Der Kessel der Götter

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Die Erforschung von Gournay

Sehen wir uns zunächst einmal Gournaysur-Aronde in Nordfrankreich an, wo die Bellovaker ihr Oppidum hatten. Wir werden uns diesen Ort sehr genau anschauen, unter Einbeziehung der umfangreichen Forschungsergebnisse von Brunaux, da es sich um faszinierendes Beweismaterial für die sich wandelnden Trends in den gallischen Religionen handelt. Außerdem kann es als Traumschlüssel zur Religion der La Tène-Zeit dienen, für Leser, die gern etwas Praktisches unternehmen (ich hoffe, Du fühlst Dich angesprochen!) Die Anlage von Gournay hat einen nahezu quadratischen Grundriss von 45 x 38 m, mit einem Eingang im Nordosten, wo die Sonne über einem Fluss und sumpfigen Marschen aufgeht. In Gournay wurde bereits im frühen 4. Jahrhundert vor unserer Zeit gebaut, allerdings handelte es sich dabei nicht um die Schanze, sondern um die Aushebung einer 2 x 2 m großen, quadratischen Grube. Entlang der Ränder dieser Grube wurden ungefähr 20 irdene Gefäße verschiedener Größe aufgestellt; die Mitte blieb frei. Die Gefäße enthielten vielleicht Speise- und Trankopfer. Die Grube blieb eine Zeit lang offen. Dann wurde sie mit Erde zugeschüttet und ein kleiner Hügel mit einem Durchmesser von ca. 10 m über ihr errichtet. Zu dieser Zeit wurde mit dem Bau der Tempelanlage begonnen, die in etwa östlich des Hügels angelegt wurde. Anfangs war die Anlage eine bescheidene Angelegenheit. Stell Dir eine freie Fläche vor, umgeben von einem 2 m tiefen und breiten Graben. Das ist Phase 1 des Heiligtums (s. Illustration) – eine quadratische, offene Fläche, umgeben von einem Graben und einer Aufschüttung innerhalb des Grabens.

Mehrere lange Pfähle wurden innerhalb dieses Platzes aufgestellt, und der hauptsächliche rituelle Fokus war eine tiefe, runde Grube, etwas westlich des Zentrums.

Es gibt keine Anhaltspunkte für Gebäude, Trophäen oder Opferhandlungen in dieser Periode, und was innerhalb dieser Umfriedung vor sich ging, weiß keiner. Es könnte sich um Feste, Versammlungen, gemeinsame Gottesdienste, Rituale oder Volkstänze gehandelt haben – man weiß es nicht. Was immer es war, es hat keine Spuren hinterlassen. In der zweiten Phase, zwischen dem vierten und dem dritten Jahrhundert vor unserer Zeit, wurde der Graben mit Holzplanken verkleidet und von einer hohen Holzpalisade umgeben, um die Grenzen zwischen außen und innen stärker zu betonen. Vielleicht wurden die Riten weniger öffentlich, oder es gab ein stärkeres Bedürfnis, den sakralen Bereich von seiner Umgebung zu trennen. Die Palisade sah zwar ein bisschen wie eine Verteidigungsanlage aus, stellte aber eher eine symbolische Grenze dar. Die Priesterschaft von Gournay vermaß den Platz sorgfältig und umgab die zentrale Grube mit einem Ring von neun kleineren Gruben. Es sagt einiges aus, dass alle diese kleineren Gruben exakt die gleiche Distanz zum Zentrum hatten (soviel zur Präzision), dabei aber etwas unregelmässig geformt waren, was einen allgemeinen Eindruck von Symmetrie macht, ohne dass die Erbauer davon besessen gewesen wären. Eine weitere Neuerung dieser Phase war eine geheimnisvolle Grube außerhalb des Eingangs. Phase 3, zwischen dem dritten und dem zweiten Jahrhundert vor unserer Zeit, zeigt weitere Veränderungen. Die neun kleinen Gruben um die große, zentrale Grube wurden zugeschüttet. Dafür erscheint ein primitives Gebäude über der zentralen Grube – ein paar Holzpfeiler, die ein Dach tragen. Das „Gebäude” hatte keine Wände – vielleicht war sein einziger Zweck, Regen von der Grube fernzuhalten. Der Grundriss des Bauwerks ist rund. Zu dieser Zeit verschwinden die meisten anderen Pfeiler von der Viereckschanze. Wir sind auch Zeugen der Aushebung eines weiteren Grabens, der die Schanze außerhalb der Palisade umgab.


