht gewahr. Alle Selbstdefinitionen hören auf zu wirken, aller Identitätssinn verschwindet, sowie alle Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. In diesem Sinne ist traumloser Schlaf der Perfektion ziemlich nahe. Er ist nur eben leider nicht bewusst. Das Wachbewusstsein ist das, was Du mit Deinen Sinnen wahrnehmen kannst. Nun zeigen die Sinne die Welt nicht so, wie sie ist. Was sie liefern, ist eine angepasste und begrenzte Zusammenfassung Deiner Sinneswahrnehmungen, aufbereitet und modifiziert an Deinen Glauben daran, wie Realität sein sollte. Egal, wie gut Du hörst, siehst, spürst oder sonstwie die Welt wahrnimmst, was Dein Geist Dir zeigt, ist nur eine Darstellung. Egal, wer Du bist und was Du tust, Du lebst in einer künstlichen Repräsentation, und dies gilt für uns alle. Hier möchte ich noch darauf hinweisen, dass schon in der Upaniṣadenzeit die Sinneswahrnehmung als eine aktive Tätigkeit betrachtet wurde. Dein Auge sieht nach dieser Auffassung nicht, indem es Licht empfängt, sondern indem es einen Lichtstrahl aussendet, welcher die Welt des Sehbaren erschafft. Aus deinen Ohren kommt aktiv Gehör, und dieses erzeugt den Klang der Dinge. Die Nase macht den Geruch. Daher können große Yogīs Menschen z. B. mit ihren Augen berühren, segnen oder in sie eindringen. Es ist eine spannende Meditation, das in aller Ruhe bei einem Spaziergang zu erleben: alles was Du gerade empfindest, strömt nicht einfach in deinen Kopf hinein, sondern wird vielmehr von deinem Selbst bzw. dem Allselbst durch die Sinnesorgane nach außen projiziert. Träumen deckt im indischen Denken alle inneren Erfahrungen ab. Dies beinhaltet Träume im Schlaf und Träume im Wachen. Immer, wenn Du etwas denkst, geht Deine Aufmerksamkeit von der äußeren Welt weg und in eine innere Welt, die Du selbst machst. Auch dies ist eine aktive Tätigkeit. Manche nennen das denken, planen, spekulieren, erinnern, reflektieren oder imaginieren. Sie kalkulieren, befürchten, hoffen, sehnen, glauben, vermuten, zweifeln, ahnen, schauen innere Filme, hören sich innerlich sprechen und bekommen Gefühle dazu. Die Seher der Upaniṣaden nannten es träumen.

 

Diese drei Zustände, so dachten die Seher, sind das Grundmaterial des göttlichen Spiels, das wir für unsere Realität halten. Dahinter oder darin gibt es einen geheimen Kern. Dieser ist der vierte Zustand, das Turīya (Vierter), welches als die Ursache aller Zustände betrachtet wird und diese gleichzeitig vereint und transzendiert. Turīya ist schwer zu definieren, weil jede Definition am Thema vorbeigeht. Es ist nicht einfach ein vierter Zustand, sondern eine mysteriöse Zwischenempfindung, an welcher die drei anderen Zustände durchaus beteiligt sein können. Stell Dir zum Beispiel vor, Du würdest gleichzeitig im Tiefschlaf, im Wachbewusstsein und am Träumen sein, und geh noch ein wenig über diese Empfindung hinaus. Daher wird es üblicherweise nicht als ein voller Zustand gezählt, sondern als ein halber. Dies gibt uns dreieinhalb Zustände, die den dreieinhalb Windungen der Kuṇḍalinī entsprechen. In der Literatur wird Turīya üblicherweise dadurch definiert, dass aufgezählt wird, was nicht ist. Sieh Dir einfach die klassische Beschreibung an, die im Mantra-Kapitel (unter Oṁ) gegeben wird. Es ist nicht einfach, auf etwas zuzugehen, was nicht definierbar ist. Man kann das Turīya nicht tun, erlangen, erreichen oder steuern. So lange es Anstrengung und Absicht gibt, gibt es noch Denken, Tun und Träumen und eine Person, die in diese Dinge involviert ist. Wie ist es mit dem Nichttun? Bedenke, dass der Weg zum Turīya ein innerer Weg ist, eine Rückkehr zur Quelle der drei anderen Zustände. Manche Autoren vergleichen das Turīya mit dem traumlosen Schlaf, in dem es kein Wachen oder Träumen gibt, weder in der äußeren noch in der inneren Welt. Anders als der traumlose Schlaf ist Turīya aber sehr wach. Wir haben jetzt dreieinhalb Zustände. Es gab auch Seher, denen das nicht genug war: sie fügten einen jenseits von Turīya hinzu, der das wirklich Absolute sein sollte. Doch diese Vorstellung hat sich nicht sonderlich durchgesetzt.


