Babel

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Sobald die Frau auftauchte, schwoll die Panik an. Alice wusste, was passieren würde. Sie wollte ihren Vater warnen, aber die Angst ließ sie gefrieren. Sie konnte sie alle retten. Sie brauchte nur ihre Hand auf seinen Arm zu legen, mehr nicht. Aber sie war erstarrt. Gelähmt. Sie wollte schreien, aber ihre Kiefer klemmten.

Sie sah, wie die Frau mit dem Kind in den Armen auf das Auto zukam, wie ihr Vater das Fenster hinunterließ und wie Großvater eine Warnung schrie. Ihr blieb genügend Zeit, alle noch ein letztes Mal anzusehen – die erstaunten Gesichter ihrer Mutter und Großmutter, als sich der Mantel der Frau öffnete. Danach weckte der Lärm der Explosion sie auf, so wie fast jeden Tag.

Meistens war sie erleichtert, wenn sie die vertraute Umgebung wiedererkannte. Aber heute fühlte sich das Zimmer fremd an. Bestimmt kam es daher, weil ihre Routine durcheinandergebracht war. An anderen Tagen blieb ihr morgens kaum Zeit, den letzten Zipfel ihres Croissants hinunterzuwürgen, bevor Betty und Anika bereitstanden, um sie zu waschen, schnellschnell, denn jeden Augenblick konnte die alte Frau Holtby mit einer neuen Ladung Unterrichtsstoff ins Zimmer treten, noch bevor Bert und Leonard sie für ihre Übungen holen kamen.

Aber Frau Holtby war krank. Das hatte sie gestern von einer überarbeiteten Anika vernommen, die nicht wusste, wo ihr der Kopf stand, nachdem die Grippe jetzt auch Betty und den Großteil des A-Personals niedergestreckt hatte. Keinen Unterricht? Das musste sie ausnutzen. Sie würde den ganzen Morgen im Bett bleiben.

Ihr Blick folgte einem dünnen Sonnenstrahl, der durch die Vorhänge gedrungen war und jetzt über das Parkett kroch; ein goldener Finger aus Licht und tanzendem Staub.

Die Routine, die sie wie eine eiserne Lunge umschloss, war das Werk ihres Großvaters. Er wollte vermeiden, dass sie in düstere Gedanken verfiel. Als ob die sich zurückhalten ließen. Sie war gefangen in ihrem Körper, einem Klumpen Fleisch, der von anderen gewaschen und angekleidet werden musste.

Alle taten so, als ob sie noch eine Zukunft hätte. Holtby bereitete sie auf die Universität vor. Dachten sie denn wirklich, sie käme mitsamt ihrem Bett in den Hörsaal gefahren? Auf beiden Füßen oder gar nicht, Großvater!

Ja, ihren Großvater, den hatte sie noch. Sein Geld und seine Liebe hielten sie am Leben – und seine Trauer, die auch die ihre war und über die sie nie sprachen. Er war der letzte Faden, mit dem sie noch am Leben hing. Wenn er verschwand, dann würde sie zusammen mit dem herrenlosen Müll in den gleichgültigen Straßen verwehen. Er war der Grund, weshalb sie nicht aufgab, weshalb sie sich zusammen mit Holtby über die Broschüren der verschiedenen Universitäten beugte und Tag für Tag die Physiotherapeuten an ihrem Leib herummurksen ließ.

Aber heute genügte auch er nicht, um weiterzumachen. Sie hätte umkommen sollen, zusammen mit ihren Eltern. Dieses Leben war ein Aufschub. Die Monate der Rehabilitation, die Operationen, die Routine, der Anschein von Normalität, es war nichts mehr als Wassertreten. Es wurde Zeit, dass sie der Wahrheit ins Auge blickte.