Grobe Skizze der Entwicklung von Gournay-sur-Aronde

Departement Oise, Nordfrankreich, nach Brunaux.

In Phase 4, im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeit, wird das runde Gebäude durch ein rechteckiges ersetzt. Das neue hat Wände aus Flechtwerk an drei Seiten, aber Eingangsseite blieb völlig offen. In dieser Phase stehen mehrere hohe Pfeiler innerhalb der Schanze. Der Eingang wurde leicht nach Norden verschoben und liegt daher auf einer Linie in Richtung des rechteckigen Gebäudes. Ein Ergebnis davon war, dass das Licht der aufgehenden Mittsommersonne durch das Tor fallen und das Gebäude und seine Sakralgrube erleuchten konnte. Der innere Graben wird erweitert, um mehr Trophäen aufnehmen zu können. Der äußere Graben umgibt die gesamte Schanze, man betritt sie aller Wahrscheinlichkeit nach über eine kurze Holzbrücke. Am Eingang können wir uns ein hoch aufragendes, auf sechs Säulen ruhendes Portal vorstellen, einen massiven, eindrucksvollen Bau, wo eine Ansammlung von Trophäen und Menschenschädeln ausgestellt wurde. Es sind die einzigen Menschenschädel, die man in Gournay gefunden hat. In der Nähe fand man Schädel von Stieren und Kühen, zweifellos ein wesentlicher Teil der Dekoration. In dieser Periode wurden die meisten Opfer dargebracht.

Nun zu einer Rekonstruktion der blutigen Details. Zu bestimmten Anlässen wurde ein älterer Stier oder eine Kuh in die Schanze geführt und an einen der Pfähle in der Nähe der Grube gebunden. Im Verlauf einer unbekannten Zeremonie wurde das Tier mit einem Axthieb, Schwerthieb oder Speerstoß getötet (all diese Methoden konnten nachgewiesen werden) und intakt in die Grube geworfen. Dann überließ man es sechs bis acht Monate der Verwesung. Anschließend wurden die Knochen eingesammelt und die Grube gesäubert. Der Schädel wurde sorgfältig abgetrennt und in die Nähe des Eingangs gelegt; die restlichen Knochen wurden in den Graben geworfen. Der innere Graben enthielt die Knochen von etwa 40 Stieren und Kühen.

Man könnte sich darüber Gedanken machen, ob der massive Stier am Boden des Gundestrup-Kessels vielleicht ein geschlachtetes Rind in der Opfergrube darstellt (s. Illustration). Der Kessel und die Opfergrube haben eine Menge gemein – beide sind Fokus eines Rituals, Gefäße, die die Opfergabe empfangen, bewahren und transformieren, Tore in die Tiefe, Eingänge zur Welt unter der Oberfläche.