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Lakṣmī-Statue

Stein, wahrscheinlich Kajuraho.

Um die drei Zustände zu verstehen, ist es nützlich, ein paar Tage lang Deine Aktivitäten zu beobachten. Wann immer Du Dich gerade an diese Übung erinnerst, überlege, was Du gerade tust. Bist Du jetzt wach? Oder träumst Du? Oder bist Du irgendwo dazwischen? Hier kann es nützlich sein, die Zustände als ‘Welten’ zu betrachten. Die Welt des Wachbewusstseins ist das, was Du mit Deinen Sinnesorganen wahrnehmen kannst (oder eben erschaffst). Es ist, wie andere behaupten, die materielle Welt. Man kann sie sehen, berühren, hören, riechen und schmecken. Sie kann gemessen werden, und sie kann (in einem gewissen Ausmaß) mit anderen geteilt werden. Manche, üblicherweise Leute, die die letzten paar Jahrzehnte in einem Erdloch gelebt haben, halten diese für die objektive Welt und betrachten sie als ‘real’. Andere, die sich die Mühe gemacht haben, ihren Geist mit Quantenphysik, Philosophie und Hirnforschung zu verknoten, erklären, dass sie vielleicht für uns ein wenig objektiv sein könnte; nicht dass wir uns dessen sicher wären, aber vorläufig könnte das reichen. Die materielle Welt ist real für die Instrumente, die sie wahrnehmen und messen können. Oder, im klassisch indischen Denken, wird die materielle Welt durch die Sinnesorgane real gemacht. Die Traumwelt ist anders, da sie viel subjektiver und an Dein Körper/Geist-System angepasst ist. Sofern sie nicht einen materiellen Träger hat, wie ein Gemälde, eine Statue, ein Gedicht, Buch oder einen Film, ist sie sehr schwer zu vermitteln oder mit anderen zu teilen. Ich würde vorschlagen, hier zwei Welten zu unterscheiden, die Welt der Schlafträume und die der Wachträume. Die Traumwelten sind auf ihre eigene Weise real, indem sie Ideen, Emotionen und Inspirationen liefern, die die materielle Welt gestalten. Jeder Gegenstand in Deiner Umgebung, der nicht natürlich entstanden ist, ist eine Manifestation der Traumwelt. Häuser, Straßen, Autos, Bücher waren alle Ideen und Träume, bevor sie in materieller Gestalt manifest wurden. Viele Leute bringen die Realität dieser zwei Welten durcheinander. Tatsächlich überschneiden sie sich. Du kannst einen Baum sehen, fühlen, schmecken, riechen und manchmal hören; dies macht ihn zum Teil der materiellen Welt und des Wachbewusstseins. Du kannst Dir einen Baum vorstellen und ihn mit Deiner Imagination wahrnehmen. Wenn Du das gut machst, wird der Baum Dich beeindrucken, Dich bewegen, eine emotionale Reaktion verursachen; ein Test der Realität einer Imagination besteht darin, dass sie Dich bewegt und Gefühle hervorbringt. Beide Erfahrungen werden zur Erinnerung, der Erinnerung an einen Baum, den Du mit Deinen äußeren und inneren Sinnen erlebt hast. Beide Bäume sind in ihrer eigenen Welt real, beide Bäume sind Repräsentationen. Was bleibt, ist eine Erinnerung an eine Repräsentation Deiner äußeren und inneren Sinne.