Ihre Finger glitten über das Kontrollpanel auf der rechten Seite ihres Betts, und die Vorhänge schoben sich zur Seite. Die bleichen Gebeine des gigantischen Walskeletts, das die Hälfte des Zimmers füllte, schimmerten im Sonnenlicht. Wurde es nicht Zeit, dass sie es irgendeinem Museum schenkte? Es war eine Laune gewesen, und wie alle Launen hatte es seine Magie verloren, nachdem ihr stattgegeben worden war. Es stand im Weg und es irritierte Anika. Sie fuhr das Bett dorthin, bis sie wie ein fauler Jona im Bauch des Walfischs lag. Könnte er sie nur bis in die eiskalten Polarmeere mitnehmen, wo seltsame, fluoreszierende Wesen zur Seite hin wegschossen, während er bis zum Boden tauchte!

Es war ein Trost zu wissen, dass irgendwo auf der Welt derartige magische Wesen existierten, auch wenn sie sie nie mit eigenen Augen würde sehen können.

Nein, sie würde das Skelett noch eine Weile stehen lassen.

Sie fuhr weiter bis zu den Fenstern und blickte über die Stadt. Wenn man Großvater glauben konnte, dann war das da draußen ein Dschungel.

Sie sah kein Grün. Es war ein Wald aus Wolkenkratzern mit Hubschraubern wie exotischen Libellen und ganz unten im Schatten der Gebäude einem unablässigen Strom von Ameisen in sämtlichen Farben.

Babel war der Waldriese. Die anderen Bauten zitterten in seinem Schatten. Sie und ihr Bett befanden sich an der höchsten Stelle in dieser Stadt. Ihr Haar würde niemals den Fuß des Turmes berühren, und wenn sie es tausend Jahre hindurch wachsen ließ.

Falls überhaupt ein Prinz dort unten auf sie wartete – und mit einem, der sich mit einer gelähmten Prinzessin zufriedengab, wäre es wohl auch nicht weit her –, dann würde sie ihn nicht einmal sehen, denn aus dieser Höhe konnte man kaum eine Bewegung am Boden unterscheiden. Für die Bewohner des Turms war das ein Bonus. Sie brauchten den schlechten Atem und den Schweiß des Pöbels nicht zu riechen, die lahmenden Beine, die fingerlosen Hände, die Geschwüre und Beulen, die billige synthetische Kleidung, die Löcher in ihren Hosen und ihren Seelen nicht zu sehen. Die Apartments des Turms waren nicht deshalb begehrt, weil man näher bei den Göttern wohnte, sondern lediglich weiter weg von den anderen war, die das Unglück besaßen, nicht in Babel zu residieren.

Alice hätte mit jedem von ihnen tauschen mögen, sämtliche Beulen eingeschlossen. Die Eigentümer der Beine, die dort durch die Straßen gingen, machten sich nicht klar, wie glücklich sie waren.

Sie fuhr das Bett zurück zur Wand. Sie brauchte die Stadt nicht zu sehen. Der Glanz des Meeres in der Ferne genügte ihr. Von hier aus konnte man beobachten, dass der Horizont keine gerade Linie, sondern ein Bogen war. Die Erde war nicht flach, was immer die alten Bücher auch behaupteten. Kein Wunder, dass die religiösen Irren den Turm weghaben wollten. Er kratzte an ihrem Weltbild.

Ein Vogel schoss vor das Fenster. Ein Schatten, ein Bündel Federn, ein Auge, ein Schnabel; dann war er wieder weg. Sie sah ihn etwas weiter entfernt mühelos auf dem Wind gleiten. Die launischen Böen zwischen den Wolkenkratzern kümmerten ihn nicht. Er war eines der vielen wilden Tiere, die immer öfter in der Stadt auftauchten. Wohin sollten sie sonst, nachdem die Stadt die Natur verdrängt hatte? Hasen und Wildschweine suchten genau wie die anderen Wohnungslosen ihr Heil in den Straßen, Hirsche kauten an Müllsäcken, Füchse stritten sich mit zahnlosen Alkoholkranken um irgendwelche Hühnerknochenreste, Falken lebten von den verwilderten Tauben, Dachse gruben sich Burgen in Abwasserkanäle, und die Wölfe hatten schon bald gelernt, aufrecht zu gehen.

