Kālī Kaula

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Der ältere Hinduismus

Nach diesen Einleitungen wirst Du zweifellos froh darüber sein, zu einem Thema zu kommen, das noch komplizierter ist. Was ist Hinduismus? Die indische Regierung machte sich die Sache leicht und definierte Hinduismus als all jene Religionen, die in Indien entwickelt wurden. Dies beinhaltet Veda, Buddhismus, Jaina, die Anhänger von Śiva, Viṣṇu, Brahmā und Śakti, Stammesreligionen, Dorfkulte und die Sikhs, die vehement gegen diese Einordnung protestieren. Das Wort ‘Hindu’ kommt aus Persien, es bezeichnet einen Eingeborenen des Landes am Indus. Der Begriff begann eine religiöse Bedeutung zu bekommen, als die Moslems im achten Jahrhundert im Industal zu siedeln begannen, und wurde populär, als sie das nördliche Indien im 13. Jahrhundert besetzten. Sie nutzten den Begriff, um damit alle Arten von Nicht-Moslems zu bezeichnen. Hindu war also zu Anfang kein spezifisch religiöser Begriff, sondern eher ein Schimpfwort. Die Engländer formten den modernen Begriff ‘Hinduismus’ in der falschen Annahme, ganz Indien würde einer einzigen Religion anhängen. In ihren Augen gab es eine Hauptreligion, die in zahlreiche Sekten unterteilt war. Wie viele Europäer konnten sie sich nicht vorstellen, dass so viele Religionen in relativer Toleranz miteinander existieren konnten. Die Inder neigen dazu, von ihrer Religion als einem Teil von Dharma zu sprechen, d.h. Ewiges Gesetz, Pflicht, Richtigkeit, Wahrheit, Ordnung, die den Platz und die spirituelle Entwicklung jedes Menschen definiert. Wenn ein besonderes Wort für ‚Religion‘ gebraucht wird, sagen sie gerne Devabhakti (Liebe/Hingabe zu den Göttern) dazu. Wenn wir zum frühen Hinduismus kommen, stoßen wir auf ein so breites Feld von Studien, dass ich nur empfehlen kann, selbst zu recherchieren. Es gab so viele Entwicklungen zwischen, sagen wir, 500 vor und 500 nach der Zeitenwende, dass ein einziges Leben nicht ausreichen würde, sie alle zu untersuchen. Ich beschränke mich deshalb auf eine Kurzzusammenfassung einiger größerer Strömungen und hoffe, dass die Götter des Lernens und der gelehrten Genauigkeit mir die Übervereinfachung vergeben werden.


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Unbekannte Göttinnen

Oben: Unbekannte Göttin, Terrakotta, 2. Jahrhundert v.u.Z., Bangarh, Bengalen, 15 cm hoch.

Unten: Unbekannte Göttin, Terrakotta, ca. 150 v.u.Z., Mathura

Wie Du gesehen hast, ist Hinduismus weder ein spezifischer Begriff noch war er ein Konzept, dessen sich die Menschen jener Zeit bewusst waren. Dass sich etwas Neues entwickelte, entzog sich ihrer Aufmerksamkeit. Die Entwicklung der spirituellen Konzepte fand allmählich und ohne radikale Schnitte statt. Die Lehren der Vergangenheit wurden nie verworfen, sie wurden einfach von neuen Interpretationen und Bräuchen überdeckt. Die heiligen Schriften des Altertums blieben heilig, wie sie bis zum heutigen Tage heilig geblieben sind, auch wenn sie als eine ältere Version der Wahrheit immer wieder uminterpretiert werden mussten.