Beide Bäume sind real, aber jeder ist nur in seiner eigenen Welt real. Ein Monster, das sich unter Deinem Bett versteckt, ist nicht real oder messbar mit den äußeren Sinnen (Wachbewusstsein), es ist Teil der Traumwelt. Es ist nicht real in der materiellen Welt, aber es ist sicher real in der Imagination. Versteckte Monster haben schon viele Kinder mitten in der Nacht verängstigt, und jede Idee, die das kann, ist ziemlich real. Das selbe gilt für die Trancen, in die Menschen geraten, wenn sie verliebt sind, Angst haben, paranoid, gierig, verärgert, ambitioniert, traurig, inspiriert usw. sind. Du kannst Liebe nicht in der Wachwelt messen, aber sie ist sicherlich stark genug, um Menschen zu beeinflussen. Du kannst Furcht nicht messen, und doch ist Furcht so stark, dass sie Kriege, gesellschaftliche Verpflichtungen, Hierarchien, Traditionen und geregelte Arbeitszeiten verursacht. Jeder der Zustände enthält eine Menge Realität in sich. Die Realität des Wachbewusstseins ist abwesend, wenn Du schläfst und träumst, sie ist bedeutungslos, wenn Dein Geist Tagträume hat und wenn Du starke innere Gefühle wie Sehnsucht, Liebeskummer oder Überlebensängste erlebst. Die Schlaftraumerfahrung ist äußerst real, wenn Du im Traumland bist; sie verblasst zur Erinnerung, wenn Du am Morgen aufwachst. In Magie, Ritual und Religion neigen die Welten zur Überschneidung. Ein materielles Objekt kann eine starke imaginäre Realität haben, ein Traum kann in die Welt des wachen Erlebens projiziert werden. Wenn sich die Welten überschneiden, erleben wir Transformation. Es ist nur von zwischendrin und außerhalb, d.h. Turīya, möglich, dass die anderen Zustände willentlich veränderbar sind. Wir brauchen manchmal einfach Leerlauf, um von einem in den anderen Gang zu kommen.

Schädel und Leichen

Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat ein Haufen von schlecht informierten Möchtegern-Gurus die Idee populär gemacht, dass Tantra einfach spirituelle Erotik sei. Zahllose New-Age-Propheten verkaufen kostspielige ‘Tantra Workshops’, in denen die Leute ein bisschen von der nötigsten sexuellen Grundausbildung bekommen. Was auf diesem Markt als ‘Tantra’ verkauft wird, hat mit dem Original sehr wenig zu tun. Schaumbäder, Kostüme, Make-up, Massage, orientalische Dekoration, ätherische Öle, Kerzen und Räucherstäbchen, Erzeugung einer erotischen Atmosphäre, gemeinsames Atmen, lange Umarmungen, Überwinden von Schüchternheit, Sinnlichkeit, anspruchsvolle Stellungen, Verzögerung der Ejakulation, Reichianische Körpertherapie, bioenergetische Übungen usw. sind gut, wichtig und schön, aber gewiss nicht das, was die Tāntrikas im Sinne hatten. Wenn Du die New-Age-Vision des Tantra als die wirkliche Sache akzeptiert, dann kannst Du in einem Denkmuster landen, das Hedonismus, Sinnlichkeit und Körperkult zum Selbstzweck macht. Ich nehme an, dass jene tantrischen Gurus, die tatsächlich Sex in ihrem Programm hatten, wussten, was passiert, wenn Menschen Erotik als den einzigen Weg zur Glückseligkeit und Befreiung ansehen. Wenn Du den Körper zu sehr verehrst, wirst Du in einer totalen Bindung daran enden. Wenn Du nur das Schöne, das Verführerische, das Wünschenswerte kultivierst, was wirst Du machen, wenn Du und Dein Partner alt werden? Und was wird aus der erotischen Spiritualität, wenn Deine Gelenke nicht mehr wollen, Dein Rücken Probleme macht und die Drüsen einfach nicht mehr so viele Hormone produzieren? Ist Tantra nur für junge, fitte, schöne Menschen gedacht? Nein, das ist eben nicht der Fall. In allen authentischen tantrischen Systemen war erotische Praxis bestenfalls ein Teil des Programms, und bei weitem nicht der wichtigste. Wer in Schönheit schwelgt, muss auch das Gegenteil integrieren.