Der Vogel schwebte da immer noch. Sie wusste nicht, wie er das machte, aber plötzlich stand er still, eine Stecknadel in diesem blauen Himmel. Sie hielt den Atem an. Sie hätte ihn gern so festgehalten, reglos, die Nabe des Himmels. Solange er dort hing, stand die Zeit still.

Er blieb hängen, bis sie blinzeln musste und ein Zittern ihn durchfuhr. Er tauchte, riss einen Streif in den Himmel, und die Stadt kam in Bewegung. Autos schossen vorwärts, Lichter sprangen an, und irgendwo tief unten erklang der Schrei eines Hasen in Todesangst.

Da erst bemerkte sie das Mädchen, das in ihrem Zimmer stand. Es war unmöglich, dass eine Unbekannte bis in ihr Zimmer vordrang. Sie wurde besser bewacht als das Gold in der Nationalbank. Aber egal ob unmöglich oder nicht, da stand dennoch ein Mädchen, und außerdem auch noch in einem weißen BH, und starrte nach draußen, wo ihr die Stadt in all ihrer Herrlichkeit zu Füßen lag.

Das Mädchen hatte sie eindeutig noch nicht bemerkt, so fasziniert war sie von der Aussicht.

Alice griff nach dem Kontrollpanel, bereit, den Wachdienst zu alarmieren.

«Wie gefällt dir der Ausblick?», fragte sie.

Das Mädchen erschrak und drehte sich um.

«Kommst du, um mich umzubringen?»

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

«Schön. Damit wäre das schon mal abgehakt.»

Das Mädchen schien etwas älter als sie selbst zu sein. Ihr langer, schwarzer Zopf lag ihr wie eine Schlange im Nacken.

«Was hast du hier zu suchen?»

Es klang unfreundlicher, als sie es beabsichtigt hatte. Sie wusste, was das Mädchen hier tat. Der Schwamm in ihrer Hand verriet einiges. Die Grippeepidemie erklärte den Rest. Dieses Mädchen war die Vertretung der Putzhilfe. Darauf hätte sie auch sofort kommen können, aber in ihrer Überraschung hatte sie nicht nachgedacht. Sie hatte keine Ahnung, warum das Mädchen hier in ihrem BH herumlief, aber vielleicht konnte Hans ihr das erklären. Er hatte so seine eigenen Methoden, das weibliche Personal zu kontrollieren. Wahrscheinlich war sie, des Putzens überdrüssig, auf Erkundung ausgegangen. Welches Mädchen konnte einer geschlossenen Tür widerstehen? Aber schlau war es nicht. Prynne war recht unsanft zu Personal, das Eigeninitiativen entwickelte.

«Wolltest du einmal aus dem Fenster schauen?»

«Es tut mir leid», sagte das Mädchen. «Ich bin neu hier. Würden Sie bitte niemandem sagen, dass ich hier war, Frau …?»

Frau! Das war der Gipfel.

«Wie heißt du?»

«Naomi.»

Keine unnütze Anrede diesmal.

«Leg den Schwamm auf den Boden und hilf mir, mich hinzusetzen.»

Das Mädchen zog sie an den Armen nach vorn und schob ihr ein Kissen hinter den Rücken. Sie roch nach Lavendel.

«Wie gefällt dir die Aussicht?», fragte sie.

Genau in diesem Moment schoben sich dicke Wolken vor die Sonne. Ein goldener Balken spielte über der Stadt, ein Laser Gottes auf der Suche nach dem letzten Rechtschaffenen.

 

«Ich weiß es nicht», sagte das Mädchen.