Die Jahrhunderte, die in diesem Abschnitt behandelt wurden, sahen viele politische Veränderungen auf dem Subkontinent. An dieser Stelle will ich nur den Aufstieg der neuen Großkönigreiche erwähnen, die Einführung der Schrift unter Kaiser Aśoka (selbst ein Buddhist), die sog. Eroberung Indiens durch Alexander den Großen (ein peinliches Ereignis von so geringer Bedeutung, dass indische Geschichtsschreiber sich kaum darum kümmerten, es zu erwähnen) und den Aufstieg der griechisch-indischen Dynastien, die einen so enormen Einfluss auf die Kunst und Bildhauerei hatten. In dieser Epoche wurde Indien zu einem Wunderland, welches die Europäer faszinierte. Griechische und römische Geschichtsschreiber begannen, seltsame Geschichten aus dem Osten aufzuzeichnen, wo Riesenameisen Gold sammelten, Einhörner gediehen und alte Menschen sich selbst verbrannten. Der Handel begann, und bald war Indien mit den ökonomischen Netzwerken des Römischen Imperiums verbunden. Die Reise führte teilweise über Land per Karawane durch Ägypten und Arabien und teilweise übers Meer, sie war lang, gefährlich und entbehrungsreich, aber sie war ausgesprochen einträglich und führte zur Etablierung ägyptischer und europäischer Seefahrergemeinschaften in Nordwestindien. Im Jahre 25 v.u.Z. fuhren allein von Myos-Hormos in Ägypten 120 Schiffe nach Indien. Unter den ersten Cäsaren brachte der Indienhandel enorme Gewinne. Der indische Markt war höchst interessiert an Metallen, an Purpur, Chemikalien und Wein, während die europäischen Märkte so hungrig nach indischen Gewürzen, Räucherwerk, Elfenbein, Edelhölzern und Luxusgütern waren, dass jedes Jahr eine Menge römisches Geld nach Indien ging, wo es blieb. In manchen Distrikten wurde es zur wertvollsten Währung. Schon bald wurden Ideen ausgetauscht, und so war es auch mit der Religion: Siehe nur die Einführung der ägyptischen Göttin Isis, der Schutzherrin der Seefahrer im Römischen Imperium, in Indien, wo sie die einzige verschleierte Göttin des Pantheons wurde (Mogg Morgan bespricht das faszinierende Thema in seinem bisher unveröffentlichten Werk Isis in Indien).


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Göttliche Köpfe

Oben: Kopf von Pārvatī oder Umā, Terrakotta in Gupta-Stil, 5. Jahrhundert.

Śiva-Tempel von Ahiccattrā.

Unten Kopf von Śiva, Terrakotta in Gupta-Stil, 5. Jahrhundert.

Śiva-Tempel von Ahiccattrā.

Auf eine ähnliche Art kam Indien zur mesopotamischen Astrologie, wenn auch in einer griechischen Form, und passte sie an die eigenen Bedürfnisse an. Pythagoras reiste, soweit dies rekonstruiert werden kann, durch Mesopotamien, wo er mit anspruchsvoller Mathematik und Musiktheorie vertraut gemacht wurde, die dort vor 1500 Jahren entwickelt wurde, und erfuhr wahrscheinlich in Indien von Wiedergeburt und Vegetarismus. Bei seiner Rückkehr gründete er seine eigene philosophische Schule, die Jahrhunderte später eine echte Konkurrenz zum jungen Christentum darstellte. Ein ähnliches Ausmaß an Handel und kulturellem Austausch fand mit den Ländern östlich von Indien statt, hauptsächlich mit China. Hinduistische Religionen wurden zwischen dem 2. Jahrhundert v.u.Z. und dem 6. Jahrhundert auch in die Länder Südostasiens exportiert. In Indien begannen Autoren nicht nur, über 200 neue Upaniṣaden zu produzieren, sondern auch eine Flut von Gesetzestexten, Poesie und schließlich zwei gewaltige epische Dichtungen, das Mahābhārata in 100.000 Doppelversen und das etwas kürzere Rāmāvaṇa.