Kommen wir zu dem im Westen so stark vernachlässigten Gegengewicht zu Erotik und dem Kult der ewigen Jugend: Willkommen auf dem Leichenverbrennungsplatz! Buddha hatte seine eigenen radikalen Ideen bezüglich Schönheit und Begierde. Um seinen Anhängern bei der Überwindung der Versuchungen des Fleisches zu helfen, empfahl er die Beobachtung von Alter, Tod und Verfall. Spätere Generationen machten ein ganzes System von unterschiedlichen Meditationen daraus. Dieselbe Idee taucht in zahlreichen Tantras auf, insbesondere in der nördlichen Tradition. Bitte beachte, dass die folgenden Praktiken nicht für alle tantrischen Systeme typisch oder verbindlich sind, und dass es dabei große Unterschiede gab und gibt. Manche Adepten praktizierten Dinge, die von anderen meditativ oder im Ritual symbolisch erlebt wurden. Die Grundidee ist aber weit verbreitet und ausgesprochen relevant: wenn wir das Schöne, Liebliche und Erotische genießen wollen, sollten wir auch dem Schrecklichen, Morbiden und Abstoßenden ohne Hemmungen begegnen können. Tatsächlich liegt, wie schon Baudelaire erkannte, eine ganz eigene Schönheit in Verwesung und Zerfall. Wer diese zu schätzen weiß, hat auch vom eigenen Vergreisen und Tod nicht viel zu fürchten. So entstand eine ganze Reihe von Ritualen und Praktiken, welche die heldenhaften Tantriker von ihrer Todesangst befreien sollten. Manche sind ganz simpel. Am beliebtesten waren Meditationen auf den Verbrennungsplätzen. Hier begegnen wir hinduistischen und buddhistischen Tāntrikas, die es attraktiv fanden, Stätten der Gefahr, des Schreckens, der Furcht, des Ekels und Schmutzes aufzusuchen. Dazu zählen ehemalige Schlachtfelder, Sümpfe, Wegkreuzungen, Wälder und verlassene Gebäude, in denen man mit Geistern rechnen konnte. Wann immer ein Ort einen üblen Ruf hatte, wurde er für heldenhafte Tantriker sofort attraktiv. Im orthodoxen Hinduismus sind Leichen die verunreinigendsten Objekte, die man sich überhaupt vorstellen kann. Ein strenggläubiger Hindu darf keine Leichen berühren, ein Tod in der Familie muss mit zahlreichen Reinigungsriten gut gemacht werden, und Besuche von Verbrennungsstätten erfordern beachtliche Vorreinigungen. Doch Verbrennungsstätten sind nicht nur Orte, an denen Leichen verbrannt werden. Theoretisch mag es ja stilvoll sein, wenn ein Leichnam auf einem Stapel edler Hölzer eingeäschert wird, während die engsten Verwandten dabei Wache halten. Später konnte die Asche dann in den heiligen Ganges geschüttet werden, um mit dem Fluss des Universums eine gute Wiedergeburt oder vielleicht sogar Erlösung zu finden. Doch Indien hat über die Jahrhunderte rapide seinen Wald verloren, weite Gebiete sind heute praktisch Wüste, und Holz ist für viele unerschwinglich. Arme Leute erhielten nicht viel Beistand auf dem Weg ins Jenseits, die Leichen wurden nicht völlig verbrannt, wenn Holz zu teuer war, und an manchen berühmten Verbrennungsstätten sind auch Beerdigungen üblich. Kinsley (1998 : 153) nennt das berühmte Tārāpīṭh in Bengalen, wo über 60 Prozent der Leichen beerdigt werden. Durch das regelmäßige Hinzukommen neuer Leichen werden die älteren umgeschichtet, wodurch es ein Leichtes ist, zu Schädeln und Knochen zu kommen. Verschiedene dort heimische Asketen sammeln Schädel, die sie als Bettelschalen, zur rituellen Dekoration oder für die Errichtung der klassischen Schädelsitze verwenden. Solch ein Sitz kann frisch arrangiert werden, er kann aber auch durch Vergraben von Schädeln im Erdboden einer Hütte oder eines Ritualplatzes hergestellt werden. Traditionell sollen unter dem Sitz der Schädel eines Śūdra, eines Schakals, eines Tigers, einer Schlange und einer Kumārī (junges Mädchen) sein. Diese fünf Schädel formen den Sitz des Adepten, sie bilden einen Brennpunkt der Macht und eine Verbindung zur Anderswelt.