«Du weißt es nicht?», fragte Alice. «Dann bist du die Erste. Hier ist noch nie jemand gewesen, der nicht sofort von der Aussicht angefangen hätte. Alle finden sie unbezahlbar. Diese Idioten. Natürlich ist sie bezahlbar. Woher sonst sollte Großvater sein Geld nehmen?» Sie redete zu viel, sie hörte es selbst. Das Mädchen starrte sie an.

«Was denkst du?»

«Es ist hoch», sagte das Mädchen.

«Nein, im Ernst? Du befindest dich an der Spitze der Welt, und alles, was dir dazu einfällt, ist, dass es hoch ist? Niemand auf der ganzen Welt befindet sich höher als wir. Ausgenommen natürlich die Passagiere in Flugzeugen.»

«Und Gott», sagte das Mädchen.

Da lag sie also und bekam ungebeten Gott ins Gesicht geschleudert. Sie wusste nicht, warum, aber diese Naomi irritierte sie. Sie gab sich nur wenig Mühe, sich zu entschuldigen, dass sie hier ungebeten stand, sie schämte sich nicht für die Tatsache, dass sie in ihrer Unterwäsche herumlief, sie war nicht beeindruckt von der Aussicht oder von der Situation und noch am wenigsten von dem armen, gelähmten Mädchen in dem Bett. War ihr denn nicht klar, dass Alice sie stehenden Fußes entlassen konnte? Sie brauchte nur mit den Fingern zu schnippen! Es wurde Zeit, dass jemand sie in ihre Schranken wies.

«Würdest du mir einen Gefallen tun, Naomi? Es juckt mich so am Fuß. Würdest du mich da kratzen?»

«Was?»

Sie zeigte auf die Stelle unter ihrer Bettdecke, wo sich ihre Füße befinden mussten.

«Mich juckt es am Fuß.»

Das Mädchen schaute sie an. Wenn Blicke töten könnten!

«Na los. Heb die Decke hoch.»

«Welcher Fuß ist es?»

«Kratz mich einfach an beiden.»

Naomi hob ihren linken Fuß hoch.

«Ist das gut so?»

«Fester», sagte Alice.

«Ist es so besser?»

«Fester!», rief Alice.

Sie betrachtete diesen störrischen Mund, diese Rehaugen, die vor Wut loderten. Ach, dieses Wesen hasste sie, das war klar. Wie schnell waren sie von zwei Mädchen in einem zu großen Zimmer zur Herrin und Dienerin hinabgesunken. Sie hat recht, wenn sie mich hasst, dachte Alice, und ich habe recht, wenn ich sie vor mir knien lasse. Sie hat ihren Gott, aber ich habe das Geld.

Dann ließ das Mädchen ihren Fuß fallen.

«Was ist?», fragte sie.

Naomi hatte Blut an den Händen. Sie hatte so fest gekratzt, dass sie die Haut der Fußsohle verletzt hatte. Das war nicht unnormal, ihre Haut dort war dünn wie Papier. Aber das konnte das Mädchen nicht wissen.

Sie drückte das Bettlaken gegen Alices Fußsohle, und das Blut färbte es sofort rot.

«Es hört nicht auf!»

Sie konnte Naomi beichten, dass sie ohnehin nichts davon spürte, dass sie es noch nicht einmal bemerken würde, wenn ihre Unterschenkel in Flammen stünden. Sie konnte Naomi beruhigen. Aber sie tat es nicht. Sie wusste selbst nicht, was in sie gefahren war.

«Leck es auf», sagte sie.

«Was?»

«Das Blut. Leck es auf!», sagte sie.

Nie im Leben würde sie erklären können, warum sie das verlangte. Warum wollte sie das Mädchen so demütigen? Was hatte die Kleine ihr angetan? Aber Naomi nahm ihren Fuß schon in beide Hände und ließ ohne Flehen oder sonstige Bemerkungen ihre Zunge über die Fußsohle gleiten.