Oberflächlich gesehen befassen sich beide Epen mit Heldentum. Ersteres ist ein ausgedehnter Bericht über die Schlachten und Konflikte zweier Zweige einer königlichen Familie, unter deren Mitgliedern viele inkarnierte Gottheiten waren. Das zweite, jüngere und kürzere Stück, legt das Leben des Rāma (‘Dunkler’, ‘Freude’, ‘Lust’ – einer Inkarnation von Viṣṇu) dar, seine Hochzeit mit Sīta (Ackerfurche), ihre Entführung durch einen Dämon und ihre Errettung. Diese Werke entwickelten sich über Jahrhunderte hinweg und erreichten schließlich enzyklopädische Ausmaße. Keine anderen Werke hatten einen so tiefgehenden Einfluss auf das indische Denken. Und das zu Recht – in der ganzen epischen Weltliteratur stehen beide Werke als unerreichbare Spitzenleistungen da. Bis zum heutigen Tag rezitieren Priester und Geschichtenerzähler Episoden aus diesen Epen, und da dies im archaischen Saṁskṛta geschieht, und obwohl meisten der Zuhörer kaum mehr als die Namen und ein paar Worte hier und da verstehen, sind diese Ereignisse nicht nur populär, sondern heilig. Als das Mahābhārata als endlose Serie im Fernsehen gezeigt wurde, dekorierten fromme Hindus ihre Fernseher mit Blumen und verbrannten Räucherwerk. An diesen Geschichten teilzuhaben, bedeutet, Verdienst und Segen zu erringen und Erlösung von vergangenen Sünden zu finden. Ein weiteres solches Feld der literarischen Evolution waren die (ursprünglich) achtzehn Purānas (‘Uraltes’, ‘Mythe’), in denen ein enormes Ausmaß an Mythologie, Ritualen, Hymnen, wissenschaftlichen Diskursen, Geografie, Kosmologie, Genealogien und alles, was ihre Autoren faszinierte, niedergeschrieben ist. Diese Werke können als Enzyklopädien betrachtet werden. Manche waren einzelnen Gottheiten gewidmet; andere versuchten, die Spannungen zwischen den heranwachsenden Kulten von Śiva und Viṣṇu zu verringern, indem sie nett zu allen waren. All diese Literatur ist komplex, stilistisch ausgefeilt und voller Widersprüche. Das hat die Inder nie besonders gestört: Es gab niemals ein einziges Dogma für irgendetwas.

Dharma und das Muster der Gesellschaft

Mit dem Aufkommen des frühen Hinduismus beobachten wir eine zunehmende Bedeutung des Dharma. Der Dharma ist ein Begriff, der ursprünglich zur Bezeichnung der kosmischen Ordnung verwendet wurde. Diese Ordnung spiegelte sich in der Gesellschaft und im Leben jedes Lebewesens wieder. Viele Konzepte flossen in dieses Paket ein. Dharma kann Harmonie, Wahrheit, Richtigkeit bedeuten, es kann die Naturgesetze meinen, und auf das menschliche Verhalten angewandt ist es die Macht, welche Menschen an ihre Position in der Gesellschaft bindet. Indem er den Pflichten seiner Klasse folgt, unterstützt jeder Hindu den Dharma, durch Verletzung der gesellschaftlichen Gesetze wird der Dharma bedroht. Dharma durchdringt den ganzen Korpus der hinduistischen Religion. Er ermöglicht Verbindungen, die in anderen Philosophien nicht existieren. Eine Sünde oder ein Verbrechen kann, weil es den menschlichen Dharma verletzt, Rückwirkungen in der natürlichen Welt haben. Ein sündiger König, ein Herrscher, der die Riten missachtet oder ein religiöses Tabu bricht, verletzt den Dharma, und dies kann zu Unwettern, Seuchen oder dem Einfall von Feinden führen. Korrupte Priester, Könige und Minister können eine Bedrohung der Ordnung auf allen Ebenen darstellen. Die soziale Welt, die natürliche Welt und die göttliche sind nicht getrennt, sie sind ein Dharma, und eine Beschädigung vom Dharma kann sie alle erschüttern. Natürlich war Dharma mehr als nur ein Prinzip, er war auch eine Kraft und wurde auch als eine Gottheit betrachtet. Der wichtigste Aspekt des Dharma im täglichen Leben war die Aufgabe jedes Wesens, seine natürlichen Verpflichtungen zu erfüllen. Pflanzen folgten dem Dharma, Tiere folgten dem Dharma, Götter folgten dem Dharma, und den Menschen oblag es, dasselbe zu tun. Das alles wäre wunderschön, wenn es nicht die soziale Ordnung so extrem belastet hätte. Betrachte einfach mal das eng verwandte chinesische Konzept des Dao. In vieler Hinsicht sind der Dharma und das Dao identisch. Beide Ideen beschreiben eine Weltordnung, in der Wesen und Dinge ihrem natürlichen Wesen folgen und sich alle Ebenen des Seins gegenseitig beeinflussen. Die Chinesen verzichteten nur darauf, aus dem Dao ein gesellschaftliches, zwanghaftes Regelwerk zu machen, und gerade deshalb ist das Dao so erfrischend lebendig, während der Dharma immer wieder zur einem Mittel der Unterdrückung wurde. Im Laufe dieses Prozesses wurde das Klassensystem immer komplexer. Während sich die späten Veden mit drei oberen Klassen und einer unteren zufrieden gaben (plus einer ganzen Menge klassenloser Bevölkerung), entwickelte der frühe Hinduismus immer mehr Klassen. Gleichzeitig wurden die Trennungen zwischen den Klassen immer rigider. Späte vedische Texte erwähnen noch einen guten Anteil von Klassenwechsel durch Vorzüge, Verdienste und Heirat (insbesondere zwischen Brahmanen und Kriegern). Die frühe Hindu-Literatur hielt nichts von Derartigem. Wir beobachten eine Ausuferung der Klassenunterschiede. Dies kam durch die Einbeziehung weiterer Segmente der Gesellschaft, dem Bedürfnis nach einem Platz für neue Berufe und ethnische Gruppen in der Hackordnung usw. Bis zum heutigen Tag streiten die Gelehrten darüber, wieso das Klassensystem so übertrieben und repressiv wurde. Angeblich gab es zur Zeit von Manu (einem von ihnen – in jedem Weltzeitalter wurde ein Manu geboren) schon mehr als fünfzig Klassen. Das Klassensystem funktionierte, indem es jeder Person ihren Dharma und damit eine Aufgabe und Verpflichtung in der Welt gab. Es funktionierte auch deshalb, weil es allen Neuankömmlingen eine Nische in der Gesellschaft zuerkannte. Dies ist wichtig: Jeder neue Einfluss konnte integriert werden. In einer Packung mit Klassen und Dharma waren Karman, Reinkarnation und Reinheitsgebote.