 

Ein Schädel wird auch im klassischen Kula-Ritual, wie Abhinavagupta es beschrieb, gebraucht. Dabei sind die drei essentiellen Elemente das ‚Gefäß‘, der ‚heilige Ort‘ und die ‚Lampe‘. Alle drei können auf vielen Ebenen verstanden werden. Manche nutzen hier einen Schädel, eine Schädelschale, oder eine Kokosnussschale, die auf einem roten Tuch aufgestellt wurde. Jayaratha, Kommentar zu 29, 14-16 bemerkt, der Schädel wäre einfach der Kopf, der eigene oder der von jemand anderes. Daher wird gesagt: der Kopf ist bekannt als das Fundament aller Göttinnen. Den eigenen Kopf als heiligen Schädel zu erleben, ist übrigens eine schöne Meditation. Im Arrangement ‚erhebt‘ sich das Tuch vom Boden und der Kopf vom Tuch: das Ergebnis nennt sich der ‚heilige Ort‘. ‚Erheben‘ bedeutet in diesem Kontext auch Erregung in der äusseren Wahrnehmung. In der Umgebung werden Kulalampen aufgestellt, die aus essbarer Paste, Ghī (Butterfett) oder Sesamöl mit roten Dochten gefertigt wurden. Ghī wurde bevorzugt: Die Kühe, die auf Erden wandeln, werden als Göttinnen bezeichnet. Die Lampen symbolisieren menschliches Fleisch und sind das zweite Element der Kulazeremonie. Sie können nach dem Ritual verzehrt werden. Das dritte und wichtigste nennt sich ‚Gefäß‘, symbolisiert die Śakti und enthält das Sakrament, also die sexuellen Flüssigkeiten. Zu diesen drei gehört noch Wein, und zwar reichlich, denn Alkohol ist die äußere Essenz von Śiva, aber dieses Thema besprechen wir später noch. Mehr Details in Dupuche, 2006 : 185-193.

Zurück zu den Knochen! Dann gibt es noch den Brauch des Leichensitzens, ein weiteres Thema, von dem Du in ‘Tantra Workshops’ niemals hören wirst. Es kommt vor allem in manchen Riten für Kālī, Tārā und Bhairavī und den Mahāvidyās vor. Normalerweise war Leichensitzen Teil einer Grundinitiation, manchmal wurde es in speziellen Zauberritualen praktiziert, um besondere Kräfte zu bekommen oder Befreiung zu erlangen. Manche (bei weitem nicht alle) Tantriker wurden bei Nacht auf einer Leiche initiiert. Traditionell verwendeten tantrische Adepten frische Leichen. Üblicherweise welche von Männern oder Frauen niederer Klassen, die plötzlich verstorben waren, sei es durch Selbstmord, Gift, Schlangenbiss, Unfall, Ertrinken, Mord oder auf dem Schlachtfeld. Von Leichen unmoralischer, berühmter, verhungerter oder kranker Menschen wurde abgeraten. Auch von solchen der oberen Klassen, allein schon deshalb, weil ihre Verwandten sie bei Nacht bewachen ließen. Im Allgemeinen wurde die Leiche auf eine spezielle Art hingelegt, dekoriert, mit einer Gottheit identifiziert und verehrt. Als Dank für die Nutzung des Körpers gewann die Seele des Verstorbenen Segen. An einem bestimmten Punkt des Rituals wurde die Leiche auf den Bauch gedreht. Ein Yantra-Diagramm wurde auf den Rücken gezeichnet, eine Matte darauf gelegt, und der Initiant setzte sich rittlings auf die Leiche. Die Nacht über betet der Initiant die Leiche und die Gottheit (oft Śiva) in ihr an, rezitiert Mantras, übt den Prāṇāyāma und bietet Opfer dar. Und irgendwann bewegt sich die Leiche, gibt seltsame Töne von sich, lässt Gase austreten oder beginnt sogar zu sprechen. Man muss ziemlich abgedreht sein, um diesen Effekt zu erleben. Andere legen ein Brett auf die Leiche und setzen sich darauf. Dann gibt es jene, die die Leiche eines Kindes, Babys oder Fötus vergruben, um sich daraufzusetzen. Solche Rituale, so abscheulich sie erscheinen mögen, waren keine seltenen Perversionen einer spirituellen Tradition. Sie kommen in der frühesten tantrischen Literatur vor und soweit ich weiß, werden sie insgeheim gelegentlich noch immer praktiziert. Denk tief über die Symbolik nach. Die Leiche, ein durch und durch verschmutzendes Objekt, wird zu einem Vehikel, das seinen Reiter aus der akzeptablen gesellschaftlichen Realität und Konditionierung hinaus trägt. Das zerstört alle Klassenbindungen. Ein Hindu, der eine Leiche berührt, verliert seine Klasse und fällt buchstäblich aus der sozialen und göttlichen Ordnung heraus. Außerdem beruht die Freiheit, derer sich der frisch initiierte Adept erfreut, auf der Akzeptanz und Integration des Todes. Während der Ritus der Seele des Verstorbenen karmische Vorteile bringen kann, erinnert er den Initianten sicherlich an seine oder ihre Sterblichkeit. In einem gewissen Sinne ist die Leiche nicht einfach eine Leiche. Es ist Deine eigene Leiche. Wenn Du auf Deinem eigenen toten Körper sitzen kannst, verstehst Du, worum es bei Befreiung überhaupt geht.