Ein Schock durchfuhr Alice. Es war ein elektrischer Strom, der ihr Rückgrat entlangschoss und kribbelnd bis hinauf in ihre Fingerspitzen, bis in die Dunkelheit unter ihrem Schädel, wo sie für einen Moment kleine Sterne davonsausen sah. Naomi leckte ihr Blut – Blut, das rote Flecken auf ihren Lippen und ihrem Kinn zurückließ, und einen Moment lang dachte sie, was für Krankheiten bekomme ich von diesem Speichel, nein, das dachte sie nicht, das dachte sie erst später, jetzt versuchte sie nur, nicht laut aufzuschreien.

«Was ist denn das hier?»

Bert und Leonard standen im Zimmer. Alice hatte sie noch nie so groß und blond gesehen. Zwei Racheengel.

Naomi ließ ihren Fuß fallen. Die Männer starrten auf das Mädchen in ihrem BH, mit Blut auf den Lippen.

«Wo ist Frau Holtby?», fragte Bert.

«Die hat die Grippe», sagte Alice.

Sie versuchte, gleichgültig dreinzuschauen, aber dieser elektrische Strom wogte noch nach. Als wäre sie bis ins Tiefste ihres Körpers berührt worden. Als hätte Naomis Gott ihr mit Seinem Finger die Eingeweide durchwühlt.

«Ich habe gerade eine der Angestellten gebeten, mir aus dem Bett zu helfen, aber offenbar bluten meine Füße. Zum Glück seid ihr hier.»

Sie bedachte das Mädchen mit einem kurzen Kopfnicken.

«Das ist alles, Naomi. Du kannst gehen.»

Das Mädchen hob den Schwamm vom Boden auf und huschte davon.

Wer ist Abraham Babel?

Woher kam Abraham Babel? Die offizielle Biografie erwähnte eine wenig auffällige Jugend in einem der Stadtviertel, in dem hauptsächlich Beamte und kleine Selbstständige wohnten. Als einziger Sohn von Rebecca und Ezra Babel trug Abraham Babel sämtliche elterlichen Erwartungen auf seinen zarten Schultern. Er hatte sich angestrengt in der Schule, musste dann aber aufgrund einer schleppenden Krankheit, die ihn von seinem siebzehnten bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr ans Bett gefesselt hielt, auf weiteren Unterricht leider verzichten. Diese drei Jahre der erzwungenen Ruhe hatten seine Gier nach dem Leben verschärft, und als er endlich genesen war, beschloss er, keine weitere Zeit auf der Schule zu vergeuden. Er ging arbeiten, zunächst als Verkäufer in einem Geschäft, das hauptsächlich Radios und später die erste Generation von Fernsehgeräten verkaufte. Von seinem ersten Geld kaufte er sich nicht – wie die anderen jungen Männer seiner Umgebung – einen imposanten Buick, sondern Aktien einer großen Elektronikfirma. Nach dem plötzlichen Tod seiner Eltern beschloss er, das elterliche Haus zu vermieten, und landete so fast zufällig im Immobiliensektor, dem er später einen Großteil seines Vermögens zu verdanken haben sollte. Mit dreißig besaß er nicht nur drei Mietshäuser, sondern auch ein interessantes Aktienportefeuille. Nicht schlecht für jemanden, der mit so wenig angefangen hatte. Ein anderer Mann hätte ruhig den einmal eingeschlagenen Weg weiterverfolgt, aber Babel verkaufte seine Häuser und nahm einen großen Kredit auf, um damit ein paar verfallene Gebäude in Hafennähe aufzukaufen. Irgendwann einmal war von einer Hafenerweiterung die Rede gewesen, aber die meisten Spekulanten, die für zu viel Geld die alten Fabriken und bodenverseuchten Grundstücke in der Hoffnung aufgekauft hatten, sich an dem Projekt zu bereichern, waren nach zwanzig Jahren das Warten leid und verkauften ihr wertloses Eigentum nur zu gern an Babel. Er selbst, so ließ er verlauten, habe vor, dort ein Wohnviertel zu errichten. Alle wünschten ihm viel Erfolg. Niemand glaubte an die Zukunft eines Viertels, das mitten im kriminellen Herzen dieser Stadt lag, aber niemand fühlte sich verpflichtet, diese Zweifel mit dem naiven Babel zu teilen. Noch bevor die Vorbereitungen für das Wohnviertel starteten, beschloss ein neuer Bürgermeister, die alten, schon eingestaubten Pläne für die Hafenerweiterung wieder hervorzuholen. Kurzfristig würde das eine Stange Geld kosten, aber langfristig käme es der Stadt eindeutig zugute.