 

Nun hängt der Status des Einzelnen in der Gesellschaft nicht nur von dem Varṇa (Farbe, soziale Klasse, Wesen, Art) ab, sondern auch von Jāti. Die Jāti ist ein für Nichtinder extrem schwieriges Konzept. Sie ist keine vedische Idee, sondern eine, die sich mit dem frühen Hinduismus zusammen entwickelte. Jāti beschreibt, grob gesagt, welchen speziellen Gruppen in der Gesellschaft eine Person angehört. Die Jāti kann Geburt, Herkunft, Verwandtschaft, Clan oder Familienverhältnis sein. Sie kann auch die Verbindung zu speziellen religiösen Gruppen sein, zu Provinzen, Land, Beruf, ethnischem Hintergrund usw. Dies sind die feinen Details, die den persönlichen Status spezifizieren, der durch den Varṇa gegeben ist. Jāti kann den Varṇa auch transzendieren. Leute mit einem hohen Einkommen können gut einen Status erlangen, der viel höher ist als ihr Varṇa. Brahmanen, obwohl theoretisch die Köpfe der Gesellschaft, haben oft ein minimales Einkommen und sind froh, einen Job als Lehrer, Buchhalter oder Koch zu bekommen. Krieger und Brahmanen sind oft von Geldverleihern abhängig, um ihren Platz in der Gesellschaft zu bewahren, und Kaufleute machen mitunter mehr Geld als beide zusammen. Ärzte wurden oft als unrein betrachtet, weil sie mit Ausscheidungen, Blut, Leichen und anderen schmutzigen Substanzen in Berührung kamen. Heutzutage hat sich ihr Status dank ihrer hohen Gehälter erstaunlich verbessert. Dazu kommt die weitverbreitete Vorliebe, die eigene Vergangenheit aufzubessern.