Stiere und Kühe waren nicht die einzigen Tiere, die geschlachtet wurden. Es gibt auch Hinweise auf die Opferung von Haustieren (Schweine, Schafe und Hunde). Auf welche Weise sie geopfert wurden, unterlag mehrmaligem Wandel. Im dritten bis zweiten Jahrhundert vor unserer Zeit wurden Vieh und Schweine getötet, aber nicht zerlegt oder gegessen. Im zweiten bis ersten Jahrhundert vor unserer Zeit tauchen sie bei Opfermählern auf, wie auch Schafe und Hunde. Pferde wurden in allen gallischen Tempeln geopfert, sie waren aber nie Teil des Opferfestmahls. Das ist erstaunlich, da Haffner (1995) darauf hinweist, dass Pferde durchaus auf dem alltäglichen Speiseplan standen. Die Opfertiere wurden in den inneren Graben geworfen, aber nicht achtlos, sondern nach einem regelmäßigen und symmetrischen Muster (s. Illustration).

Die inneren Gräben von Gournay enthielten sehr viel mehr als nur Teile von Tierkörpern. Im frühen dritten Jahrhundert vor unserer Zeit fing die Priesterschaft von Gournay an, Trophäen zu sammeln. Eine überraschende Anzahl an Waffen, Rüstungsteilen und Schilden wurde gefunden, alles in allem etwa 3000 Waffen und mindestens 300 komplette Rüstungen. Die meisten von ihnen wurden jahrelang offen zur Schau gestellt. Dann, zu irgendeiner wichtigen Gelegenheit, wurden sie rituell zerstört: Verbogen, zerbrochen, zerschmettert und in die Gräben geworfen. Eine Auswahl an Waffen scheint auf einer Plattform über dem Tor zur Schau gestellt worden zu sein. Dieses rituelle Verhalten (Zurschaustellung gefolgt von ritueller Zerstörung) wurde in mehreren gallischen Heiligtümern nachgewiesen. Es mag sich dabei um ein wichtiges Element in der Denkweise der La Tène-Zeit gehandelt haben; eine ähnliche Idee liegt zugrunde, wenn ein unbezahlbar wertvolles Schwert verbogen oder zerbrochen wurde, bevor man es der Gottheit eines Flusses, Sees oder Sumpfes überantwortete. Vielleicht kann hier eine Äußerung von Polybios Aufschluss geben, der nach einer wichtigen Schlacht bemerkte, die siegreichen Gallier hatten die gesamte eingesammelte Beute zerstört – die Waffen ihrer Gegner und sogar einige ihrer eigenen Waffen. Für Polybios sah das so aus, als hätte sich eine Horde betrunkener Barbaren einfach einem Anfall hirnloser Zerstörungswut hingegeben. Aber ob sie nun betrunken waren oder nicht, das Ereignis kann sehr wohl einen religiösen Hintergrund gehabt haben. Abgesehen davon enthielten die Gräben die Knochen von etwa einem Dutzend erwachsener Menschen beiderlei Geschlechts, deren Glieder mit einem Messer abgeschnitten worden waren (zu welchem Zweck?), außerdem sechs (oder mehr) Schädel, die alle sorgfältig vorbereitet waren, indem man das Gehirn herausgenommen hatte und die oberhalb des massiven Portals Platz gefunden zu haben schienen.