Die Spekulanten beeilten sich, ihre Vereinbarungen mit Babel aufzukündigen, aber die Verträge waren unterzeichnet, und nach all den Jahren fruchtlosen Wartens mussten sie zusehen, wie ein anderer ihre Gewinne einstrich. Sie setzten Himmel und Hölle in Bewegung, aber zu spät. Mit einem Schlag war Babel nicht mehr der armselige Besitzer einiger Häuser in den Außenvierteln, sondern ein wichtiger Player auf dem Immobilienmarkt. Wie Babel es einmal in einem Interview beschrieb: Er fühlte sich für sein soziales Engagement belohnt. Aus dem Wohnviertel würde zwar nichts mehr werden, aber es gebe andere Orte und andere Projekte, an denen er seine Menschenliebe ausleben könne. Die Tatsache, dass er mit einem Schlag zum Millionär geworden sei, habe nichts mit pfiffigen Entscheidungen oder Glück zu tun, nein, der Finger Gottes habe ihm gezeigt, welche Richtung er mit seinem Leben einschlagen sollte, und er, Babel, werde die Talente, die er besaß, nicht einfach begraben.

So weit die offiziellen Biografien. Die übrigens reißenden Absatz fanden. Wer wollte schließlich nicht von einem Burschen lesen, der durch harte Arbeit und kluge Investitionen zu einem der großen Akteure dieser Stadt aufgestiegen war? Babel war der fleischgewordene kapitalistische Traum. Und die Verlockung des Traums war simpel: Wenn er es fertiggebracht hatte, dann konnten sie es auch. Dass er sein Glück in religiöse Begrifflichkeiten übersetzte, damit konnten sie leben. Auch sie hielten ja irgendwo einen Gott in der Hinterhand.

Manche Journalisten hatten ihre Mühe mit dieser geradezu filmischen Biografie und machten sich daran, in der Vergangenheit des erfolgreichen Mannes zu graben. Sie fanden keine soliden Eltern in einem der ärmeren Viertel dieser Stadt, sondern das Grab einer gewissen Rebecca Babel, einer Waschfrau und unverheirateten Mutter eines Sohnes, den sie noch vor ihrer Flucht aus Polen auf den Namen Abraham hatte taufen lassen. Schulzeugnisse des guten Schülers Abraham Babel blieben unauffindbar; stattdessen stieß man auf das Strafregister eines Gleichnamigen, der von seinem siebzehnten bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr wegen Hehlerei im Gefängnis gesessen hatte.

Es war verführerisch, in diesem kriminellen Abraham den erfolgreichen Immobilienhändler auszumachen, aber letztendlich gab es zu wenig harte Beweise, die eine unumstößliche Identifizierung ermöglicht hätten. Klarer wurde die Rolle des neuen Bürgermeisters bei der Hafenerweiterung. Nach jahrelangen Untersuchungen stellte sich heraus, dass er einer von Babels Geldgebern gewesen war, als dieser die wertlosen Häuser aufgekauft hatte. Aber zu diesem Zeitpunkt war es schon zu spät und Babel bereits zu mächtig.