Es gibt in Indien jede Menge Leute niederer Klassen, die fest darauf beharren, dass sie ursprünglich von brahmanischer Abstammung waren, aber ihren Namen und Beruf ändern mussten, um einer Verfolgung zu entgehen. Das Ergebnis davon ist, dass viele Leute ihren Varṇa aufzubessern versuchen und nur wenige das glauben, was ihre Nachbarn über den ihrigen behaupten. Die hinduistische Gesellschaft, die heutzutage (inoffiziell) in mehr als 3.000 Klassen unterteilt ist, sieht theoretisch wie eine wohlgeordnete Hierarchie aus, aber die Dinge sind weniger rigide als es scheint. Dies macht die Heirat zu einer echt komplizierten Angelegenheit. In der Theorie sind alle Klassen dazu angehalten, untereinander zu heiraten oder, falls machbar, mit höher Stehenden. In der Praxis sind viele Überlegungen mit im Spiel, etwa um Besitz und Macht, und die Suche nach einem angemessenen Partner liefert Unterhaltung für den ganzen Clan. Nach Möglichkeit versuchen Familien, ihre Töchter in eine Klasse von höherem Status zu verheiraten, und üblicherweise verlangt die Familie des Bräutigams viel für diese Ehre. Wenn es viele Töchter gibt, dann können zu viele Hochzeiten die Familie ruinieren. Die Heirat von Männern in höhere Klassen wird mit Stirnrunzeln betrachtet und geschieht selten. Das macht es für eine Frau der oberen Klassen schwer, einen Partner zu finden. Zwischen den zahllosen Klassen kommt es nach wie vor zu Konflikten, die gerne gewaltsam ausgetragen werden. Obwohl die Klassendiskriminierung und überhaupt das Klassensystem von den Briten theoretisch abgeschafft wurden und von der modernen indischen Regierung nicht gern erwähnt werden, existieren beide weiter. Für die Fundamentalisten ist das ganz einfach: Die Existenz von Klassen zu verneinen bedeutet, die Struktur des Dharma in der menschlichen Welt zu verneinen. Hier hat sich in den letzten hundert Jahren viel getan. Zuerst haben die Briten das Klassensystem offiziell abgeschafft.

Als Indien unabhängig wurde, gab es intensive Bestrebungen, ein neues, demokratisches Denken einzuführen. Manche Angehörigen der untersten Schichten machten unter Gandhi erstaunliche Karrieren; ein ehemaliger Unberührbarer, Dr. Ambedkar, gehört zu den bedeutendsten Autoren der indischen Verfassung. Es wurde also, unter gebildeten Städtern, zunehmend politisch korrekt, die Klasse anderer zu ignorieren. Hieran waren auch viele Politiker interessiert, denn die Gunst der unteren Klassen brachte immens viele Wählerstimmen. Heute schlägt das Pendel wieder in die andere Richtung aus. Die indische Regierung hat Förderungsprogramme für die unteren Klassen verabschiedet, nach denen eine bestimmte Zahl an Studienplätzen und privilegierten Stellungen nur für diese reserviert sind. Entsprechend attraktiv wurde es für viele arme Inder, sich auf ihre niedrige Klassenzugehörigkeit zu besinnen und daraus Vorzüge zu gewinnen. So sehen wir im heutigen Indien im städtischen Leben sowohl hochgebildete und gut verdienende Unterklassen-Angehörige als auch Menschen, die ohne irgendwelche Schutzkleidung in der Kanalisation tauchen, um verstopfte Rohre frei zu kriegen. Auf dem Land sind die Konflikte oft ausgeprägter. Wer, denkst Du, wird dafür geschlagen, dass er Selbstachtung zeigt? Wer baut kostenlos Häuser und bestellt die Felder der Grundbesitzer? Auf dem Land verkaufen die Großgrundbesitzer oft die Stimmen der einfachen Leute an die meistbietenden Politiker. Jedes Jahr kommt es vor, das Klassenlose von sozial besser Gestellten gesteinigt werden. In den Städten schwächt sich dieser Trend deutlich ab, aber auf dem Land ist manches so schlimm wie eh und je. Gelegentlich werden Menschen nur dafür getötet, dass ihr Schatten einen Oberklassen-Fanatiker gestreift hat. Doch hier sollte auch auf die Informationssituation geachtet werden. Wenn eine Gruppe religiöser Fanatiker ein paar Menschen aus den unteren Klassen tötet, erscheint dies sofort in der Presse. Doch solche Fälle werden seltener. Im Großen und Ganzen ist es erstaunlich, wie viele Inder es trotz unterschiedlichster Religionen, Sprachen, Kulturen und Einkommensverhältnissen schaffen, friedlich mit einander zu leben. Gäbe es in Europa eine vergleichbare religiöse, ethnische und soziale Vielfalt, wären die Unruhen und Zwischenfälle deutlich häufiger. Ich erwähne diese Zustände nicht, um hier die indische Bevölkerung schlecht zu machen. Das wäre zutiefst unangemessen, denn in jedem Land und in jeder Kultur gibt es gute Menschen, die Respekt, Freundschaft und Anerkennung verdienen. Ich erwähne sie, weil ich viele Inder getroffen habe, die über die Zustände in ihrer Heimat entsetzt sind und für die es mehr als peinlich ist, wenn schlecht informierte New-Age-Freunde ihre Heimat als spirituelles Wunderland preisen.