Die Inhalte des innersten Grabens von Gournay

nach Brunaux, 1986

Es könnte sich lohnen, auf eine Phantasiereise zu gehen, um die von den Leuten von Gournay favorisierte Kosmologie kennenzulernen. Was Gournay angeht, sind unsere Rekonstruktionen hypothetisch und beschränken sich auf eine bestimmte Zeitspanne. Der Eingang lag ursprünglich im Ost-Nordosten, nicht auf einer Linie mit der Opfergrube oder dem ersten Gebäude. Im allgemeinen kann man im Osten die Richtung sehen, wo alle Himmelskörper - die Sonne, der Mond und die Sterne - aus der Unterwelt aufsteigen. Das Gegengewicht ist der Westen, wo sie alle in der Tiefe verschwinden, und damit in die Unterwelt. Die Schanze selbst enthielt nichts Ungewöhnliches, aber westlich der Grube befand sich der verborgene Bereich, direkt hinter dem rechteckigen Tempel. Und darüber hinaus gab es außerhalb der Schanze, westlich davon, den Hügel, der die Gefässe mit den Opfergaben enthielt, die alle in einer quadratischen Grube lagen und den Bewohnern der Unterwelt übergeben worden waren. Wir wissen nicht, ob die Priesterschaft des zweiten Jahrhunderts vor unserer Zeit wusste, was sich in dem vor zweihundert Jahren erbauten Hügel befand. Vielleicht hielten sie ihn für ein Grab aus früherer Zeit. Das wäre nicht ungewöhnlich; so manche Tempelanlage in Gallien oder Germanien lag in der Nähe älterer Grabhügel. Um Gournay zu betreten, musste man nach Westen gehen (d. h. in die Richtung des Verschwindens, des Todes und der Unterwelt), während man nach Osten ging, um die Schanze zu verlassen, in die Richtung der Geburt und des Wiederauftauchens. Im Süden der Schanze befand sich eine freie Fläche, die, wie Experten spekulieren, bei zeremoniellen Festmählern benutzt wurde.

 

Solche Aktivitäten waren wichtige Rituale im zweiten und ersten Jahrhundert vor unserer Zeit. Ich frage mich, wie sie an einem solchen Ort einen gesunden Appetit entwickeln konnten. Außerhalb der Anlage und etwa 100 m südlich davon befand sich eine Befestigung, die während der frühen und späten La Tène-Zeit bewohnt war; man könnte überlegen, ob der Süden Versammlungen, Siedlungen oder menschliche Aktivitäten ganz allgemein symbolisierte. Was den Norden angeht, so enthält der nördliche Abschnitt der Anlage ein Rätsel. In dem fetten Lehmboden wurden Spuren von Ästen und Holzstücke entdeckt. Sie waren dort nicht einfach achtlos verstreut, sondern ebenfalls sorgfältig gesammelt und in besonderen Gruben begraben worden. Eine Hypothese bezüglich dieser Funde ist, dass sich vielleicht eine Koppel im Nordabschnitt befand, wo die Opfertiere vor dem Schlachten gehalten wurden. Das würde das Vorhandensein von Ästen erklären, aber nicht, weshalb die Äste so sorgfältig gesammelt und vergraben wurden. Eine andere Theorie, die ich überzeugender finde, ist, dass sich im Norden eine Gruppe heiliger Bäume befand, vielleicht ein winziger „Hain”, der jene heiligen Haine symbolisierte, die so oft mit keltisch-germanischen Riten in Verbindung gebracht werden. Wenn wir an heilige Bäume denken, können wir uns vorstellen, dass herabfallende Äste und Zweige nicht achtlos behandelt wurden wie Abfall, sondern sorgfältig vergraben wurden. Die Assoziation zwischen Bäumen und hoch aufragenden Pfählen im Norden ergibt ebenfalls einen Sinn, da der Norden üblicherweise mit dem Weltenbaum oder dem Himmelspfeiler in Verbindung gebracht wurde, eine Vorstellung, die in der eurasischen Kosmologie sehr verbreitet war.

Das ist natürlich nicht alles, was Gournay ausmachte, da der heilige Bezirk über Jahrhunderte hinweg kontinuierlich umgebaut und immer wieder neu gestaltet wurde und wesentliche Veränderungen der Religionsausübung mitgemacht hat. Genausowenig, wie wir wissen können, welche Glaubensinhalte die Priester von Gournay pflegten, können wir wissen, wer diese Priester eigentlich waren. Es mag in der späten La Tène-Zeit Druiden in Gournay gegeben haben, aber was die früheren Ritualisten angeht, kann man das nur herausfinden, indem man auf Zeitreise geht, und vorübergehend vorgefertigte Vorstellungen außer Acht lässt. Wenn Du gut in Trancereisen bist und Dich von der einen oder anderen Leiche nicht abschrecken lässt, dann begib Dich in das Zwischenreich der Tempelanlage, erfahre ihre Mysterien und lerne die verborgenen Bedeutungen zu verstehen, die sie für Dich bereithält. Du wirst dabei keine Fakten im historischen Sinn erfahren, aber Du könntest eine subjektive, magisch gültige Einweihung erleben.