Das soziale Engagement, das er angekündigt hatte, nahm recht eigenwillige Formen an. Er kaufte tatsächlich Straßenzüge in fast nicht mehr bewohnbaren Vierteln auf, in die sich weder das Gesetz noch vornehme Bürger hineinwagten, aber anstelle von besseren Häusern kamen Bulldozer, Industrieparks, Überwachungskameras und Zwangsräumungen. Der kapitalistische Traum war eindeutig nicht jedem beschieden. Mit dreißig Jahren heiratete er Anna Glück, die Tochter eines Industriellen, der genau wie Babel ein Selfmademan war. Es wurde eine Märchenhochzeit, komplett mitsamt der bösen Fee in Form der Schwester der Braut. Myriam Glück, so wurde geflüstert, war offenbar Babels erste Wahl gewesen. Bis er dahinterkam, dass sie keine Kinder bekommen konnte. Woraufhin er sein amouröses Augenmerk mühelos auf die jüngere Schwester verlagert hatte.

Es war eine Entscheidung gewesen, die Früchte abwarf. Ein Jahr später wurde Joseph Babel geboren. Dieses ganze finanzielle und häusliche Glück hatte seine Auswirkungen auf Abraham Babel. Der Herr hatte ihm so viel geschenkt. Wie konnte er seine Zukunft absichern? Wie konnte er den Herrn so weit bringen, dass Dieser ihm das Glück nicht wieder nahm?

Er beschloss, den Herrn mit Opfern zufriedenzustellen. Es hatte bei Abel funktioniert, warum also nicht auch bei Babel? Großzügige Schenkungen aller Art fanden ihren Weg in religiöse sowie wohltätige Einrichtungen. Gute Aussichten für Abraham Babel also nicht nur in diesem, sondern auch für das nächste Leben.

Fast mühelos wurde er reicher und mächtiger.

Zum ersten Missklang in dem schönen Lied kam es, als der Sohnemann einen eigenen Willen an den Tag legte und nicht in die Fußspuren seines Vaters treten wollte. Der junge Bursche interessierte sich für die Wissenschaft. Was an und für sich nicht schlimm war, solange er dabei den wichtigsten Daseinsgrund, nämlich die Anhäufung von Geld, nicht aus dem Auge verlor. Joseph Babel sprach jedoch vom Promovieren. Von Ausgrabungen. Von einer wissenschaftlichen Laufbahn.

Abraham Babel ergriff sofort Maßnahmen und drehte ihm den Geldhahn zu. Dem Jungen musste klarwerden, dass die Zeit des Spiels vorbei war. Entweder er fügte sich den Wünschen seines Vaters, oder er würde keinen Cent des von Babel angehäuften immensen Vermögens mehr zu Gesicht bekommen.

Das Unglaubliche geschah. Joseph Babel – oder Joe, wie er sich selbst mittlerweile nannte – brauchte kein Vermögen. Ebenso wenig brauchte er die Bräute, die seine Mutter für ihn aussuchte. Er hatte eine Frau kennengelernt, die seine Leidenschaft für Archäologie teilte und sich ebenso wenig wie er vom Geld blenden ließ.

 

Abraham Babel regte sich nicht weiter auf. Niemand verschmäht ein Leben voll ungeahntem Luxus, um irgendwo im staubigen Afrika alte Gebeine auszugraben. Er gab seinem Sohn sechs Monate Zeit, um nachzudenken und das Rebellische abzulegen. Derweil war Joe mit seiner frisch gebackenen Braut nach Afrika gezogen, wo er fünfzehn Jahre lang bleiben sollte.

In all den Jahren hatte es keinen Kontakt zwischen Vater und Sohn gegeben. Sofern es Kontakte zwischen Mutter und Sohn gab, geschah dies ohne Abrahams Mitwissen. Joe Babel bekam eine Tochter, aber auch diese freudige Nachricht vermochte die Mauer des Schweigens zwischen beiden Männern nicht einzureißen.

Es war der Herzattacke des Vaters zu verdanken, dass sie sich am Krankenbett einer Abteilung wiedertrafen, die Abraham Babel dem Krankenhaus als Schenkung vermacht hatte.