Probleme mit der Reinheit

Jeder Mensch wird jeden Tag verunreinigt. Du musst nur aus der Tür hinaus treten, und die Reinheit Deiner Klasse ist bedroht. Es gibt Millionen von unreinen und verbotenen Sachen in der weiten Welt, und jeder Hindu hat viel zu tun, um sauber und rein zu bleiben. Ein tägliches Bad und eine Verehrungszeremonie sind die Grundlagen, um den spirituellen und gesellschaftlichen Status aufrechtzuerhalten. Der Umgang ist das Nächste: Selbst das Sprechen mit einem Niederen bedeutet Verunreinigung. Öffentliche Verkehrsmittel waren im frühen Hinduismus kein Thema, heute aber schon. Nur wenige Neuerungen haben die Klassentrennung je so sehr gefährdet wie eine Fahrt mit dem Zug oder Bus. Mit dem Essen ist es ganz besonders schwierig. Die hinduistische Theologie ist vom Essen so besessen, dass es nur von Menschen der gleichen oder einer höher stehenden Klasse angenommen werden kann. Jeder ist dazu angehalten, mit Leuten desselben Varṇa zu essen und zu trinken. Beim Reisen wird dies offensichtlich zum Problem. Um es mit den unvermeidlichen Verunreinigungen aufzunehmen, wurden kleinere Riten erfunden. Wenn man Essen von einem niedriger stehenden Händler kauft, muss man es durch ein Ritual oder durch den Kontakt mit heiligen Substanzen reinigen, wie den fünf Juwelen der Kuh. Vasiṣṭha 6, 27 stellt fest, dass ein Brahmane, der mit Essen im Bauch stirbt, das er von einem Śudra annahm, im nächsten Leben ein Schwein sein wird. Alles Studium des Veda und anderer Schriften hilft da kein bisschen. Arme Brahmanen werden oft Köche. Ihr Varṇa ist so hoch, dass jeder Essen von ihnen annehmen kann. Das Ergebnis all dessen ist ein erstaunlich komplexer Bestand an Ernährungsregeln. Man findet eine große Besessenheit von der Ernährung in vielen Upaniṣaden, und die Dinge wurden im Laufe der Jahrhunderte nicht einfacher.

Erinnere Dich hieran, wenn Du tantrische Texte liest. Wenn die Kulas und Kaulas erklären, dass es keine Ernährungsregeln gibt, dass Ritualessen von überall stammen kann, dass die Adepten essen können, was sie wollen und mit wem sie wollen, dann ist das ein enormer Bruch mit den gesellschaftlichen und religiösen Normen. Dasselbe gibt es bei manchen geheimen Ritualgruppen, bei denen, zumindest für die Dauer des Zusammenseins, die gesellschaftlichen Klassen abgeschafft sind. Dass Kula- und Kaula-Rituale die Verehrung mit und von Frauen beinhalten, ist ein weiterer Bruch mit der vedischen Tradition. Eine Frau aus einer niederen Klasse als Göttin zu verehren oder mit ihr zu schlafen, ist für Traditionalisten undenkbar. Noch schlimmer ist es, wenn unreine Substanzen wie Körperausscheidungen geschätzt und eingenommen werden. Ausländern mögen solche Handlungen nicht viel bedeuten, aber für strenggläubige Traditionalisten bedeuten sie Anarchie und Ketzerei. Solche Taten bedrohen die gesellschaftliche Stabilität – ein Grund mehr, weshalb bestimmte tantrische Kulte nicht beliebt sind.