Unter die Oberfläche zu gehen kann ich nur Praktikern empfehlen, die eine Menge Erfahrung im Umgang mit halb vergessenen Gottheiten haben, und außerdem die Weisheit, sich mit dem auseinanderzusetzen, was erwacht, sowie das Taktgefühl, das ruhen zu lassen, was in Ruhe gelassen werden will. Du könntest die Himmelsrichtungen Gournays und ihre Bedeutung den sechs Seiten eines Würfels zuordnen und ein darauf beruhendes neues System der Wahrsagung erfinden. Wenn vier Augen für die Erde stehen, drei für den Himmel und sechs für das Tor, könntest Du sogar ein numerologisches System entwickeln. Kein altkeltisches, sondern ein neues, das offen ist für neue Interpretationen. Versuche, jede Richtung durch ein paar Substantive, Adjektive und Verben zu definieren. Im Verlauf dieses Prozesses wird die ganze Kosmologie in Deinem Geist sehr viel lebendiger werden. Es handelt sich nicht um einen Akt der Rekonstruktion, sondern der kreativen Re-Interpretation. In diesem Sinn war Gournay nicht nur ein Brennpunkt für viele religiöse Weltanschauungen, er könnte es wieder werden, wenn auch in einer neuen Form, die Deiner Zeit und ihren Überzeugungen angemessen ist.

Das Ende der streng genommen rein gallischen Periode kam 125 vor unserer Zeit, als die sakrale Schanze aus unbekannten Gründen systematisch abgebaut wurde. Die Opfergrube und die Gräben wurden aufgefüllt, die Palisade und die Gebäude wurden niedergebrannt, und der ganze Ort wurde sorgfältig gereinigt. Dann folgte eine Zeit der Inaktivität. Während des ersten Jahrhunderts unserer Zeit und unter römischer Herrschaft wurde ein neues Tempelgebäude genau an dem Ort errichtet, wo sich früher die Opfergrube befunden hatte (Phase 5). Statt einer Grube enthielt der „Tempel” einen Ort für Brandopfer. Um das Jahr 100 herum wurde der Ort erneut zerstört, im folgenden Jahrhundert aber wieder aufgebaut (Phase 6). Er diente bis ins 4. Jahrhundert hinein als gallorömischer Tempel, was zeigt, dass sich zwar Riten und Religion änderten, die heiligen Orte aber die gleichen blieben.

Ein Trophäenhort

Die Dinge werden noch extremer, wenn wir einen kurzen Blick auf die sakrale Anlage von Ribemont-sur-Ancre werfen, etwa 50 km nördlich von Gournay. Mitte der 90´er Jahre war nur ein Drittel von Ribemont freigelegt, aber was man dann fand, macht diesen Ort zu einem der wertvollsten und makabersten Kultplätze, die je gefunden wurden. Anders als Gournay ist Ribemont nicht sehr typisch für gallische Kultanlagen. Manche Experten halten sie nicht einmal für einen Tempel, sondern eine Art Kriegerdenkmal, mit dem eine Anzahl von Siegen des späten 3. Jahrhunderts vor unserer Zeit gefeiert wurde. Da Ribemont eine komplexe Geschichte hat und bis in die Zeiten der römischen Besatzung hinein in Gebrauch war, möchte ich mir nicht die Mühe machen, all seine Entwicklungsschritte aufzuzählen. Es genügt zu sagen, dass die Viereckschanze von Ribemont von einer Palisade umgeben war, die 3 m hoch aufragte und dass die offenen Gräben, die für Gournay so charakteristisch waren, hier fehlen. Allerdings ist Ribemont vielleicht der einzige Kultplatz, wo sich Teile der heiligen Gebäude außerhalb der Schanze befanden. Zwei dieser Gebäude wurden bisher erforscht. Eins ist das Portal über dem Eingang, wo die einzigen Schädel des Ortes aufbewahrt wurden. Das andere ist ein hohes Gebäude außerhalb der Umfriedung. Es scheint sich um eine überdachte Plattform gehandelt zu haben, die in einiger Höhe errichtet worden war, wo eine große Anzahl unheimlicher Trophäen aufbewahrt wurde. Und von hier an wird es extrem kompliziert.