Der Anblick des Todes tut wundersame Dinge mit einem Mann. Morphium tut noch wundersamere Dinge. Babel verstand gar nicht mehr, warum er diesem fremden, sonnengebräunten Mann, der jetzt mit Tränen in den Augen an seinem Bett stand, so lange böse gewesen war. Er hatte die Hand seines Sohnes schon ergriffen und eine Art von Vergebung gemurmelt, bevor ihm wieder einfiel, dass er keinen Ungehorsam duldete. Aber da war es schon zu spät gewesen. Da hatte seine Frau sich ihrem verlorenen Sohn bereits um den Hals geschlungen. Danach hatten sie alle seine Frau kennengelernt, und fataler als alles Vorangegangene: Dann hatten sie die Perle gesehen, die am Fußende des Bettes stand und alles mit großen Augen in sich aufnahm, ihr ureigenes Enkelkind, die mysteriöse Alice, zu intelligent für ihr Alter, zu fremdartig für ihre Herkunft mit ihren blonden Haaren und blauen Augen und einem Mund wie einer Wüstenrose. Abraham und seine Frau verliebten sich auf der Stelle in sie. Von Abtretung und Abschied konnte keine Rede mehr sein. Nach all den Jahren würden sie ihrem Sohn endlich das geben, was ihm zustand. Ach, natürlich konnte er wieder nach Afrika, wenn er das wirklich wollte. Aber war er es seiner Frau und Tochter nicht schuldig, ihnen das Allerbeste zu geben? Joseph und seine Familie konnten im Babel Tower wohnen. Sie bekamen ein ganzes Stockwerk für sich allein. Sie würden doch noch etwas bleiben? Konnte der Sohn dem Vater, der gerade dem Tod ins Auge geblickt hatte, diesen Wunsch versagen? Doch gewiss nicht.

Die jungen Babels ließen sich überreden.

An dem Tag, als Abraham Babel aus dem Krankenhaus entlassen wurde, saßen sie alle zusammen in der riesigen Limousine, die sie zum Babel Tower, jenem Wunder des einundzwanzigsten Jahrhunderts, bringen würde. Endlich, dachte Babel, während er sich an sein schmerzendes Herz fasste, waren sie wieder komplett. War er wieder komplett. Er konnte einfach nicht genug bekommen von den lachenden Gesichtern, den glänzenden Augen seiner Nachkommen. Er trank die Männlichkeit seines Sohnes und die Schönheit seiner Enkelin. Er saugte ihr Leben in sich auf. Sie waren im idealen Augenblick gekommen. Seine Kräfte waren beinahe versiegt, aber sie gaben ihm neue Vitalität. Für seinen Sohn, für Alice würde er den Himmel erobern. Er hatte noch so viele Pläne.

Sie waren keine drei Straßen mehr vom Turm entfernt – die Limousine brummte ungeduldig im Stau –, als die junge Frau auf sie zukam und Joe trotz des Protests seines Vaters das Fenster herunterließ.

Anna sah die Bombe an ihrem Körper als Erste und schrie.

Babel warf sich über Alice.

Joe verstand noch immer nicht, was Sache war, als die Explosion die Limousine in Stücke zerriss. Kurz darauf fielen die Körperteile aus dem Himmel.

Joe war tot. Seine Frau war tot. Anna war tot. Alice blieb gelähmt, nachdem sie aus dem Auto geschleudert worden und mit einem Knall auf dem Beton gelandet war. Und Babel, der Mann, der schon sein ganzes Leben lang den Finger Gottes auf sich hatte lasten fühlen, kam mit einigen blauen Flecken und einem zweiten Herzanfall davon.

Seine Strafe war es, das Attentat überleben und begreifen zu müssen, was er verloren hatte.

Er zog sich zurück in seinen Turm, legte sich eine kleine Privatarmee zu und verließ kaum mehr seine gesicherte Festung. Der Einsiedler des Turms von Babel war geboren.

Aus: Babel, ein Traum von Macht, Thomas Rosen & Aziz al-Kashani