Die spirituelle Reinheit wird auch bedroht durch den Kontakt mit toten Menschen oder Tieren, mit Häuten, Exkrementen, Körperausscheidungen und einem weiten Bereich von unglücklichen Menschen. Verunreinigend sind Verbrecher, Mörder, klassenloses Volk, uneheliche Kinder und Frauen, besonders, wenn sie nackt sind. Manche frühen Texte empfehlen, dass sich Männer durch Amulette schützen sollten, wenn sie sich Frauen nähern, und an manchen Tagen (und in vielen Nächten) sollten sie sich Frauen überhaupt nicht nähern. Die Menstruation ist eine solche Zeit; Einzelheiten darüber gibt es später. Schwangerschaft ist eine weitere gefährliche Zeit, Geburt ist schlimm, und Hochzeiten und Todesfälle in der Familie verlangen nach speziellen Ritualen und Reinigungen. Die Vielfalt der Reinigungsriten ist erdrückend. Es gibt einfache Riten zur Reinigung von Speisen durch 108- bis 1008malige Wiederholung des Gāyatrī-Mantra; ernsthaftere Verunreinigungen können Wochen ritueller Bäder, Gebete, Opfer, Geschenke an Brahmanen, Kasteiungen, Fasten und das Tun guter Taten erfordern. Manche Sünden wie die, über den Ozean zu reisen, Indien zu verlassen, ein Kind von einer Śudra-Frau zu haben, Mord oder das Bestehlen eines Brahmanen waren so bedrohlich, dass ein Hindu dafür seine Klasse verlor und sie nur mit großen Kosten und Anstrengungen wiedererlangen konnte.

 

Indische Soldaten, die von den Engländern außerhalb Indiens eingesetzt worden wurden, hatten eine höllische Zeit, als sie zu ihren Verwandten zurückkehrten, da diese sich weigerten, mit ihnen zu sprechen. Neben der Reinheit diktierte der Dharma die Rolle eines jeden im Leben. Die frühen Hindus glaubten, dass das Leben in Stationen angeordnet sein sollte und dass jeder Mann im Leben verschiedene Funktionen erfüllen sollte. Dies begann mit dem Alter der Initiation (bei jeder Klasse unterschiedlich) und setzte sich mit der Reife fort. Theoretisch sollte jeder Mann der oberen Klassen drei Verpflichtungen erfüllen: Die Götter verlangen Opfer, die Ahnen verlangen Söhne, und die Priesterschaft verlangt das Studium der Veden. Diejenigen, die ihre Pflichten nicht erfüllten, erwartet eine lange Zeit in der Hölle, gefolgt von einigen bösen Reinkarnationen als Tier. Teil dieser Verpflichtungen war die Idee, dass das Leben mit dem Rückzug aus der Gesellschaft enden sollte. Dies nahm verschiedene Formen an. In manchen Fällen verließen ältere Hausherren ihre Familien und Clans und wurden zu Pilgern oder Eremiten. In anderen Fällen verließ das betagte Paar die Familie und begann, in einer einfachen Hütte in einem abgeschiedenen Wald zu leben, wo sie ihr Leben der extremen Askese und Heiligkeit widmeten. Das wurde als eine gute Art betrachtet, um schließlich durch Verhungern zu sterben. Es galt als perfekter Weg zum Heil, denn nach dem Tod war einem die Erlösung gewiss. Wieder andere hielten es für Zeitverschwendung, die Heiligkeit bis zum Lebensende zu verschieben und erklärten, je früher man zum Einsiedler werde, desto besser. Hier haben wir denselben alten Konflikt wie in den frühen Upaniṣaden: Sollten sich die Menschen um ihre Haushalte kümmern oder direkt zu Aussteigern werden?