Ich kann leider nicht die gesamten Hintergründe aufzählen, die zu den genannten Schlussfolgerungen führen; daher hoffe ich, dass der interessierte Leser sich die Mühe machen wird, etwas zu dem Thema nachzulesen (s. Brunaux, 1995). Wo das Gebäude stand, haben die Archäologen mehr als 10.000 Menschenknochen und mehrere hundert Waffen auf einer Fläche von nur 60 Quadratmetern entdeckt. Diese Gegenstände waren nicht achtlos verstreut. Die meisten Knochen befanden sich an ihrem anatomisch richtigen Ort, die Schwerter steckten in Scheiden, die Scheiden waren an Gürteln befestigt, und so weiter. Allerdings hatte man sich definitiv an den Leichen zu schaffen gemacht. So hatte zum Beispiel keine von ihnen einen Kopf. Und, was noch seltsamer war, jeder Körper war an der Taille durchgeschnitten worden. Die Priesterschaft von Ribemont hatte die Leichen sorgfältig so aufgestellt, dass jeder Oberkörper auf einem anderen Unterkörper als dem seinen ruhte! Es ergibt sich ein reichlich seltsames Bild. Wir haben hier diese mehrere Meter hohe Plattform am äußersten Ende der Schanze, direkt an der Wand. Auf ihr befindet sich eine Anzahl verstümmelter Leichen, die auf sehr wenig Raum aufrecht stehen oder sitzen. Sie tragen Waffen, Schilde und Rüstungen, aber sie haben keine Köpfe, und ihre Körper bestehen aus zwei verschiedenen Kadaverteilen. Die Leichen verwesen, aber da sie sich hoch über dem Boden befinden, wo sie dem Luftzug ausgesetzt sind und das Dach sie vor Nässe schützt, fallen sie nicht völlig auseinander. Die Muskeln und die Weichteile verwesen, aber Sehnen und Haut mumifizieren. Während dieses Prozesses scheinen sich die Gliedmaßen auf groteske und unnatürliche Weise zu bewegen. Als aufgrund eines unbekannten Ereignisses die Plattform zusammenbrach (oder zum Einsturz gebracht wurde), fielen die mumifizierten Leichen mehrere Meter in die Tiefe, verblieben aber größtenteils in ihrem ursprünglichen Zustand. Das Ganze erinnert an eine Bemerkung Diodors, der behauptete, dass der Sieger nach dem Kampf seinem gefallenen Gegner den Kopf abschnitt und ihn an die Zügel seines Pferdes hängte. Während er heimritt, um seine blutigen Trophäen über die Tür seines Hauses zu hängen, sammelten die Diener den Rest der Leiche und die Waffen ein. Könnte es sein, dass diese Teile in derartige Tempel wanderten?