Indem sie solche nekrophilen Riten praktizieren, beziehen zahlreiche Adepten den Tod in ihre Verehrungspraxis ein. Etliche Schulen des tantrischen Buddhismus verwenden Trompeten aus Oberschenkelknochen und Knochenornamente im Ritual. Yogīnīs, hinduistische wie auch buddhistische, trugen häufig Knochenschmuck bei ihren tantrischen Versammlungen, wenn sie die Nacht hindurch gemeinsam Ritual praktizierten, tranken, lachten, sangen und Erleuchtungslieder improvisierten. Knochenschürzen waren begehrte Kraftobjekte, und sehen außerdem recht kleidsam aus (Shaw, 1994 : 81-84, 87-97).

Schädel kommen vorwiegend in einigen tantrischen Systemen Bengalens vor. Sie wurden oft auf Altären platziert oder daneben begraben, so wie sie auch unter Gebäuden und Schreinen begraben wurden. Das könnte Dich an die Schädelverehrung in den keltischen und germanischen Religionen erinnern. Schädel können Gottheiten oder auch verstorbene Tantriker repräsentieren. Manche Adepten sammelten Schädel, in hellem Rot angemalt, um Kraft zu repräsentieren, in ihren Schreinen als Energiequelle. Andere nahmen Schädel, bzw. die Seelen deren Eigentümer, als Schüler an und lehrten, diese Befreiung zu erlangen. Ein Guru erhält Kraft und Verdienst durch die Befreiung anderer, egal, ob sie lebendig oder tot sind. Für einen lebendigen Bericht über die Verwendung von Schädeln in der Kālī-Verehrung siehe June McDaniel in White, (2000 : 77) und ihre Gesamtpräsentation des Themas Offering Flowers, Feeding Skulls (2004). Das alles könnte nahelegen, dass kompetente Tantriker gute Verbindungen zu den Unberührbaren brauchten, die die Toten sammeln und verbrennen. Leichen zu finden, war nicht besonders schwierig in einem Land, in dem jede neue Seuche für Tote am Straßenrand sorgte. Das Problem bestand darin, sie einzusammeln. Im alten Indien hatten diejenigen, die mit den Toten und Sterbenden umgingen, einen extrem unpopulären Platz in der Gesellschaft. Diejenigen, die in ihrer Verehrungspraxis Leichen berührten, taten das so geheim wie möglich.

Die beliebte Alternative zur Verwendung echter Leichen ist die Meditation. Zahlreiche tantrische Adepten imaginierten in Trancezuständen immer wieder ihren eigenen Tod. Sie visualisierten ihre Todeskrämpfe, die letzten Zuckungen, die Entladung von Exkrement und Urin, das Abkühlen des Fleisches. Viele imaginierten, wie Aasfresser sie verzehrten, Tiere wie Schakale, Hyänen, Geier und Krähen, die allesamt Manifestationen der Göttin sind. Sie erlebten Verfall, Fäulnis und die langsame Auflösung des ganzen Körpers. Wenn der Körper verschwunden war, bleib reines, formloses Bewusstsein zurück. Das ist eine große Erleichterung. Doch irgendwann muss man in die menschliche Welt zurück kehren. Dann bauten sie ihr Körper-Vehikel aus Mantras, Gefühlen, Energien, farbigen Lichtern und den Bewusstseins-Essenzen ihrer Götter wieder auf und kehrten voller Enthusiasmus und Lebensfreude in den Alltag zurück.