Ribemont hat aber noch mehr zu bieten als das. Auch um die Palisade herum fand man menschliche Knochen. Wieder finden wir kopflose Körper vor, die aus verschiedenen Ober- und Unterkörpern zusammengesetzt waren, und wiederum waren diese Körper vollständig mit Waffen und Rüstungen ausgestattet. Ihrem Zustand nach zu urteilen ist es wahrscheinlich, dass diese morbiden Dekorationen aufrecht an der Wand lehnten und über Jahre hinweg friedlich vor sich hin verwesten. Innerhalb der Anlage und nahe bei ihren Ecken kommt es noch knochiger. Hier finden wir winzige, offene Einfriedungen, die wie Quadrate aussehen, mit einer Seitenlänge von 2 m. Die kleinen Wälle waren komplett aus Langknochen erbaut worden, die man sorgfältig aufeinander gestapelt hatte. Etwa 2000 von ihnen (von etwa 600 Leuten) wanderten in das Nordgebäude. Die meisten von ihnen stammten von Menschen und einige auch von etwa zwei Dutzend Pferden. Daraus wurde ein kleiner Wall erbaut, der etwa 70–100 cm hoch war. Wahrscheinlich hatten diese frühen „Knochenhäuser” kein Dach. Die Knochenwände umgrenzten einfach einen kleinen, heiligen Ort, wo unbekannte Riten durchgeführt wurden. Innen war der Boden mit menschlichen Beckenknochen gepflastert. Im Zentrum befand sich eine kleine Grube von nur 25 cm Durchmesser, aber fast einen Meter tief, gefüllt mit den zermalmten, verbrannten Überresten von hunderten menschlicher Langknochen. Das Knochenhaus im Südosten enthielt ebenfalls eine Anzahl menschlicher Langknochen. Außerdem wurden Fragmente von Knochen gefunden, die verdächtig danach aussahen, als sei das Mark extrahiert worden. Kannibalismus? Oder vielleicht nur Reinigung? Denk mal darüber nach. Erwäge alle Möglichkeiten. Da die Knochen vorher bereits eine Zeit lang der Verwesung ausgesetzt waren, bevor man sie zerbrochen hatte, ist es wahrscheinlich, dass das Mark nicht mehr essbar war. Alles in allem haben die Ausgrabungen von Ribemont bisher mehr als 15,000 menschliche Knochen zu Tage gefördert. Mehrere tausend Metallobjekte kamen zum Vorschein, unter ihnen etwa 500 Lanzenspitzen. Die Ausgrabungen sind noch nicht beendet. Vielleicht erwarten uns noch viele Überraschungen. Das Ausstellen der Trophäen, Leichen und Knochen fand zu Beginn des ersten Jahrhunderts vor unserer Zeit ein Ende. Ab diesem Zeitpunkt wurde Religion in Ribemont zu einer eher symbolischen, weniger nekrophilen Angelegenheit. Der Glaubenswandel muss gründlich gewesen sein, denn als die Römer kamen, um das Land zu besetzen, fanden sie nichts vor, gegen das sie etwas einzuwenden gehabt hätten (außer den Druiden). Eine große Siedlung entstand um den Komplex herum, der Tempel wurde wieder aufgebaut, und alles war bis ins dritte Jahrhundert hinein voll funktionsfähig.

Abschliessend könnte man sagen, dass die gallischen Tempel, speziell in Nordfrankreich, sich intensiv dem Sammeln und Verehren morbider Trophäen verschrieben hatten. Natürlich wäre es leicht, die vielen Menschenknochen als Beweis für Menschenopfer zu interpretieren. Das könnte sein, muss aber nicht notwendigerweise so gewesen sein. Die Krieger von Ribemont waren vielleicht Opfer, vielleicht wurden aber auch würdige Feinde ausgestellt, die auf dem Schlachtfeld gestorben waren, oder es handelte sich um eine Massenexekution von Kriegsgefangenen oder sogar eine Anzahl stammeseigener Krieger, denen die Ehre zuteil wurde, den Tempel beschützen zu dürfen. Wer weiß schon, ob die verbrannten Knochen in den Gruben Freund oder Feind gehörten? Wer weiß, ob es ein Privileg oder eine Beleidigung für die Toten war, wenn aus ihren Knochen Wälle gebaut wurden? Wessen Knochen bildeten den Boden des Knochenhauses, und wessen Knochen wurden zerschlagen und verbrannt? Sei es, wie es sei, ich möchte darauf hinweisen, dass, ganz egal, wer in diesen Tempeln endete, sie mit Sicherheit Orte des schieren Verfalls waren. Es ist eine Sache, Knochen zur Schau zu stellen; tatsächlich tun das viele Völker überall auf dem Erdball. Die Frage ist nur, wie sie eigentlich das Fleisch entfernen. Die Leiche zu kochen ist eine viel sauberere Sache, als sie einfach verrotten zu lassen. Wenn ein Stier in der Grube von Gournay verweste, muss das ein ziemlich übler Anblick gewesen sein. Kannst Du Dir den Gestank vorstellen, die sich windenden Maden, kannst Du das Summen einer Million von Aasfliegen hören? All das hatte offensichtlich seinen Platz in der Welt der gallischen Religion der La Tène-Zeit. Diese Menschen, ganz egal, ob wir glauben, dass sie Druiden oder eine unbekannte Priesterschaft waren, machten aus ihren heiligen Orten Tempel der Verwesung und des Verfalls. Was ist heilig an der Verwesung? Kannst Du Dir ein totes Tier am Straßenrand ansehen und seine ästhetischen Aspekte schätzen, wie Baudelaire es tat? Es ist nicht einfach ein Totenkult, es ist ein Kult der Verwesung. Ich würde allerdings dafür eintreten, dass das nicht zwangsläufig bedeutet, dass die gallischen Priester morbid oder vom Tod besessen waren.

 

Für den modernen Menschen ist der Anblick einer Leiche etwas Schreckliches, aber das liegt daran, dass die westlichen Kulturen offenbar große Angst vor dem Tod in allen seinen Erscheinungsformen haben und daher versuchen, ihn aus dem Alltagsleben zu verbannen. Darf ich fragen, wie viele meiner Leser jemals einen Menschen haben sterben sehen? Und wie viele von denen, die Fleisch essen, haben jemals versucht, ein Tier zu töten? Ja, es ist einfacher, einem anderen die Schmutzarbeit zu überlassen. Ich frage mich, ob das eine gesunde Einstellung ist. Die Kelten waren näher am Sterben dran; jedes Kind war daran gewöhnt, zu sehen, wie Tiere geschlachtet wurden, nicht zu reden von den Dingen, die geschahen, wenn Verbrecher hingerichtet wurden oder wenn im Frühling wieder Krieg, Viehraub und nächtliche Angriffe zur Begleichung alter Schulden angesagt waren. Wenn Du ein verwesendes Tier betrachtest, wird es Dir vermutlich schwer fallen, zu akzeptieren, dass Tod und Verfall eine eigene Ästhetik haben. Viele Buddhisten und einige obskure tantrische Sekten meditieren angesichts verwesender Leichen oder besuchen Orte des Todes und Gräber, um sich an solche Erfahrungen zu gewöhnen. Es kann gut sein, dass die Priesterschaft solche Orte des Schreckens benutzte, um ihre eigenen Ängste und Befürchtungen zu besiegen und ein reifes Verständnis für die Tatsache zu entwickeln, dass Materie immer irgendwann zerfällt. Vor diesem Hintergrund könnte ein Tempel des Gestanks und der Verwesung genau der richtige Ort sein, um Ängste und Sorgen zu überwinden. Die Ästhetik des Grauens kann einen kathartischen Effekt haben, der zur Gewöhnung und schliesslich zum Seelenfrieden führt.

Anstatt nun zu Schlussfolgerungen zu kommen, möchte ich Dich bitten, diese Gelegenheit zu nutzen. Schließe die Augen, lass in Deiner Phantasie eine Tempelanlage entstehen und erforsche sie. Kannst Du die mumifizierten Leichen der Krieger oder den Stier in seiner Grube verwesen sehen, ohne dass Dich dieser ungewöhnliche Anblick emotional durcheinander bringt?